Cover
Titel
Das Alter. Eine Kulturgeschichte


Herausgeber
Thane, Pat
Erschienen
Darmstadt 2005: Primus Verlag
Anzahl Seiten
320 S., über 250 Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Speitkamp, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Giessen

Dass Jugend und Alter soziale Konstrukte sind, weniger Ausdruck von Lebensphasen als von Vorstellungen über Lebensphasen, insofern kulturell bedingt und historisch wandelbar, scheint mittlerweile kaum umstritten. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht: Denn ebenso wenig ist bestreitbar, dass es jüngere und ältere Menschen gibt, dass also Gesellschaften immer mit dem Phänomen der Altersunterschiede und des Alterns umgehen müssen, dass sie Jugend und Alter immer wieder neu konstruieren müssen. Dies gilt umso mehr, als die landläufige Vorstellung, in früheren Zeiten habe es – nachweislich der geringen Lebenserwartung – praktisch kaum ältere Menschen gegeben, nicht stimmt. Die durchschnittliche Lebenserwartung gibt einen für die Beschreibung der Realität im Grunde wenig brauchbaren Wert an. Immer schon konnte, wer die riskante Phase des Säuglings- und frühen Kindesalters überstanden hatte, sehr alt werden, auch in Antike und Mittelalter über 80 Jahre. Und in früheren Zeiten waren Alte keineswegs immer selbstverständlich aufgehoben im Schoße der solidarischen Großfamilie – schon weil diese selbst ein Mythos ist. Wer kinderlos war oder seine Kinder früh verloren hatte, und beides war keineswegs selten, Letzteres sogar nicht unwahrscheinlich, war im Alter einsam und ungeschützt. Auch wer Kinder hatte, musste damit rechnen, im wahrsten Sinn des Wortes auf das Altenteil abgeschoben zu werden. Und schließlich zogen es in vielen europäischen Gesellschaften die Alten vor, so lange wie möglich im eigenen Haus zu wohnen, um eben nicht in Abhängigkeit zu geraten.

Insofern besteht kein Grund, den Umgang mit den Alten in der Geschichte zu idealisieren. Pat Thane räumt daher in ihrer Einleitung der „Kulturgeschichte des Alters“ zu Recht mit einigen populären Mythen über das Alter und die Alten in der Vergangenheit auf. Das spiegelt den Forschungsstand, wie denn das Buch überhaupt streckenweise eher einen anschaulichen Überblick vermitteln will. Entsprechend liegt dem vom deutschen Verlag gewählten Titel (englischer Originaltitel „The long history of old age“) auch kein irgendwie präzisierter Begriff von „Kulturgeschichte“ zugrunde. In sechs chronologisch angeordneten Beiträgen über die Antike, Mittelalter und Renaissance sowie das 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert wird über das Alter berichtet. Die Autoren hatten relativ weiten Spielraum, was Gestaltung und Schwerpunktsetzung ihrer Beiträge angeht. So legen einige Beiträge eher das Gewicht auf künstlerische Repräsentationen, andere eher auf die Sozialgeschichte des Alters. Vieles wird angesprochen, wenn auch nicht systematisch erörtert oder gar über die Epochen hinweg verglichen: die Lebenssituation von armen und reichen Alten, von alten Frauen und alten Männern, Bild und Realität des Alters, vormoderne Fürsorge und moderner Sozialstaat. Die Mehrzahl der Beiträge ist außerordentlich informativ und anregend. Durchgängig sind die Artikel mit einer sehr großen Zahl vorzüglicher, jeweils ausführlich erläuterter Abbildungen versehen. Sie allein schon lohnen die Beschäftigung mit dem Band.

Eines macht das Buch unzweideutig klar: Das Alter war immer schon ein Problem, das Altern immer schon eine Herausforderung. Im Übrigen galt das Alter, zumindest das hohe Alter, immer auch schon als Symbol der Vergänglichkeit, als Mahnung an den unabweisbaren Tod, geradezu als Herausforderung oder Beleidigung der Lebenden – und entsprechend konnte es verdrängt oder verhöhnt werden. Vormoderne Visualisierungen, etwa Altersräder oder Alterspyramiden, die den ebenso unvermeidlichen wie geordneten Übergang von einer Lebensphase in die nächste symbolisch darstellten und jeder Lebensphase spezifische Eigenschaften und Aufgaben zuschrieben, drückten die Auseinandersetzung mit der Frage des Alterns aus. Sie wiesen immerhin auch den Alten einen festen Platz im (gott-)gegebenen Lebenslauf zu, wie sie überhaupt die Unwägbarkeiten des Lebens in Ordnung und Zirkularität aufheben wollten. Dergleichen ist kaum noch vorstellbar in modernen und erst recht postmodernen Zeiten, in denen das Egalitäts-Postulat und die Einebnung von Lebensstilen und Kleidungsformen einerseits, medizinische Utopien andererseits auch die Legitimität von altersspezifischen Rollen und Aufgaben in Frage stellen, zumal in den gegenwärtigen Übergangszeiten, wo früher Ausstieg aus dem Erwerbsleben und hohe Lebenserwartung zusammenkommen, wo es ohnehin keine „Alten“, sondern allenfalls noch „Senioren“ gibt. Der populäre Leitsatz „Man ist so alt, wie man sich fühlt“ drückt im Grunde die beständige Herausforderung, den beständigen Generationenkonflikt, aus: Wie jung dürfen Alte sein, welche Ansprüche dürfen Alte, welche Junge stellen, wann dürfen die Jungen die Alten verdrängen? Die Maxime der NS-Propaganda „Macht Platz ihr Alten!“ verdeutlicht zugespitzt, wie brisant das Thema der Vermittlung zwischen den Generationen war. Anders als meist angenommen, gilt das nicht nur für das 20. Jahrhundert, sondern auch schon für Zeiten und Kulturen, in denen die Autorität des Alters ungebrochen schien.

Hier tritt freilich eine Schwäche des Bandes besonders hervor: Behandelt wird – wiederum ohne nähere Erläuterung oder Präzisierung – lediglich das Alter in Europa bzw. in den besser erforschten Ländern Europas, de facto also vornehmlich im westlichen Europa, auch wenn Hinweise auf Nordamerika das Bild auflockern. Doch der Vergleich mit außereuropäischen Kulturen und die Einbeziehung ethnologischer Forschungen hätte den Blick geschärft. Auch eine klarere parallele Anlage der Beiträge hätte die Vergleichbarkeit erhöht, vor allem den Stellenwert des Wandels deutlicher gemacht. Demografische Befunde werden zu wenig berücksichtigt, und auch die Ansätze der neueren Generationenforschung schlagen sich nicht im Band nieder. Das gilt namentlich für die Darstellung des 20. Jahrhunderts. Weiter zu erörtern wäre auch die Entstehung eines regelrechten Jugendmythos, der sich in Jugendbewegungen wie dem Wandervogel, im Jugendstil und anderem symbolisch ausdrückte und alles jenseits der Jugend zu den kulturell und politisch Alten – oder Veralteten – zählte, die Jugendlichkeit geradezu zum gesellschaftlichen Maßstab machte. Das hätte vielleicht zu einer Differenzierung der allzu wohlwollenden Schlussfolgerungen beigetragen. Schon die Überschriften der Epochenkapitel verbreiten Optimismus (Mittelalter und Renaissance: „Ein soziales Netz entsteht“; 17. Jahrhundert: „Erfüllter Lebensabend – Wege aus der Isolation“; 18. Jahrhundert: „Rückhalt in Familie und Gemeinde“; 19. Jahrhundert: „Aufbruch in den Wohlfahrtsstaat“). Auch die Gesamtbilanz von Pat Thane ist optimistisch: Die Geschichte des Alters sei „eine sehr viel positivere, als uns allzu oft glauben gemacht wird“ (S. 28), immer mehr Menschen erreichten heute ein hohes Alter, und auch im Alter gebe es noch eine Vielfalt von Lebensoptionen, auch Alte könnten integriert, erfolgreich und glücklich sein. Vielleicht ist das Irritierende einer solchen Bilanz, dass sie nicht zwischen wissenschaftlichem Befund und Lebensratgeber unterscheidet.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension