R. Böhmer: Der Geist des Kapitalismus und der Aufbau Ost

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Titel
Der Geist des Kapitalismus und der Aufbau Ost. Eine institutionalistische Analyse des hemmenden Einflusses von Denkgewohnheiten und Mentalitäten auf die ökonomische Entwicklung der neuen Bundesländer - auf der Grundlage von Thorstein Veblens "Regime of Status" und Max Webers "Geist des Kapitalismus"


Autor(en)
Böhmer, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Roesler, Leibniz-Sozietät Berlin

Wenn der Leser nach einem Blick auf den Untertitel vermutet, hier handele es sich um die Publikation einer wissenschaftlichen Qualifizierungsarbeit, liegt er richtig. Im Dezember 2004 hat Robert Böhmer seine Arbeit als wirtschaftswissenschaftliche Dissertation an der Technischen Universität Dresden eingereicht. Das ist insofern ungewöhnlich, als Thorstein Veblen und Max Weber, die beiden geistigen Väter, auf die sich Böhmer beruft, eher als Soziologen denn als Ökonomen ausgewiesen sind. Veblen stand der neoklassischen Ökonomie, aus der sich die heute weltweit herrschende Lehre des Neoliberalismus ableitet, sogar feindlich gegenüber.

Die Bezugnahme auf Veblen und Weber ist kein Zufall: Bei dem Versuch, das Ausbleiben eines selbsttätigen Aufschwungs im Rahmen des „Aufbau Ost“ zu enträtseln, meint Böhmer, habe „die Erklärungskraft der herkömmlichen ökonomischen Modelle versagt“. Kein (neoliberaler) Ökonom könne so recht erklären, „weshalb der Aufholprozess seit 1995 trotz eigentlich sehr guter Voraussetzungen (beachtliche Investitionsquote zum Anfang der 90er Jahre, stabiler ordnungspolitischer Rahmen, massive Subventionen, zügiger Aufbau der öffentlichen Infrastruktur) stockt“ (S. 228).

Böhmer sieht die Ursachen dafür nicht im Mechanismus der Wirtschaft, sondern im Bewusstsein der Ostdeutschen. Sowohl bei „Lohnabhängigen“ und Arbeitslosen als auch bei Unternehmern gebe es Denkblockaden, die es verhindern, dass sich Ostdeutsche in der Marktwirtschaft ausreichend engagieren, um für sich und die Region Profit ziehen zu können.

Doch bevor Böhmer sich diesem Problem im Detail widmet, gibt er im zweiten Kapitel einen gedrängten, sehr informativen Überblick über die ökonomische Entwicklung Ostdeutschlands von 1991 bis 2004. Danach beschäftigt er sich – in den Kapiteln drei bis fünf – mit den theoretischen Grundlagen der Arbeit, um in den beiden folgenden Kapiteln die den Wirtschaftsaufschwung bremsenden Denkgewohnheiten und Mentaliäten der Ostdeutschen zu analysieren und über Maßnahmen zu deren Beseitigung nachzudenken. Hierfür genügt ihm die Kenntnis der einschlägigen Werke Veblens und Webers und der wirtschaftlichen Situation Ostdeutschlands nicht. Böhmer hat darüber hinaus 34 „offene Tiefeninterviews“ mit 37 „Experten des Themas Ostdeutschland“ – Unternehmern, Politikern, Wissenschaftlern, Führungskräften aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Publizisten, Journalisten und Kulturschaffenden – durchgeführt. Ihre Aussagen werden vor allem im sechsten Kapitel ausführlich zitiert. Die Gesprächspartner bleiben für den Leser anonym. „Über die Zusicherung der Anonymisierung“, schreibt der Autor, „konnten zum Teil ungeschönte Äußerungen zu umstrittenen Themen gewonnen werden, die andernfalls sicherlich nicht hätten erreicht werden können“ (S. 165-166). Der Rezensent, der auf dem Gebiet der Expertenbefragungen selbst über einige Erfahrung verfügt, teilt Böhmers Einschätzung. Bei den Tiefeninterviews ging es dem Autor jedoch nicht um Zeitzeugenbefragungen im Stile der „Oral History“, sondern um Aussagenmaterial zu den Themen Arbeitsfixierung, Unternehmerethik, ostdeutsche Identität, DDR-Sozialisation, Einschätzung der Westdeutschen durch Ex-DDR-Bewohner u.a. Das Ergebnis der Befragungen bestätigte ihm seine aus Webers und Veblens Schriften entwickelte These: Der Ex-DDR-Bewohner ist psychisch noch nicht auf den Kapitalismus eingestellt, mit dem er es seit 1990 zu tun hat. Es fehlt ihm der rechte unternehmerische Geist.

Von der Weberschen These über die protestantische Ethik als Grundlage einer erfolgreichen Marktwirtschaft ausgehend, wendet sich Böhmer bei der Frage nach den Ursachen dem aus der DDR mitgebrachten Erbe zu. Zwar seien die Einwohner der späteren DDR seit Jahrhunderten Träger des protestantischen Glaubens gewesen, der habe sich jedoch in seiner lutherischen Variante anders als in seiner calvinistischen auch als „Geist des Gehorsams, der Untertanen, der Berufspflicht und der mit ihr verbundenen Arbeitsfixierung“ ausgeprägt. Das vom realsozialistischen Staat eingeforderte Bekenntnis zur atheistischen Weltanschauung habe an die dem lutherischen Protestantismus innewohnende Disziplinierungsgebote anknüpfen können. So waren denn die DDR-Bürger 1989 denkbar schlecht auf die freie Marktwirtschaft vorbereitet. Böhmer teilt Neuberts These von der „protestantische Revolution“1, die diese DDR-Prägung ausgelöscht haben soll, nicht. Die evangelische Kirche sei „fälschlicherweise zur ‚Mutter der Revolution’ hochgejubelt worden. […] Die These ist letztlich nur im Hinblick auf die Bürgerrechtsbewegung, als eine ‚Revolution’ einzelner Protestanten stimmig“. Die Pfarrer, wie die Bürgerrechtler überhaupt, „vertraten nur eine kleine Minderheit, einen intellektuellen Zirkel ohne Bindung zum eigentlichen Volk“. Böhmer resümiert: „Letztlich war selbst die so genannte Wende 1989/1990 in der DDR keine Revolution im eigentlichen Sinne, sondern lediglich ein Wechsel der formalen Institutionen, weil die psychischen Strukturen und der autoritär-gehemmte Charakter des Zusammenlebens nicht überwunden wurden.“ (S. 144f.)

Hatte der „lutherische Anteil“ an der protestantischen Ethik lange Zeit geholfen, die DDR zusammenzuhalten, so hatte die Fixierung ihrer Bürger auf den bundesrepublikanischen Wohlstand mit Sicherheit zu deren Untergang beigetragen. Böhmer analysiert dieses Phänomen mit Hilfe von Veblens „Statusnacheiferungsmotiv“ und sieht es auch noch nach der Wende wirksam. „Im Falle Ostdeutschlands“, schreibt er, „äußert es sich in einem neiderfüllten starren Blick nach ‘Westen’, der weder durch die bisherigen Erfolge im Transformationsprozess noch durch den schwierigen Weg des ökonomischen und sozialen Umbruchs der osteuropäischen Nachbarn relativiert wird“ (S. 167). Die Orientierung nach Westen sei ein „falsches Leitbild“, das die Ostdeutschen bis heute hindere, aus eigener Kraft den ökonomischen Aufschwung zu meistern. Die neuen Bundesländer könnten sich nicht mehr zurück zu einer „modernen“ Industriegesellschaft entwickeln. Notwendig sei eine Vision, die den bisher ausgebliebenen Mentalitätswandel produktiv lenkt. Diese Vision sei die Selbstständigkeit. Angesichts von anderthalb Millionen um das Existenzminimum bangenden Arbeitslosen könne am Ausgangspunkt des Wandels nur die Absicherung desselben durch ein Bürgergeld stehen. Erst danach werde es möglich sein, über eine spezifische Bildungspolitik sowie Talenteförderung – auch durch Auslandsaufenthalte – die Voraussetzungen für ökonomische Leistungsbereitschaft zu schaffen.

Man kann Böhmer bis in seine „direkten Handlungsempfehlungen“ hinein folgen, sie aber auch als zu gewagt ansehen. Zu überlegen wäre auf jeden Fall, ob der Autor bei seiner Untersuchung und Ablehnung der „herkömmlichen ökonomischen Modelle“ nicht etwas zu rasch vorgegangen ist. Schließlich stand 1990 als Ersatz für die Planwirtschaft nicht nur das neoliberale, sondern auch das keynesianische Modell zur Diskussion, das von der Mehrheit der westdeutschen und ebenso von fast allen kritischen ostdeutschen Wirtschaftswissenschaftlern empfohlen worden war.2 Die Entscheidung zugunsten des Neoliberalismus fiel, wie der „Wirtschaftsweise“ Lutz Hoffmann schrieb, wegen „der Dominanz politökonomischer Rationalität gegenüber ökonomischer Realität“.3 Die Möglichkeiten, die in der Anwendung keynesianischer Ordnungspolitik lagen, wurden also politischen Überlegungen und Entscheidungen zuliebe von der Bundesregierung nicht beachtet. Was wäre, wenn man derartige Möglichkeiten in Ostdeutschland ausprobierte? Rückwärtsgewandt, wie Böhmer meint, muss eine derartige Rückbesinnung keineswegs sein. Will man, wie das auch Böhmer vorschlägt, weg von der „undifferenzierten Flächenförderung“ nach dem „Gießkannenprinzip“ zur selektiven Förderung innovationswilliger Unternehmen übergehen, so lässt sich dieser Wechsel mit keynesianistischen Methoden sehr gut bewältigen. Schade, dass Böhmer bei seiner Ablehnung „makroökonomischer Modelle“ und wegen der Präferierung eines Mentalitätswandels als Ausgangspunkt für eine bessere Ökonomie für Ostdeutschland darüber kaum nachgedacht zu haben scheint.

Insgesamt gewährt das Buch neben wirtschaftstheoretischen Überlegungen einen fundierten und sehr lebendigen Einblick und eine Fülle von originellen Überlegungen zur wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Entwicklung zur Zeit der DDR, während der „Wende“ und in der Phase des „Aufbaus Ost“.

Anmerkungen:
1 Vgl. Neubert, Ehrhart, Eine protestantische Revolution, in: Deutschland Archiv 23 (5/1990); S. 704-13.
2 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR. Voraussetzungen und Möglichkeiten. Sondergutachten, Wiesbaden am 20. Januar 1990.
3 Hoffmann, Lutz, Preise, Politik und Prioritäten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Februar 1991.

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