O. Gabriel u.a. (Hgg.): Wächst zusammen, was zusammen gehört?

Cover
Titel
Wächst zusammen, was zusammen gehört?. Stabilität und Wandel politischer Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland


Herausgeber
Gabriel, Oscar W.; Falter, Jürgen W.; Rattinger, Hans
Erschienen
Baden-Baden 2005: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiner Meulemann, Institut für Angewandte Sozialforschung, Universität zu Köln

Dass nun zusammenwächst, was zusammengehört, war die beruhigende Versicherung Willy Brandts nach der deutschen Wiedervereinigung. Gabriel, Falter und Rattinger stellen sie in ihrem Sammelband nicht nur in Frage, sondern geben zugleich eine beunruhigende Antwort: Es wächst auseinander, was zusammengehört. Ihre Antwort ist umso beunruhigender, als der Bezugspunkt des Zusammengehörens nicht die deutsche Geschichte, Sprache und Kultur sind, sondern der Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung. Seitdem ist auseinander gewachsen, was mit Blick auf eine viel längere Dauer zusammengehört.

Eine solche Frage lässt sich nur stellen, eine solche Antwort nur geben, wenn man über einen außergewöhnlichen Datenbestand verfügt. Die Herausgeber stützen sich auf drei Querschnittsbefragungen zu den Bundestagswahlen 1994, 1998 und 2004 und auf eine Wiederbefragung der gleichen Personen über alle drei Zeitpunkte. So sind sie in der Lage, den Wandel im gesamten Land und bei einzelnen Personen über fast ein Jahrzehnt zu verfolgen. Sie können untersuchen, wie stabil oder schwankend politische Einstellungen sind und wie sich Einstellungen 1994 auf Einstellungen 1998 und 2004 auswirken.

Weil die Befragungen zu Bundestagswahlen stattfanden, war die politische Kultur ihr Gegenstand, also die Einstellungen der Bürger/innen einer Nation zur politischen Ordnung und ihre Bewertungen der politischen Ergebnisse. Im Fall Deutschlands wurde die Nation durch das Ende der DDR und die Ausweitung des Geltungsbereichs der Verfassung der Bundesrepublik wieder vereinigt. Aber im vereinigten Nationalstaat ist Ostdeutschland nicht nur als eine eigene Gesellschaft verblieben, sondern hat sich auch noch zunehmend von der westdeutschen Gesellschaft entfernt. Das wurde bis jetzt vor allem für die Unterstützung des Leistungsprinzips und für die Religiosität gezeigt. Gabriel, Falter und Rattinger zeigen, dass es auch für die politische Kultur gilt: Ostdeutschland ist eine eigene Gesellschaft geworden – durch den Rückblick auf die untergegangene DDR und in der Distanzierung von der bundesrepublikanischen Demokratie. 1989 unterschieden sich die Einstellungen in den Teilgesellschaften nicht sehr, danach aber veränderte sich die westdeutsche Gesellschaft nicht wesentlich, während die ostdeutsche von ihr abrückte.

Die wachsende Kluft der Landesteile zeigt sich in Ostdeutschland am Rückgang der politischen Kenntnisse (S. 62), des politischen Interesses (S. 63), des Gefühls politischer Wirksamkeit (S. 64, 84), der Parteiidentifikation, der Demokratiezufriedenheit (S. 193), der positiven Einschätzung der persönlichen wirtschaftlichen Lage (S. 225) und der demokratischen Grundeinstellung (S. 263). Die rückläufigen Entwicklungen sind – wie Gabriel in seiner abschließenden Analyse zeigt – bei der Identifikation mit der Demokratie als Grundwert stärker als bei der Einschätzung der Leistungskraft des politischen Prozesses. Man könnte glauben, dass die Turbulenzen der Transformation an der Oberfläche der politischen Kultur kratzen, aber ihren Kern nicht erreichen, dass Einschätzungen der Situation skeptischer werden, erworbene Überzeugungen aber standhalten. Es ist jedoch genau umgekehrt: Die Überzeugungen haben mehr gelitten als die Einschätzungen. Nur ein Beispiel sei zitiert (S. 262): Der Prozentsatz der „Nichtdemokraten“ in einer auf Aussagen zu Grundwerten und zur Zufriedenheit beruhenden Typologie beträgt in Westdeutschland 1994 13 Prozent und 2002 8 Prozent, in Ostdeutschland 1994 28 Prozent und 2002 33 Prozent; die Kluft wächst also von 15 auf 25 Prozentpunkte.

Die Ostdeutschen treiben aber nicht nur von den Westdeutschen weg, ihre politischen Einstellungen sind auch über die drei Erhebungszeitpunkte weniger stabil. Liegt in der Instabilität eine Chance? Werden die Ostdeutschen sich dem westdeutschen Einstellungsniveau (wieder) annähern? Man könnte es meinen. Aber der Überblick über die bisherigen Entwicklungen zeigt, dass in Ostdeutschland gerade die negativen Einstellungen häufig stabil sind und sich seltener als in Westdeutschland ins Positive entwickeln, während die für Ostdeutschland erwünschten positiven Entwicklungen in Westdeutschland häufiger sind.

Der entscheidende Grund für das Auseinandertreiben der beiden Landesteile ist, dass ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung in der Erinnerung an die DDR befangen bleibt und dass dieser Teil nicht schrumpft, sondern wächst. So wird die Frage, ob die DDR mehr gute als schlechte Seiten gehabt habe, in Westdeutschland konstant von wenigen bejaht, in Ostdeutschland aber liegt die Zustimmung deutlich höher und steigt zwischen 1994 und 2004 an (S. 352). Die Zustimmung zu den guten Seiten der DDR ist zudem die einzige Einstellung, deren Stabilität in Ostdeutschland höher ist als in Westdeutschland (S. 21). Das Hemmnis gegen die Annäherung bewegt sich nicht. Die „Ostalgie“, der ein ganzes Kapitel des Bandes gewidmet ist, ist keine Mauer zwischen West- und Ostdeutschland, sondern innerhalb von Ostdeutschland. Nicht wenige Ostdeutsche sind in Deutschland angekommen, aber immer noch zu viele sind es nicht – und die Grenze verschiebt sich kaum.

Obwohl die beiden Landesteile sich im Niveau der politischen Einstellungen unterscheiden, ist – wie Gabriel und Rattinger in der Einleitung zeigen – die Struktur der Beziehungen zwischen den Einstellungen in beiden Landesteilen gleich. Das kann als Trost gewertet werden. Wenn man dafür sorgen will, dass die beiden Landesteile sich wieder annähern, dann gilt in beiden Landesteilen die gleiche „Logik“: Auch wenn Ostdeutsche z.B. demokratische Grundüberzeugungen weniger unterstützen als Westdeutsche, hängen die demokratischen Grundüberzeugungen in beiden Landesteilen gleich stark mit der Demokratiezufriedenheit zusammen (S. 409).

Die konstante Struktur der politischen Einstellungen hat aber auch eine zweite, für die Analysen bedeutsame Folge. Sobald es um die Hintergründe geht, untersuchen die Autoren Ost- und Westdeutschland immer in getrennten Regressionsrechnungen. Das politische Interesse z.B. wird getrennt für beide Landesteile in Abhängigkeit von Bildung, Parteiidentifikation etc. untersucht. Das aber ist unnötig für die Analyse und beschwerlich für die Lektüre. Wenigstens auf der Ebene der Suche nach den Hintergründen der politischen Kultur könnte man – im Nachvollzug der staatlichen Wiedervereinigung und in Vorwegnahme der gesellschaftlichen Annäherung – eine Regression für beide Landesteile mit dem Landesteil als zusätzlichen Effekt berechnen. Dann könnte man die Landesteilunterschiede unter Kontrolle der übrigen Einflüsse wie Bildung und Parteiidentifikation statistisch prüfen. Dieselbe Überlegung gilt für die drei Zeitpunkte: Auch hier kann man – wiederum unter Kontrolle der übrigen Einflüsse – die Effekte der Zeit statistisch prüfen. Niemand nimmt ja an, dass der Effekt der Bildung auf das politische Interesse sich mit dem Landesteil oder mit der Zeit verändert. Die Prüfung eines solchen Effekts in insgesamt sechs unterschiedlichen Stichproben hingegen ist eine „Kapitalisierung des Zufalls“. Die Zusammenfassung der Analysen hätte aber nicht nur sachlichen Gewinn gebracht, sondern auch die Lektüre erleichtert. Das Koeffizientenmeer wäre auf ein Sechstel zusammengeschrumpft – und mit ihm viele Tabellen.

Das Buch ist sicher eine der wichtigsten Publikationen zur politischen Soziologie Deutschlands und zur Transformation der politischen Kultur der beiden Landesteile. Die einzelnen Kapitel schreiten das ganze Themenspektrum der politischen Kultur mit kompetenten Analysen ab. Sie zeichnen den oft dornenreichen Weg der empirischen Umfrageforschung ohne unnötigen begrifflichen und statistischen Aufwand so ab, dass auch nicht Eingeweihte den Gedankengang nachvollziehen und die Ergebnisse bewerten können. Die Probleme der Stabilitätsmessung auf der Ebene des Landes und der Personen werden in der Einleitung anschaulich erörtert. Die Aufsätze folgen weitgehend dem gleichen Analyseschema: Aggregattrends, Stabilität, Einflussanalyse durch Regressionen. Die Tabellen sind übersichtlich, selbst wo sie hätten kleiner ausfallen können. Die Frageformulierungen und die Auswertungsroutinen sind meistens vorzüglich dokumentiert, so dass die Leser/innen nachvollziehen können, wie die theoretischen Überlegungen der Forscher in die Alltagswelt der Befragten übersetzt und wieder in das Forschungslabor heimgeholt wurden.

Dennoch bleiben einige Wünsche: Der Rezensent vermisst eine Erläuterung des Aufbaus des Bandes in der Einleitung und eine Synopse der Ergebnisse der Beiträge am Schluss; das Schlusskapitel Gabriels ist eine neue, wenn auch auf drei grundlegende Zielvariablen gerichtete empirische Analyse. Bei manchen Verweisen unter den Tabellen auf den Anhang der Frageformulierungen fehlt die Angabe der Variablen-Nummer. Die Trends in den beiden Landesteilen wären besser in Grafiken statt in Tabellen dargestellt worden. Gelegentlich spukt auch der Kopierteufel: Tabelle 10, 12 und 14 auf S. 72ff. beruhen nicht auf dem Panel, sondern auf den Querschnitten; und wie in Tabelle 14 die subjektive Kompetenz die subjektive Kompetenz voraussagen kann, bleibt unerfindlich. Aber das sind Kleinigkeiten, die ein aufmerksamer Lektor – eine Spezies, die man in sozialwissenschaftlichen Verlagen selten findet – hätte korrigieren müssen. Insgesamt dokumentiert der Band ein groß angelegtes Forschungsprojekt in einer ersten inhaltlich beachtlichen und formal gelungenen Publikation.

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