H. Barta u.a. (Hgg.): Lebend(ig)e Rechtsgeschichte

Cover
Titel
Lebend(ig)e Rechtsgeschichte. Beispiele antiker Rechtskulturen: Ägypten, Mesopotamien und Griechenland


Herausgeber
Barta, Heinz; Mayer-Maly, Theo; Raber, Fritz
Reihe
Recht und Kultur 1
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leonhard Reis, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Für RechtshistorikerInnen, die mit antiker Rechtsgeschichte befasst sind, ist es erfreulich, wenn die Dimensionen ihres Faches Gegenstand wissenschaftlicher Veranstaltungen und entsprechender Publikationen sind. Die zeitliche und geografische Bandbreite der antiken Rechtsgeschichte, die über die Grenzen der klassischen griechisch-römischen Antike und Europas hinausgeht, kann nicht deutlich genug aufgezeigt werden.1 Dies getan zu haben, ist Verdienst mehrerer Publikationen der letzten Zeit, darunter der hier zu besprechenden.2 In der Einleitung führen die Herausgeber die Zwecke der Tagung "Lebend(ig)e Rechtsgeschichte" sowie der vorliegenden Publikation aus: In Erinnerung zu rufen, dass die "Rechtsgeschichte lebende, ja lebendige Disziplin" sei, "Rechtsgeschichte als Anregung, nachzudenken zu sehen, um vor einer dumpfen Hinnahme des Gewordenen zu bewahren", aufzuzeigen, dass "Rechtsgeschichte Teil der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte sei und der Rechtsentwicklung über Rom hinaus größere Beachtung zu schenken" sei. Dies sind Ziele, die erreicht wurden, wenn man die vielfältigen Beiträge betrachtet.3

Theo Mayer-Maly umreißt in seiner Vortragsskizze unter dem Titel "Rechtsgeschichte als Weg zur Rechtserkenntnis" (S. 12-15) anhand von Heinrich Mitteis' "Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte" wesentliche methodische Fragen der Rechtsgeschichte. Er sieht in der historischen Interpretation eine wichtige Verbindung zwischen Rechtsgeschichte und Rechtserkenntnis. Im Rahmen der Gesetzesauslegung hat der Jurist bei Anwendung der historischen Interpretationsmethode die Einordnung der zu interpretierenden Norm in die Rechtsordnung zum Zeitpunkt der Erlassung vorzunehmen. Die hiefür notwendigen Schritte sind mit geschichtswissenschaftlichen Methoden zu erzielen. Mayer-Malys zusammenfassender Erkenntnis, die Rechtgeschichte sei für Rechtserkenntnis hilfreich, in dem sie die Relativität der geltenden Rechtsordnung bewusst macht, das Normengeflecht besser zu verstehen hilft und gegen die Wiederholung von Regelungsirrtümern wirkt, ist programmatisch zu folgen. Zu wünschen ist, dass diese Erkenntnis auch im Rahmen der zukünftigen Juristenausbildung ihre Berücksichtigung findet.

Der umfassende Beitrag von Heinz Barta "Die Entstehung der Rechtskategorie 'Zufall'. Zur Entwicklung des haftungsrechtlichen Zurechnungsinstrumentariums im antiken Griechenland und dessen Bedeutung für die europäische Rechtsentwicklung" (S. 16-115), ein Vorabdruck eines Kapitels seiner künftigen Monografie "Graeca non leguntur", befasst sich mit der Entstehung des Rechtsinstituts Zufall, welchem auch in modernen Rechtsordnungen (insbesondere im Schadenersatzrecht) eine nicht unbeachtliche Rolle zukommt. Barta führt die dogmatische Leistung, kausales, zurechenbares Verhalten (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) von kausalen, aber zufälligen (und somit haftungsausschließenden) Ereignissen abzugrenzen, richtig auf Antiphon von Rhamnus (ca. 480-411 v.Chr.) zurück. Der rechtshistorischen Behandlung vor allem des Speerwurfbeispiels der zweiten Tetralogie des griechischen Juristen 4 ist vollends zu folgen. Barta sieht zu Recht in Antiphons Tetralogien nicht nur didaktische, sondern auch rechtstheoretisch-systematische (wissenschaftliche) und rechtsfortbildende Ziele verfolgt. Er vertieft die zuletzt schon von Michael Gagarin vertretene Ansicht über die wesentliche Bedeutung der zweiten Tetralogie für Fragen der Kausalität und Zurechnung.5 Bei Antiphon findet sich bereits das den heutigen europäischen Rechtsordnungen zugrunde liegende Haftungsmodell: die Abgrenzung nicht vorwerfbaren Verhaltens von persönlich vorwerfbarem sowie die Unterteilung des Verschuldens in vorsätzliches und fahrlässiges Verhalten. Von großem Interesse sind die Ausführungen zu den weiteren Lehrreden sowie zur Choreutenrede Antiphons, deren rechtstheoretische bzw. systematische Inhalte von Barta deutlich herausgestrichen werden. Interessant sind auch die Erläuterungen zur drakontisch-solonischen Rechtslage, zur Weiterentwicklungen des rechtlichen Zufalls und des Verschuldens in der griechischen Rechtsphilosophie und Rhetorik insbesondere bei Platon und Aristoteles. Das Zusammenspiel von Philosophie, Rhetorik, Sophistik, Medizin, Geschichtswissenschaft und Rechtspraxis zur Rechtsfortbildung wird anschaulich dargestellt.

Ein weiterer Abschnitt des Beitrags beschäftigt sich mit der römischen Rezeption des betreffenden Rechtsinstituts. Barta vermutet eine Rezeption erst durch Gaius (2. Jh. n.Chr.), der sich in seinen Institutionen mit casus auseinandersetzt, möglicherweise aber bereits durch Q. Mucius Scaevola (ca. 140-82 v.Chr.). Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich dabei um ein argumentum e silentio handelt. Die Überlieferung römischer Rechtswissenschaft der Republik aus der Zeit nach den Punischen Kriegen ist marginal, weshalb jede Schlussfolgerung hinsichtlich des Fehlens entsprechender Rechtsfortbildung mit Vorsicht zu genießen ist. Sakralrechtliche Normen des 3. Jahrhunderts v.Chr. weisen nämlich durchaus auf Rechtsfolgen zufälliger Ereignisse hin. In erster Linie ist hier das ver sacrum-Gelübde des Jahres 217 v. Chr. anzuführen, über das Livius berichtet. In diesem Schwur werden in großer Not alle im kommenden Frühjahr geborenen Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder dem Iuppiter geweiht.6 Insbesondere zwei Klauseln sprechen für eine Abgrenzung in der Zurechenbarkeit: "Wer unwissentlich ein solches Tier tötet, haftet nicht;" und "Stirbt ein solches Tier, so soll keine sakrale Haftung eintreten". Die Haftung für die Verletzung der Sakralnorm tritt in Fällen des Zufalls nicht ein. Es bedarf daher auch keiner Realisierung der Strafdrohung, welche in den Händen der Götter liegt, deorum iniura dis curae.7 Bartas Ausführungen zur genuin griechischen rechtswissenschaftlichen Leistung sind ohne Vorbehalt zuzustimmen und lassen die antike griechische Jurisprudenz in neuem Licht erscheinen. Die Frage nach der römischen Rezeption bzw. einer römischen Parallelentwicklung bleibt aus Sicht des Rezensenten jedoch nicht abschließend geklärt.8

Schafik Allams Beitrag folgt der Vorgabe des Titels "Von der altägyptischen Frau. Einblicke ins Rechtsleben (vornehmlich für die Zeit 16.-10. Jh. v.Chr.)" (S. 116-180) und gibt einen schönen Überblick über die Rechtsstellung der Frau in Ägypten. Ausgehend von der Darstellung der altägyptischen Familie stellt Allam die altägyptische Ehe als eine vorrangig soziale Tatsache dar, wobei neben dem Zustandekommen und dem Ende der Ehe die Rechtsinstitute des Ehegüterrechts, Eheverträge oder des Ehegattenerbrechts nicht zu kurz kommen. Die "Rechtspersönlichkeit" (besser: Geschäftsfähigkeit) der altägyptischen Frau wird ebenfalls umfassend anhand zahlreicher Testimonia erläutert. Der Beitrag ist ein mit zahlreichen Quellenbelegen versehener lesenswerter Überblick zur rechtlichen Stellung der altägyptischen Frau, dessen Wert leider durch Satzfehler bei zusammengesetzten Substantiven geschmälert wird. Hans Neumann beschäftigt sich in seinem Artikel "Der Beitrag Mesopotamiens zur Rechtsgeschichte - Bürgschaft und Pfand als Mittel zur Vertragssicherung" (S. 181-204) neben quellenbezogenen und methodischen Fragen der Keilschriftrechtsgeschichte intensiv mit der Notwendigkeit der Erarbeitung einer Institutionengeschichte. Die Basis hierfür sind weniger die Rechtssammlungen, für die Neumann einen guten Abriss bietet, als vielmehr das überlieferte Urkundenmaterial. Als Exempel greift er die Vertragssicherung heraus und gibt zuerst einen Überblick über die Entwicklung der Bürgschaft in all ihren Ausformungen. Aufbauend auf die wesentlichen Arbeiten der Sekundärliteratur zeigt Neumann in der Folge auch die wesentlichen Entwicklungslinien des Pfandrechts im alten Mesopotamien auf.

Mit seinem Beitrag "Neuassyrische Staatsverträge und Homer. Ein transkultureller Vergleich" betreibt Robert Rollinger (S. 205-248) antike Rechtsgeschichte im Sinne Leopold Wengers: Die rechtsvergleichende Arbeit erarbeitet - aufbauend auf Vorarbeiten des Autors 9 - Parallelen in den homerischen und neuassyrischen Internationalverträgen. Ausgehend von den 23 Vertragsszenen in Ilias und Odyssee legt er die Vertragsbestandteile (promissorischer Eid, Gottesschutz bzw. -zeugenschaft, Stipulation, Vorgeschichte, Ermahnung gegen Vertragsbruch, Fluch) und konstitutiven Ritualbestandteile (Handschlag, Weinspende, Schlachten der Opfertiere, Wasserspende) dar, verbessert so die von Baltrusch vorgenommene Gliederung überzeugend 10 und schließt auf standardisierte Vorstellungen der Einzelvertragselemente bei Homer. Als Vergleichsgegenstand wählt Rollinger die im Vertragstext überlieferten neuassyrischen Internationalverträge und extrahiert die Strukturelemente Präambel, Siegel, Gottesschutz bzw. -zeugenschaft, Schwur, Vorgeschichte, Stipulation, Ermahnung gegen Vertragsbruch11, Fluch, Kolophon und Datum. Zu Recht weist er die ersten beiden und das letzte Element als Formalia der Originalverträge aus, welche in den homerischen Epen aufgrund des literarischen Charakters keinen Einschlag finden. Spannend ist nun die Gegenüberstellung der altorientalischen mit der homerischen Vertragspraxis, vor allem die Parallelen in der Terminologie, bei den unter Gottesschutz gestellten Eiden und bei den Fluchformeln im Falle des Vertragsbruchs, wobei auch die Fluchfolgen durchwegs ähnlich sein sollten. Dem Argument einer jeweils indigenen Rechtsentwicklung begegnet Rollinger überzeugend mit dem Vergleich der Rituale bei Vertragsabschluss, wobei sich sowohl die Rahmenbedingungen als auch die Inhalte des Vorganges ähneln. Überlegungen zu einem - somit wahrscheinlichen - Kulturaustausch und zu der Schlussfolgerung, die Ilias schildere zumindest in dem Vertrag des dritten Gesanges zwischen Troern und Achaiern eine Vorgehensweise aus dem 8./7. Jahrhundert v.Chr., stehen am Ende dieses spannenden Beitrags.

Den Band beschließen zwei Beiträge von Hans Erich Troje: Der erste, "Europa und griechisches Recht" (S. 249-269), ist der Wiederabdruck der lesenswerten Frankfurter Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1970, welche auch im Internet publiziert ist 12 und ob ihrer Literaturzusammenschau immer noch gerne herangezogen wird. "Bemerkungen zu 'Europa und griechisches Recht'" (S. 270-281) ist der Text eines in Innsbruck 2002 gehaltenen Vortrags, in dem Troje seine ursprünglichen Einschätzungen einer kritischen Revision unterzieht. Mit dem letzten Absatz dieses Beitrags - dem Wunsch nach Beachtung der außerrömischen Rechtsgeschichte - schließt sich der Kreis, und die Vorgabe der Herausgeber findet in den Ausführungen zur Bedeutung der römisch-rechtlichen Grundlagen für eine europäische Rechtsvereinheitlichung ihren Abschluss: Rechtsgeschichte als notwendige Voraussetzung de lege ferenda für ein europäisches Privatrecht.

Anmerkungen:
1 So deutlich: Selb, W., Antike Rechte im Mittelmeerraum: Rom, Griechenland, Ägypten und der Orient, Köln 1993; Manthé, U. (Hg.), Die Rechtskulturen der Antike, München 2003.
2 Daneben verdient vor allem Thür, G. (Hg.), Antike Rechtsgeschichte. Einheit und Vielfalt, Wien 2005 hier Erwähnung.
3 Das nähere Eingehen auf die Beiträge von Barta und Rollinger im Folgenden spiegelt die persönlichen Interessen des Rezensenten wieder.
4 Im Sinne eines weiten antiken Juristenbegriffes - Fritz Schulz' Beispiel folgend (History of Roman Legal Science, Oxford 1953). Zum Juristenbegriff im antiken Griechenland: vgl. Barta, H., Zur juristischen Professionalisierung im alten Griechenland. Plädoyer für ein rechtshistorisches Umdenken, in: Fischer-Czermak, C. u.a. (Hgg.), FS Welser, Wien 2004, S. 27-54.
5 Gagarin, M., Antiphon the Athenian. Oratory, Law, and Justice in the Age of the Sophists, Austin 2002, bes. S. 120ff.; vgl. dazu die Rez. v. Charlotte Schubert, H-Soz-u-Kult, 11.08.2003 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-087>; bei diesem auch die wesentlichsten Aspekte des Verhältnisses von pragmata zu logoi in der Rhetorik; vgl. auch die Einleitung zur Kommentierung in der Ausgabe Gagarin, M., Antiphon. The Speeches, Cambridge 1997, S. 144ff.
6 Liv. 22,10,2ff; vgl. W. Eisenhut, Art. "ver sacrum", RE VIII A 1 (1955), Sp. 911-923; C. R. Philipps, Art. "ver sacrum", Der Neue Pauly 12,2 (2003), 22 (mit den Quellen und weiterer Literatur).
7 Tac. ann. 1,73.
8 Auch erscheint dem Rezensenten das Speerwurfbeispiel Ulpians (Dig. 9,2,9,4) zur lex Aquilia wohl eher auf die ausführliche Diskussion zwischen Perikles und Protagoras bei Plut. Per. 36,3 zurückzugehen.
9 Da der Beitrag eine gekürzte, leicht überarbeitet und aktualisierte Fassung von Rollinger, R., Die Verschriftlichung von Normen: Einflüsse und Elemente orientalischer Kulturtechnik in den homerischen Epen, dargestellt am Beispiel des Vertragswesens, in: Rollinger, R.; Ulf, Ch. (Hgg.), Griechische Arachaik. Interne Entwicklungen - Externe Impulse, Berlin 2004, S. 369ff. darstellt, wäre es hilfreich gewesen, wenn die Verbesserung gegenüber der Vorarbeit aufgezeigt worden wären.
10 Vor allem der Zuordnung des promittorischen Eids als Vertragsklausel ist zu folgen, da sie selbst ein (sakralrechtliches) Vertragselement und weniger eine Kulthandlung ist.
11 Der unglückliche Seitenumbruch erschwert leider die Benützung der hilfreichen Tabelle.
12http://web.uni-frankfurt.de/fb01/Troje/EugR.html. Die Online-Fassung hat jedoch keinen bibliografischen Apparat.

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