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Titel
Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte 1989-2002


Autor(en)
Maissen, Thomas
Anzahl Seiten
729 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Damir Skenderovic, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Lange hat sich die Vorstellung gehalten, die Schweiz sei wegen militärischer Wehrbereitschaft, dem Widerstandswillen der Bevölkerung und außenpolitischer Neutralität von einer Besetzung durch Hitler-Deutschland verschont geblieben. Seit den 1980er-Jahren hatten zwar einige Historiker und Medienschaffende darauf hingewiesen, dass negative Aspekte wie die Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen zum Dritten Reich und die antisemitische Flüchtlingspolitik zur Schweizer Weltkriegsgeschichte gehören.1 Doch die offizielle Erinnerungskultur blieb im traditionellen Bild von der nationalen Selbstbehauptung und vom „Sonderfall Schweiz“ verhaftet und verpasste es, Erkenntnisse der neueren historischen Forschung ins kollektive Bewusstsein zu rücken. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre kam es dann zu einer zum Teil heftig geführten Debatte über das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die ursprünglich durch die Kontroverse um nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Banken und Goldtransaktionen zwischen der Schweizerischen Nationalbank und dem Dritten Reich ausgelöst worden war und in der internationalen Öffentlichkeit große Beachtung fand. Ingesamt reihte sich die Schweizer Debatte in die Kontroversen um Erinnerungskultur, kollektives Gedächtnis und Geschichtspolitik ein, wie sie in den 1980er und vor allem 1990er-Jahren in den meisten west- und osteuropäischen Ländern stattfanden.2

Mit dem Buch „Verweigerte Erinnerung“ hat nun der Schweizer Historiker und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg, Thomas Maissen, eine umfangreiche und äußerst detaillierte Studie zu verschiedenen Akteuren und Bereichen der schweizerischen Debatte über die „Schatten des Zweiten Weltkriegs“ von 1989 bis 2004 vorgelegt.3 Für seine Studie stützt sich Maissen, der für die Neue Zürcher Zeitung über die Debatte berichtet hatte, neben Presseartikeln und Sekundärliteratur auf zahlreiche Interviews mit Akteuren und Zeitzeugen. Sein breites Sach- und Insiderwissen schlägt sich entsprechend in einer detailgetreuen Darstellung der Ereignisse nieder. Der Schwerpunkt des Buches liegt einerseits auf juristischen, finanzwirtschaftlichen und politisch-diplomatischen Aspekten, wobei insbesondere die Positionen der in die Auseinandersetzung um nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Banken involvierten Akteure beleuchtet werden. Andererseits zeigt Maissen auch die Rückkoppelung der zunächst eher außenpolitisch und -wirtschaftlich geführten Auseinandersetzung an Diskussionen um schweizerische Geschichtsbilder und -interpretationen.

Nach einem knappen theoretischen Einleitungskapitel, das die Bedeutung von Konflikten und Krisen für kollektive Lernprozesse moderner Gesellschaften hervorhebt und aus systemtheoretischer Perspektive Moral und damit verbundene Wertvorstellungen zu übergeordneten, der Rationalität von gesellschaftlichen Subsystemen oft nicht gehorchenden Kriterien erklärt, skizziert Maissen die Vorgeschichte der schweizerischen Kontroverse. Hier beschreibt er anschaulich die Versäumnisse und Fehler während der Nachkriegszeit im Umgang mit nachrichtenlosen Vermögen, vor allem von Seiten der Schweizer Banken: „Sehr bewusst unterliessen sie nicht nur jede eigene Initiative, sondern sabotierten zielstrebig so lange, wie es möglich war, auch eine entsprechende (Sonder-)Gesetzgebung, die allein der aussergewöhnlichen Situation nach der Shoah hätte angemessen sein können.“ (S. 55)

Wie Maissen im dritten Kapitel zu den internationalen und nationalen Rahmenbedingungen darlegt, ist der Konflikt um die nachrichtenlosen Vermögen nicht ohne die fortschreitende Globalisierung von Finanzwirtschaft, nicht-staatlichen Akteuren, Rechtsnormen und Erinnerungskultur zu verstehen. Während Schweizer Banken und multinationale Unternehmen sowie jüdische Organisationen als „global players“ agierten, setzten die USA mit ihrem Rechtsverständnis und -system nicht nur juristische Grundlagen, sondern auch moralische Referenzsysteme basierend auf dem Prinzip universaler Menschenrechte. Zudem fand in den 1990er-Jahren eine erinnerungskulturelle Universalisierung der Shoah zum Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts statt. Dies führte unter anderem dazu, dass nach 1989 in ganz Europa die Bemühungen um Restitution und Reparation für jüdische NS-Opfer zunahmen, wobei die Entschädigungen „für das jüdische Volk eine stark symbolische, integrative Funktion“ (S. 82) hatten, wie Maissen in einem Unterkapitel mit dem etwas unglücklich gewählten Titel „Problematische jüdische Identität“ schreibt. Gemäß Maissen sollte für jüdische Organisationen wie die Jewish Agency und den World Jewish Congress das „gemeinsame Gedenken an die Opfer der Shoah […] als Klammer für alle Juden wirken“ (S. 82), was auch ihrem Credo nach „Wiederbelebung der verbindenden Identität und Solidarität“ (S. 87) entsprach. Dem Werk von Peter Novick und kritischer jenem von Norman Finkelstein folgend 4, betont Maissen weiter, in den 1990er-Jahren seien insbesondere in den USA die Anstrengungen intensiviert worden, das Thema Holocaust verstärkt ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Dies habe nach Ansicht von Maissen „auch damit zu tun, dass in den Berufen, die sich damit beschäftigten, die überdurchschnittlich gebildeten und persönlich stark betroffenen Juden überproportional vertreten waren“ (S. 91). Zuweilen fragt man sich allerdings, ob Maissens Hinweise auf die jüdische Identität einzelner Akteure – insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Konflikt um die nachrichtenlose Konten in der Schweiz – etwas über die Motivation der Handelnden aussagen können.

Maissen weist ferner auf Veränderungen der schweizerischen Rahmenbedingungen hin, wie zum Beispiel den Strukturwandel und die Globalisierung des Finanzplatzes Schweiz und die enorme Gewinnsteigerung der Schweizer Grossbanken von fünf Milliarden (1990) auf 14 Milliarden Franken (1999). Hinzu kam die in den 1990er-Jahren zunehmende Infragestellung der traditionellen schweizerischen Historiografie zum Zweiten Weltkrieg, die das Land als „hehre nationalistische Idylle einer im Inneren solidarischen, hoch militarisierten und aussenpolitisch neutralen Schweiz in einem belagerten Réduit“ (S. 104) darstellte. Wie Maissen zeigt, regte sich jedoch auch Widerstand gegen eine Revision des helvetischen Geschichtsbildes, getragen namentlich von der so genannten Aktivdienstgeneration, deren Vertreter zu den Funktionseliten der Nachkriegsschweiz gehörten und kein Interesse daran hatten, dass ihre lange Zeit honorierten Verdienste in Zweifel gezogen werden. Unterstützt wurden sie in ihrem geschichtspolitischen Feldzug von der in der Regierungskoalition vertretenen Schweizerischen Volkspartei (SVP), die sich in den 1990er-Jahren in eine rechtspopulistische Partei gewandelt hatte und mit ihrer isolationistischen und exklusionistischen Agenda spektakuläre Wahlerfolge zu verbuchen vermochte.

Den Hauptteil des Buches bildet das vierte Kapitel, das auf 450 Seiten den Konflikt um die nachrichtenlosen Vermögen akribisch nachzeichnet. Die Auseinandersetzung hatte nicht nur zur Globallösung von 1998 zwischen den Schweizer Banken und jüdischen Organisationen geführt, in der sich die Banken zur Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar verpflichteten, sondern war auch von einer geschichtspolitischen Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg begleitet. Wie Maissen zeigt, waren die Reaktionen auf die Forderungen von Seiten jüdischer Organisationen nicht frei von antisemitischen Stereotypen, zum Beispiel wenn hohe politische Amtsträger Anspielungen auf eine jüdische Verschwörung gegen die Schweiz machten.5 Andererseits setzten die Schweizer Behörden in einer frühen Phase des Konfliktes mit der Ernennung der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ (UEK) Ende 1996 ein viel beachtetes Signal. Während Maissens Ausführungen zur Arbeit der UEK Aufschluss über die oft schwierige Zusammenarbeit in einem wissenschaftlichen Großprojekt geben, gehören persönliche Urteile sowie Hinweise auf zwischenmenschliche Querelen eher in den Bereich des Tagesjournalismus. Tatsache ist, dass die UEK mit der immensen Fülle an Studien (insgesamt 25 Monografien) einen bemerkenswerten Beitrag zur Forschung über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg geleistet hat 6 und zum Vorbild für andere Historikerkommissionen in Europa wurde. Dennoch hielten sich die politischen Behörden mit Eingeständnissen und Worten der Anerkennung zurück, und „[d]er Bundesrat verweigerte sich einer revidierten Erinnerung, um den fiskalischen und mentalen Bundeshaushalt nicht zusätzlich zu belasten“ (S. 649). Gerade im Fehlverhalten zu erinnerungs- und geschichtspolitischen Fragen sieht Maissen den Hauptgrund für die Eskalation der anfänglich als unbedeutend eingeschätzten Kontroverse um nachrichtenlose Konten. Ingesamt kommt er zum ernüchternden Schluss, dass die Schweiz die Chance verpasst habe, „die Entschuldigung für eine Statistenrolle beim Völkermord“ (S. 660) auszusprechen.

Ein großes Verdienst Maissens Studie ist die globale Perspektive und somit die Aufgabe jener nationalen Nabelschau, welche lange Zeit die Perzeption der schweizerischen Historiografie, vor allem aber der Behörden, Politiker und Medien prägte. Doch hier liegt auch eine Schwäche des Buches. Es beschäftigt sich nur am Rande mit den Aktivitäten und Argumentationen jener Akteure, die eine Einflussnahme auf Geschichtsinterpretationen und Erinnerungskultur als Teil ihrer kulturell-intellektuellen Strategie verstehen und in den 1990er-Jahren in Form von Zirkeln und Publikationen der Neuen Rechten sowie rechtspopulistischen Gruppierungen in der Schweiz wie in anderen europäischen Ländern einen Aufschwung erlebten. So haben zum Beispiel für die Bundesrepublik verschiedene Studien seit dem „Historikerstreit“ darauf hingewiesen, dass die Neue Rechte ein besonderes Interesse an geschichtspolitischen Diskussionen und an der historischen Erinnerung bekundet.7 Dies zu berücksichtigen ist umso wichtiger, als, wie bereits Maurice Halbwachs bemerkt hatte, individuelles und kollektives Erinnerns gesellschaftlich bedingt ist und das Reden über ein kollektives Gedächtnis schliesslich auch ein politisches Gedächtnis produziert.8

Anmerkungen:
1 Zu diesen Arbeiten siehe den Überblick in: Kreis, Georg, Zurück in den Zweiten Weltkrieg. Zur schweizerischen Zeitgeschichte der 80er Jahre, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 1 (2002), S. 60-68; Ders., Zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges (Teil II). Zur Bedeutung der 1990er Jahre für den Ausbau der schweizerischen Zeitgeschichte, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 4 (2002), S. 494-517.
2 Siehe u.a. Levy, Daniel; Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001; Barkan, Elazar, Völker klagen an. Eine neue internationale Moral, Düsseldorf 2002.
3 Die Neue Zürcher Zeitung übertitelte ihre Berichterstattung zur Debatte mit „Schatten des Zweiten Weltkriegs“.
4 Finkelstein, Norman G., Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird, München 2001; Novick, Peter, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart 2001.
5 Siehe auch Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, Antisemitismus in der Schweiz. Ein Bericht zu historischen und aktuellen Erscheinungsformen mit Empfehlungen für Gegenmassnahmen, Bern 1998.
6 Für den Schlussbericht siehe Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002. Für ein Verzeichnis der Publikationen der UEK siehe www.uek.ch.
7 Siehe z.B. Klotz, Johannes; Schneider, Ulrich (Hgg.), Die selbstbewusste Nation und ihr Geschichtsbild. Geschichtslegenden der Neuen Rechten, Köln 1997.
8 Siehe Halbwachs, Maurice, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985; siehe auch Echterhoff, Gerald; Saar, Martin (Hgg.), Kontext und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002.

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