Schlussbericht der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein

: Fragen zu Liechtenstein in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg. Flüchtlinge, Vermögenswerte, Kunst, Rüstungsproduktion. Schlussbericht der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg. Vaduz 2005 : Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, ISBN 3-0340-0806-6 302 S. € 25,80

: Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. . Vaduz 2005 : Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, ISBN 3-0340-0801-5 310 S. € 24,80

: Liechtensteinische Industriebetriebe und die Frage nach der Produktion für den deutschen Kriegsbedarf 1939-1945. . Vaduz 2005 : Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, ISBN 3-0340-0802-3 152 S. € 21,80

: Finanzbeziehungen Liechtensteins zur Zeit des Nationalsozialismus. . Vaduz 2005 : Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, ISBN 3-0340-0803-1 819 S. € 52,00

: Liechtenstein und der internationale Kunstmarkt 1933-1945. Sammlungen und ihre Provenienzen im Spannungsfeld von Flucht, Raub und Restitution. Vaduz 2005 : Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, ISBN 3-906393-37-2 296 S. € 24,80

: Untersuchung zu nachrichtenlosen Vermögenswerten bei liechtensteinischen Banken in der NS-Zeit. Versicherungen in Liechtenstein zur Zeit des Nationalsozialismus. . Vaduz 2005 : Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, ISBN 3-0340-0805-8 142 S. € 21,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Maria Merki, Bern

Die liechtensteinische Geschichte hängt eng mit der schweizerischen Geschichte zusammen. Dies gilt auch für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Deshalb beginnt diese Sammelrezension über sechs liechtensteinische Zeitgeschichtsstudien sinnvollerweise mit der schweizerischen Weltkriegsdebatte: In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre geriet die Schweiz unter internationalen Druck, weil sie ihre zweifelhafte Rolle im Zweiten Weltkrieg nicht kritisch aufarbeiten wollte. Zur Diskussion standen die Goldtransaktionen der Schweizerischen Nationalbank mit Hitlerdeutschland sowie die so genannten nachrichtenlosen Vermögen – Konten auf Schweizer Banken, die den Verfolgten des Naziregimes gehört hatten. Die Schweizer Banken stellten sich auf einen legalistischen Standpunkt: Die Sache sei mit dem Washingtoner Abkommen von 1946, welches die Freigabe deutscher Vermögenswerte in der Schweiz geregelt hatte, erledigt. Sie stießen mit dieser Haltung auf viel Unverständnis und ließen es an Kulanz, Feingefühl und Entgegenkommen fehlen. 1998 mussten die Schweizer Banken schließlich in einen Vergleich mit US-amerikanischen Sammelklägern und jüdischen Organisationen einwilligen und 1,25 Milliarden Dollar für die Entschädigung der Erben von Holocaustopfern bereitstellen. Ende 1996 setzte die Schweizer Regierung zudem eine „Unabhängige Expertenkommission“ ein, die nach ihrem Vorsitzenden bald Bergier-Kommission genannt wurde. Diese leuchtete die dunklen Flecken der Vergangenheit aus und publizierte in den darauf folgenden Jahren 25 Studien zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg.1

Im Jahr 2000 wurde auch das Fürstentum Liechtenstein angeklagt, den Nazis „geholfen“ zu haben.2 Klug geworden durch die Erfahrungen seines Nachbarlandes Schweiz, mit dem es seit dem Ersten Weltkrieg in einer Wirtschafts- und Zollunion verbunden war, reagierte das Fürstentum geschickter. Es lud die Vertreter jüdischer Organisationen nach Vaduz ein, gründete einen Verein der „Liechtensteiner Freunde des Yad Vashem“ (bei dem der Fürst das Ehrenpatronat übernahm) und es setzte nach schweizerischem Muster eine „Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg“ (UHK) ein. Die UHK sollte drei Fragen klären: Gelangten während der Nazizeit Raubgüter oder Vermögenswerte von Nazigrößen nach Liechtenstein? Wie verhielt sich das Land gegenüber den Flüchtlingen? Arbeitete die einheimische Industrie für den deutschen Krieg? Der Kommission gehörten ein Liechtensteiner, ein Schweizer, eine Österreicherin und zwei Israeli an. Präsidiert wurde sie von Peter Geiger, einem in Liechtenstein aufgewachsenen Schweizer, der an einer Geschichte Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg arbeitete und der sich schon mit einem dickleibigen Standardwerk über das Liechtenstein der Zwischenkriegszeit hervorgetan hatte.3 Für ihre Untersuchungen erhielt die UHK zwei Millionen Franken, später dann nochmals 1,5 Millionen Franken. Im April 2005 stellte die Kommission die Ergebnisse ihrer Recherchen der Öffentlichkeit vor, im Herbst 2005 publizierte sie ihren Schlussbericht sowie die sechs Einzelstudien, die sie in Auftrag gegeben hatte.

Die wenig spektakulären Resultate erregten kaum Aufsehen und wurden – wenn überhaupt – lediglich im Lande selbst zur Kenntnis genommen. Dies ist insofern bedauerlich, als die Geschichte Liechtensteins durchaus Aspekte aufweist, die sie auch für ein internationales, namentlich für ein deutschsprachiges Publikum interessant machen sollten, sei es durch die außenpolitische Einbettung des kleinen Landes (das heute sowohl dem Europäischen Wirtschaftsraum EWR angehört als auch den Schweizer Franken als Währung besitzt), sei es durch den Finanzplatz (der speziell in Deutschland mit Steuerfluchtgeldern assoziiert wird), sei es durch die politische und wirtschaftliche Bedeutung, die das ursprünglich „österreichische“ Fürstenhaus seit Jahrhunderten inne hat.

Das Fürstentum Liechtenstein überstand den Zweiten Weltkrieg an der Seite der neutralen Schweiz unbeschadet. Dabei erwies sich seine mangelnde Größe als Vorteil: Es war mit seinen damals 12.000 Einwohnern schlicht zu klein, um ein Eroberungsziel abgeben oder den Nazis in großem Stile „helfen“ zu können. Immerhin besaß es seit 1941 drei mittelgroße Unternehmen, die vorwiegend oder ausschließlich für den deutschen Kriegsbedarf produzierten, darunter die Keimzelle der späteren Hilti AG, eines heute global tätigen Konzerns mit 16.000 Mitarbeitern. Veronika Marxer und Christian Ruch beschreiben in der UHK-Studie 2 die Frühgeschichte dieser drei noch heute bestehenden Unternehmen. Die UHK-Studie 4 befasst sich mit dem liechtensteinischen Kunstmarkt und der Frage, ob er geraubte Objekte vermittelte oder ins Land brachte. Die Autorin, Esther Tisa Francini, verneint diese Frage, auch wenn sie die Provenienz der fraglichen Kunstgegenstände nicht in allen Fällen klären konnte. Die Revisionsfirma Ernst & Young AG suchte nach nachrichtenlosen Konten, fand jedoch bei den schon damals bestehenden zwei liechtensteinischen Banken keine (UHK-Studie 5). Zum selben Negativresultat gelangte auch Stefan Karlen, der in der UHK-Studie 6 unter anderem der Frage nachging, ob Versicherungspolicen Verfolgter dem NS-Regime ausgehändigt wurden.

Wichtiger ist wohl die UHK-Studie 1. Sie bietet zum ersten Mal einen umfassenden Überblick über die innen- und außenpolitischen Determinanten der liechtensteinischen Flüchtlingspolitik jener Jahre, sei es über den im Lande vorhandenen Antisemitismus, sei es über die politischen Pressionen Deutschlands und der Schweiz. Insgesamt fanden zwischen 1933 und 1944 etwa 400 Flüchtlinge in Liechtenstein Zuflucht. Wie viele Flüchtlinge von den in Liechtenstein stationierten Schweizer Grenzwächtern zurückgewiesen wurden, war nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Ursina Jud behandelt in ihrer Studie auch die Einbürgerungen, unterschätzt allerdings deren fiskalische Seite. Die Einbürgerungsgebühren, die nur sehr reiche Ausländer überhaupt bezahlen konnten, waren für das Land eine wichtige Einnahmenquelle.

Diese „Finanzeinbürgerungen“ kommen auch in der UHK-Studie 3 über die liechtensteinischen Finanzbeziehungen der 1930er- und 1940er-Jahre zur Sprache. Die Anwälte und Treuhänder, welche die Einbürgerungswilligen betreuten, waren nämlich die gleichen, die auch die ersten Sitzgesellschaften (vulgo: Briefkastenfirmen) nach Liechtenstein holten. Diese Unternehmen hatten in Liechtenstein lediglich ihren Sitz. Ihr eigentlicher Zweck bestand darin, das Vermögen des ausländischen Eigners zu sichern und steuergünstig anzulegen. Heute gibt es rund 80.000 solcher Unternehmen. In den Jahren 1930 bis 1945 waren es deren tausend. Hanspeter Lussy und Rodrigo López, die beiden Autoren der Studie, können überzeugend darlegen, dass diese Sitzunternehmen nur in wenigen Fällen als Hort von NS-Raubgut missbraucht wurden. Man kann also nicht behaupten, dass Liechtenstein in der NS-Zeit systematisch von „Arisierungen“ profitiert oder sich dem NS-Regime als Lieferant von Liquidität, für die Abwicklung von kriegswichtigen Geschäften oder als Hort für dessen Kapitalflucht angedient habe. Trotz dieses ebenfalls „negativen“ Resultats ist die dritte Studie die mit Abstand spannendste. Lussy und López behandeln nämlich nicht nur die (wenigen) Verstrickungen der liechtensteinischen Treuhänder mit der NS-Wirtschaft, sie entwerfen darüber hinaus ein gelungenes Gesamtgemälde des frühen Finanzplatzes. Vorgestellt werden seine Akteure, so die ersten Banken und Treuhandbüros, von denen die meisten noch heute im Geschäft sind, ferner die Vermittler, welche die Kunden nach Liechtenstein brachten, aber auch die ausländischen Unternehmen und Familien, die sich im Fürstentum eine Holdinggesellschaft oder ein Sitzunternehmen einrichten ließen. Die beiden Autoren können dabei – oft zum ersten Mal überhaupt – Beziehungsnetze offen legen und konkrete Zahlen nennen, zum Beispiel über den Umfang des jeweils investierten Kapitals. Bei ihren Recherchen konnten sie in einmaliger Art und Weise vom Archivprivileg der UHK profitieren und auch private Dokumentationen auswerten, die gewöhnlichen Historikern/innen wegen des Bankgeheimnisses verschlossen bleiben. Insofern besitzen ihre Ausführungen einen besonderen Wert. Was die Faktoren angeht, die das Fürstentum in der Zwischenkriegszeit zu einem begehrten Treuhandstandort für internationale Kapitalien werden ließen, kommen sie allerdings zu den gleichen Schlüssen, die auch schon anderswo gezogen worden sind.4 So erwähnen sie „die Neutralität, der mit der Währungs- und Zollunion übernommene harte Schweizer Franken, die Nähe zum Finanzplatz Schweiz, eine relativ stabile politische Lage, die leichte Erreichbarkeit im Zentrum Europas, äußerste Diskretion, vor allem aber eine kapitalfreundliche Steuerpolitik, bei der Vermögenserträge nicht besteuert wurden“.5

Wem die sechs Einzelstudien zu detailliert und zu ausführlich sind, dem sei der ausgezeichnet redigierte UHK-Schlussbericht empfohlen. Er enthält alle wichtigen Resultate und wird bald auch auf Englisch erscheinen.

Anmerkungen:
1 Dazu nun: Maissen, Thomas, Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte 1989-2004, Zürich 2005, siehe: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-141>. Für eine Sammelrezension der Berichte der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg siehe: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-071>.
2 Vgl. Der Spiegel vom 24. Juli 2000 (Interview mit Elan Steinberg, dem Generalsekretär des World Jewish Congress, unter dem Titel: Raubgut – „Liechtenstein half den Nazis“).
3 Geiger, Peter, Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreißigerjahren, 1928-1939, Vaduz 2000.
4 Merki, Christoph Maria, Der Finanzplatz Liechtenstein. Zürichs attraktive Außenstelle, in: Ders. (Hg.), Europas Finanzzentren. Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005, S. 167-195.
5 Lussy, López, S. 108.

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