M. Schulte Beerbühl u.a. (Hgg.): Spinning the Commercial Web

Cover
Titel
Spinning the Commercial Web. International Trade, Merchants, and Commercial Cities, c. 1640-1939


Herausgeber
Schulte Beerbühl, Margit; Vögele, Jörg
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 56,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Hatje, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Netzwerke zu erforschen hat mittlerweile eine eigene Geschichte, insbesondere als Domäne der Frühneuzeitler. Unser Wissen um Patronage und Klientelsysteme, um das Funktionieren städtischer Verfassungen und stadtbürgerlicher Herrschaft, aber auch um die frühmoderne Produktion und Durchsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist dadurch erheblich vorangebracht worden, während die Historiografie zum 19. und 20. Jahrhundert eher verhalten davon Gebrauch macht und die Wirtschaftsgeschichte die Beschäftigung mit Netzwerken erst allmählich entdeckt – in Deutschland zudem mit einem Nachholbedarf gegenüber der angelsächsischen Forschung. Der vorliegende Sammelband, der aus einer Tagung hervorgegangen ist, die 2002 an der Universität Düsseldorf stattfand, hat sich zum Ziel gesetzt, den Nutzen dieses Ansatzes für die Wirtschafts-, namentlich für die Geschichte des Handels in großer Breite zu entfalten, und leistet damit nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Geschichte der Globalisierung vor der Globalisierung.

Während makroökonomische Theorien die Handelnden zu Marionetten der Marktgesetze gemacht haben – so Margrit Schulte Beerbühl und Jörg Vögele in ihrer Einleitung – und die um die Transaktionskosten kreisenden Untersuchungen zu statisch seien, um dynamische Entwicklungen erklären zu können, führe die Netzwerkanalyse wieder die Kaufleute als Handelnde ein, ohne hinter strukturgeschichtliche Erkenntnisse zurückgehen zu müssen. Sie vermeidet die Unzulänglichkeiten biografischer Ansätze und vermag wesentliche Aspekte für die Dynamik der Globalisierung vor 1900 zutage zu fördern. Der Band gliedert sich dazu in dreimal zwei Schwerpunkte:

I. das Entstehen, der Niedergang und der Umbau von maritimen und binnenländischen Netzwerken (I.a und I.b),

II. die zwischen lokalen und globalen Netzwerken vermittelnden Akteure, nämlich Organisationen und Institutionen (II.a) sowie die Kaufleute, ihre Netzwerke und ihre ”merchant empires” (II.b),

III. und schließlich die Rolle von Hafenstädten als Knotenpunkten mit lokalen und globalen Funktionen, speziell als Dreh- und Angelpunkten von Netzwerken (III.a) und als von Migration geprägten Orten (III.b).

(I.a.) Alexander Nützenadel analysiert das Engagement venezianischer Kaufleute auf der Terraferma (Einführung von Textilindustrie und Investitionen in die Landwirtschaft) als den Versuch, durch Wissenstransfer aus Westeuropa den wirtschaftlichen Niedergang Venedigs im 18. Jahrhundert zu kompensieren. Sakis Gekas zeigt, dass der Wandel, dem die Kaufleute auf den Ionischen Inseln ausgesetzt waren (Ablösung der venezianischen durch britische Dominanz und des Korinthen- durch den Kornhandel), von der Ausbildung verschiedener Netzwerke begleitet war, die sich um unterschiedliche Institutionen (Bank, Seeversicherung) gruppierten. Cátia Alexandra Pereira Antunes entwickelt ein Modell für Netzwerkbeziehungen als Erklärungsansatz für unterschiedlich erfolgreiche Positionierung in der frühmodernen Globalisierung am Beispiel von Lissabon und Amsterdam. (I.b) Marcel Boldorf zeigt die Anfälligkeit des auf den Export via Hamburg angewiesenen schlesischen Leinenhandels auf, dessen Handelsverbindungen durch die napoleonischen Kriege zerrissen wurden und sich davon nie wieder erholten. Christiane Reves verdeutlicht, dass der Aufstieg der Brentanos und anderer italienischer Kaufleute vom Comer See in Frankfurt und Mainz vor allem auf den Familiennetzen und der flexiblen Struktur ihrer Handelsfirmen beruhte, die ihr Zentrum weiterhin in ihrer Heimatregion hatten. Ähnlich argumentiert Laurence Fontaine in ihrem Aufsatz über südfranzösische Hausierer, die lange Zeit in der Lage waren, den Buchhandel auf der Iberischen Halbinsel zu dominieren. Dabei gibt Fontaine detailliert Auskunft über Strategien, Organisationsstrukturen und Arbeitsteilung, die durch die Hugenottenverfolgungen behindert, aber erst durch die Revolution und die napoleonischen Kriege ausgehebelt wurden und im 19. Jahrhundert in einem weitaus kleineren Maßstab restrukturiert werden konnten.

Das erste Drittel der Aufsätze hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits fasziniert es durch den weiten geografischen Horizont und legt den Schluss nahe, dass vor der Umgestaltung Europas in der napoleonischen Ära vielfältigere Handlungsspielräume für den Aufbau grenzüberschreitender Netzwerke bestanden. Andererseits greifen etliche der Beiträge den Impuls der Einleitung nicht vollständig auf: Nützenadel umgeht das Thema Netzwerk völlig, Gekas lässt viel Raum für weitergehende Forschungen, Pereira Antunes benutzt ihre Fallstudien als Anwendungsbeispiele ihrer Globalisierungstheorie, was den Verdacht nährt, dass mehr ausgeblendet als erhellt wird, und bei Boldorf wird nicht recht klar, ob wir es mit Akteuren oder bloßen Opfern der Umstände zu tun haben. Interessante und anregende Gesichtspunkte haben jedoch alle sechs Aufsätze zu bieten.

(II.a) Das zweite Kapitel wird eingeleitet durch eine systematische, theoretisch untermauerte Auffächerung der Methoden, mit denen Handelsherren und Agenten bzw. Makler über weite Distanzen hinweg einen verlässlichen, vertrauenswürdigen Informationsfluss sicherten und durch Netzwerke Transaktionskosten senkten. Dabei erläutert Jari Ojala diese Sicherungsmechanismen am Beispiel finnischer Fernhandelskaufleute. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Fallstudie von Silvia Marzagalli besondere Brisanz. Sie zeigt, auf welchen Wegen und mit welchen Winkelzügen die auf den Handel zwischen Westindien und Nordeuropa spezialisierten Kaufleute von Bordeaux mit Hilfe US-amerikanischer Handelshäuser und Reeder die Blockade ihres Handels durch die britisch-französischen Kriege nach 1793 umgingen, und stellt damit die überlebenswichtige Bedeutung internationaler Handelsnetzwerke heraus. (II.b) Der Umstand, dass keine der Parteien in den britischen Civil Wars im 17. Jahrhundert über eine ausreichende Bewaffnung und leistungsfähige Waffenschmieden verfügte und alle Seiten auf Waffenimporte angewiesen waren, bildet den Ausgangspunkt von Peter Edwards’ Untersuchung des internationalen Waffenhandels. Dabei konzentrierte sich nicht nur die Produktion der nach Großbritannien gelieferten Waffen auf Lüttich und Amsterdam, vielmehr wurde auch ein Großteil der Waffen aus anderen Regionen über Häfen der Vereinigten Provinzen geleitet, so dass niederländische Kaufleute gleichsam als Spinne im internationalen Netz des Waffenhandels agierten. Dass ihnen die Briten darin im 18. und 19. Jahrhundert nicht nachstanden, ist Gegenstand der folgenden Aufsätze. Asa Eklund, Chris Evans und Göran Rydén behandeln den britischen Handel mit Eisen und Metallwaren und stellen die Aktivitäten einiger Kaufleute heraus, die mit ihren Netzwerken den baltischen Raum via England an die großen atlantischen Handelsnetze banden. Jon Stobart untersucht den Aufbau, die Ziele und Funktionsweisen der Netze, die die Kaufleute von Chester spannen. Auch diesen ging um ”einträgliche” Informationen und Geschäftskontakte. Stobart betont aber, dass die Bekräftigung gemeinsamer Wertvorstellungen, Vertrauen und Reputation in solchen Netzwerken eine zentrale Rolle spielten. Wesentliche Faktoren seien in diesem Zusammenhang nicht nur Familie und Verwandtschaft, sondern auch die Übernahme öffentlicher Ämter in Assoziationen und städtischer Selbstverwaltung gewesen – Faktoren, die bei der Diffusion der kaufmännischen Netze auf der regionalen, nationalen und transnationalen Ebene ebenfalls von Bedeutung waren. Überdies kann Stobart zeigen, dass der Aufbau von Netzwerken mit einer gewissen Ökonomie der Mittel erfolgte. Ein fast durchweg auf Familienverbindungen beruhendes Kaufmannsimperium des 19. Jahrhundert führt Dittmar Dahlmann mit der Bremer Familie Knoop vor, in dessen Zentrum Ludwig Knoop stand, der nach seiner Lehrzeit in Manchester nach Russland ging und dorthin komplette Textilfabriken britischer Provenienz (zum Teil samt Personal) verkaufte sowie nach seiner Rückkehr nach Bremen zusätzlich eine Dependance in den USA ins Leben rief.

Das zweite Drittel der Aufsätze führt in der Tat in das Zentrum des Themenkomplexes, dem der Aufsatzband gewidmet ist. Einzig der Beitrag von Adrian Jarvis, der sich mit den Direktoren des Liverpooler ‘Mersey Dock & Harbour Board’ beschäftigt, fällt aus dem Rahmen und hätte allenfalls in einem Band zu den Problemen ehrenamtlicher Verwaltung seinen Ort finden können. Von dieser Ausnahme abgesehen wird hier die ganze Vielfalt von Strategien und Praktiken entfaltet, mit denen Kaufleute in der frühmodernen Globalisierung agierten. Man sollte die Beiträge von Ojala und Stobart, die jeweils die grundlegenden Aspekte der Konstruktion, Funktionsweise und des Nutzens von Netzwerken auffächern, zuerst lesen und im Hinterkopf behalten, ehe man zu den übrigen Fallstudien dieses Kapitels fortschreitet.

(III.a) Der dritte Teil rückt die Funktion von Hafenstädten als Knotenpunkten in den Mittelpunkt und entpersonalisiert die Frage nach den Netzwerken wieder zugunsten struktureller und wirtschaftsgeografischer Überlegungen. In seiner Betrachtung des südostasiatischen Handels im 17. und 18. Jahrhundert plädiert Jürgen G. Nagel dafür, Hafenstädte als Knoten zu begreifen, die mehrere Netze miteinander verknüpfen – in diesem Falle also etwa diejenigen der Niederländer, der Chinesen und der indigenen Handeltreibenden. Auf diese Weise könne man zu einer angemesseneren Antwort auf die Frage nach der Stärke oder Schwäche des europäischen oder indigenen Einflusses in der Region gelangen. Das System von Seestädten an der Nordostküste Englands und seine Verknüpfung mit dem von Schwerindustrie geprägten Hinterland entlang den Flusssystemen während des späten 19. Jahrhunderts beschreibt Graeme J. Milne auf eindrucksvolle Weise. Diesen eher wirtschaftsgeografischen Ansatz ergänzt Milne im zweiten Teil seines Aufsatzes um die Untersuchung der verschiedenen Interessen, ihrer Träger und ihrer Institutionen, die in diesem Wirtschaftsraum aufeinander stießen. Dabei wird deutlich, dass den Hafenstädten die Rolle als Scharnier zwischen den Industrien des Hinterlands und den sich wirtschaftlich fulminant entwickelnden Regionen des nördlichen Europa zukam. Dem Thema der Stadt-Umland-Beziehungen widmet sich W. Robert Lee in einer geradezu schulbuchmäßigen Fallstudie zu Bremen im 19. Jahrhundert. Im Sinne der Stadtentwicklungs- und Urbanisierungsforschung geht Henk van Dijk darauf ein, wie sich Transportrevolution und die Veränderungen in Schiffbau und Güterumschlag auf die Veränderungen der europäischen Hafenstädte selbst auswirkten.

(III.b) Dass St. Petersburg seinen Aufstieg zur führenden Wirtschaftsmetropole des russischen Zarenreichs zu einem nicht unerheblichen Teil ausländischen Investoren, vor allem deutschen Unternehmen und Unternehmern, verdankte, zeigt Eva-Maria Stolberg in einer tour d’horizon. Indem Sharon Rodgers die heftigen Konflikte um die Etablierung eines Marktes im Boston des 17. und 18. Jahrhunderts darstellt, macht sie darauf aufmerksam, dass diese im Allgemeinen für so selbstverständlich angesehene Infrastruktur einer Hafen- und Handelsstadt in den außereuropäischen Kolonien überhaupt erst geschaffen werden musste. Den Abschluss des Bandes bildet der anregende, vielleicht ein bisschen zu undifferenziert argumentierende Aufsatz von Sam A. Mustafa, der die These vertritt, dass die deutschen und nordamerikanischen Hafenstädte zwischen 1770 und 1830 untereinander mehr Gemeinsamkeiten hatten als mit ihrem jeweiligen Hinterland. Damit bezieht er sich vor allem auf die Regierungsformen, die eine Oligarchie aus Kaufleuten und Juristen begünstigte, sowie auf eine von Freihandel und Kosmopolitismus geprägte Mentalität und stützt seine These durch die Wahrnehmung Hamburgs durch New Yorker Kaufleute (und vice versa) sowie die Aspekte von Verflechtung und Austausch auf kulturellem Gebiet.

Dieses letzte Drittel der Aufsätze vertieft noch einmal einige Gesichtspunkte und Themen des zweiten Kapitels und bereichert sie um weitere Facetten. Doch ist nicht zu übersehen, dass die Beiträge recht heterogen sind, nicht immer (und manchmal nur mit Mühe) den Anschluss an das zentrale Thema des Bandes gefunden und die Herausgeber bei dem Versuch, eine sinnvolle Gliederung zu entwickeln, in Verlegenheit gebracht haben.

Die letztgenannten Einwände gelten eigentlich für den gesamten Tagungsband Anzumerken ist schließlich, dass dem einen oder anderen der durchweg auf Englisch geschriebenen Aufsätze eine professionelle Überarbeitung durch einen Muttersprachler gut getan hätte. Leider sind Geldgeber, die die Drucklegung finanzieren, nur selten davon zu überzeugen, dass Internationalität – obwohl gewünscht und von großem Nutzen – zusätzliche Kosten verursacht.

Gleichwohl – und hierin liegt eine große Stärke des Buches – entsteht ein facettenreiches Bild der Praktiken und Probleme des Fernhandels und damit der Globalisierung vor der Globalisierung, das überdies veranschaulicht, dass die wirtschaftsgeschichtliche Forschung erheblich von sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen profitiert und auf welchen Wegen es sich lohnt weiterzuarbeiten. Das Netzwerkparadigma wirkt jedenfalls inspirierend.

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