M. Mulsow u.a. (Hgg.): Konstellationsforschung

Titel
Konstellationsforschung.


Herausgeber
Mulsow, Martin; Stamm, Marcelo
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
370 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Möllmann, SFB/KFK 485 "Norm und Symbol", Universität Konstanz

Bereits der schlichte, gleichsam anonymisierte Buchtitel „Konstellationsforschung“ birgt eine doppelte Pointe. Der Verzicht auf einen beschränkenden Zusatz lässt sich nicht nur begreifen als offenes Gesprächsangebot an sämtliche ideengeschichtlichen Disziplinen und Zugangsweisen. Sein Fehlen berührt zugleich einen Kern des philosophiehistorischen Forschungsprogramms, das der Münchener Philosoph Dieter Henrich seinen Rekonstruktionen zur Frühphase des deutschen Idealismus abgewonnen hat.1 Statt solitären, monografisch darstellbaren Denkern widmet es sich relationalen Gefügen von Personen, Theorien, Problemen und Dokumenten, aus denen heraus kreative Prozesse des Denkens erschließbar werden. Diese Abkehr von einer individuenzentrierten Philosophiegeschichte allein kann es aber kaum rechtfertigen, auf die Beschäftigung mit Henrichs methodischen Vorschlägen eine ganze Aufsatzsammlung zu verwenden. Zumal wenn diese noch Resonanzen erzeugen will in benachbarten ideengeschichtlichen Feldern, die dem exklusiven Fokus auf große Theoretiker zumeist entwöhnt sein sollten.

Die weitergehende Eigenart der Konstellationsforschung lässt sich recht bündig erfassen über fünf untrennbar ineinander verschränkte Ambitionen, von denen jede für sich genommen auf den ersten Blick wenig Anlass zur Beunruhigung bietet. Die relationale Zurichtung des jeweiligen Gegenstandes soll es ermöglichen, Impuls gebende Schritte hin zur Transformation eines „Denkraums“ neu zu verorten und hierbei auch bisher übergangene oder marginalisierte Akteure einzubinden. Im dynamisch gewendeten Grundbegriff der „Konstellation“ ist ferner die zugespitzte These vorausgesetzt, dass diese kreativen Prozesse spannungsgeladen ablaufen. Antagonismus und Widerstreit sind den untersuchten Innovationen nicht bloß äußerlich, sondern in sie hineingebildet. „Forschung“ freilich wird ein solches Vorgehen nur, wenn die Rekonstruktion sich drittens auch auf bisher unpubliziertes, nicht selten allererst aufwändig zu recherchierendes Quellenmaterial wie Briefwechsel, Tagebücher, annotierte Manuskripte oder Vorlesungsmitschriften stützt. Im Ergebnis sollen auf diese Weise Zusammenhänge freigelegt werden, die den beteiligten Akteuren selbst verborgen blieben. Sie werden gewissermaßen eingestellt in unterschwellig wirkende Kraftfelder, deren agonale Dynamik sich ihrem zeitgenössischen Selbstverständnis entzog. Fünftens schließlich beansprucht die Konstellationsforschung faktisch nicht realisierte systematische Potenziale ihres Gegenstands sichtbar zu machen, die eine Vergegenwärtigung der behandelten Ideen ermöglichen. Sie zielt also nicht nur auf eine historische Rekonstruktion der realen, kontingenten Abläufe, sondern zugleich auf die Sachfragen selbst, verbindet Konstellationsforschung im engeren Sinne mit einer „Argumentanalyse“.

Dieser konzeptuelle Grundbestand wird in den ersten beiden Blöcken des Sammelbandes detailliert ausgeführt, nicht ohne Widersprüche variiert, umfänglich ergänzt und kritisch gewürdigt. In einem beschließenden dritten Teil werden Studien vorgestellt, in denen das Methodeninventar auf andere Anwendungsfälle übertragen wird. Disziplinär zeigen sich die beitragenden Philosophen und Philosophiehistoriker zugeknöpfter, als dies zu erwarten gewesen wäre. Nur ein Historiker fand Einlass in ihre Runde. Der Vorteil dieser disziplinären Engführung liegt jedoch ganz offenkundig darin, dass Erkenntnis befördernden Erregtheiten keine Zügel anlegt werden. Denn vor allem in den systematisch gehaltenen Beiträgen, die ganz unmittelbar die Eigenarten der Konstellationsforschung kommentieren, wird sie nicht sogleich ihrer Stacheln beraubt und verständnisvoll angeeignet oder gar eingeebnet.

Ein wenig anders verhält es sich mit Martin Mulsows knapp umrissenem Versuch, die Konstellationsforschung in ein übergreifendes ideengeschichtliches Modell einzupassen. Hierbei droht ihr komplexes methodisches Profil überwuchert zu werden durch ergänzende Zutaten aus anderen Bereichen, wie etwa Anthony Collins „Netzwerk-“, Erving Goffmans „Rahmen-“ und Norbert Elias´ „Figurations-Analyse“, um nur einige Referenzmethoden zu nennen, die Mulsow in seine Vorstellung einer „mehrschichtigen historischen Analyse“ einbezieht. Dies fällt umso mehr auf, als in seiner späteren Konstellationsskizze zum „Comenius-Kreis“ in den Jahren 1640-50 auch noch Stephen Greenblatt herbeizitiert wird. Die insgesamt drei Fallstudien nähren überhaupt den Verdacht, dass die Konstellationsforschung sich einer übereilten Übertragung auf andere Bereiche entzieht. Zwar betont Mulsow ganz zu Recht, dass neue empirische Gegenstände zurückwirken auf die Methode und sich allenfalls auf diese Weise ihre universellen Charakteristika gewinnen lassen. Unabdingbar sollte es aber sein, in den Gegenständen faktisch nicht realisierte systematische Potenziale freizulegen, die eine Vergegenwärtigung der rekonstruierten Theorien erlauben und lohnenswert erscheinen lassen. Argumentanalyse ist, so merkt Mitherausgeber Marcelo Stamm an, „ein Kernverfahren von Konstellationsforschung“. Ein solcher Versuch jedoch wird in keiner Fallstudie ernsthaft unternommen, bei Mulsow selbst allenfalls erwogen. Dies schmälert keinesfalls ihren Wert als ideengeschichtliche Untersuchungen; es lässt die unterlegte Methode in diesem so wichtigen Punkt aber übermäßig abgerieben und stumpf erscheinen.

Karl Ameriks dagegen verleugnet den aufstachelnden Schock nicht, den die Konstellationsforschung bei einem Philosophen auslösen kann. Gerade der Idealismus habe ein anspruchsvolles Konzept autonomer Subjektivität vertreten, so dass die Unterstellung, seine Protagonisten hätten ihr eigenes Vorgehen selbst nicht durchschaut, verstörend wirken muss. Indem Ameriks überdies in der Vergegenwärtigung das „wichtigste Anliegen der Konstellationsforschung“ vermutet, kehrt mit seinem Aufsatz eine Fragestellung in die Methodenreflexion der Ideengeschichte zurück, die unbedingt weiterverfolgt werden sollte. Die Selbstauffassung des Erkenntnissubjekts bleibt von dem erschlossenen Gegenstand und den Methoden seiner Durchdringung nicht unberührt. Konstellationsforschung ist, wie es bei Daniel Dahlstrom heißt, „auch immer Selbstforschung“, der man sich, wie zu ergänzen wäre, selbst durch historische Entrückung nicht zu entziehen vermag. Henrich selbst hat seine Rekonstruktion des Idealismus zurückgebunden an ein überaus voraussetzungsreiches Konzept „bewußten Lebens“, das die argumentative Vergegenwärtigung tragen soll.2

Dies führt zu einer weiteren beunruhigenden Eigenart der Konstellationsforschung, die vor allem Fred Rush in seinem Beitrag abwägt. Methode und paradigmatischer Gegenstand scheinen derart eng miteinander verwoben, dass sich Henrichs Vorgehen als Plädoyer für einen ideengeschichtlichen Nominalismus begreifen lässt. Damit aber stünde vorerst nicht die Frage nach weiteren Anwendungsfällen im Raum. Geboten wäre vielmehr eine Bereitschaft, sich auf diese viel grundlegendere Provokation einzulassen – rückblickend wie vorausschauend. Wissenssoziologen und Rechtshistoriker sind beispielsweise mit dem Begriff der „Konstellation“ vertraut durch Karl Mannheims Studien zur Historischen Rechtsschule.3 Zwar ist seine dortige Verwendung wesentlich knapper ausgearbeitet und erstreckt sich zudem auf soziale Faktoren, deren Einbezug Henrich als Desiderat seines Unternehmens ausmacht. Doch drängt sich angesichts einer Vielzahl offenkundiger struktureller Parallelen eine methodologisch vergleichende Erörterung geradezu auf. Denn auch der Wissenssoziologie Mannheims ist ihr rechtshistorischer Gegenstand keineswegs äußerlich, sondern wirkt kräftig in sie hinein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Henrich, Dieter, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1986; Ders., Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena, 1790-1794, Frankfurt am Main 2004.
2 Vgl. Henrich, Dieter, Vergegenwärtigung des Idealismus, in: Merkur 50 (1996), S. 104-114; Ders., Bewußtes Lebens. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999.
3 Vgl. Mannheim, Karl, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hg.v. Kettler, David; Meja, Volker; Stehr, Nico, Frankfurt am Main 1984; zu Carl Friedrich von Savigny als stillem Zentrum einer aktuellen, bewusst vergegenwärtigenden Einführung in die Rechtsgeschichte vgl.: Meder, Stephan, Rechtsgeschichte. Eine Einführung, Köln 2005.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension