J. F. Reiter: Entstehung und staatsrechtliche Theorie

Titel
Entstehung und staatsrechtliche Theorie der italienischen Carta del Lavoro.


Autor(en)
Reiter, Julius F.
Reihe
Rechtswissenschaftliche Reihe, Band 316
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 56.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Stübler, Leipzig

Die Carta del Lavoro 1, mit der sich Julius F. Reiter in seiner jetzt gedruckt vorliegenden Dissertationsschrift (Humboldt-Universität zu Berlin, 2005) befasst hat, wurde vom Großrat des Faschismus am 21. April 1927 in Rom beschlossen. Die Durchführungsbestimmungen folgten erst in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre, als sich das Regime mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise auseinandersetzen musste. Benito Mussolini und die Seinen feierten die Carta als „Richtschnur für die gesamte soziale Gesetzgebung“. Mussolini hatte „das Modell des faschistischen korporativen Ständestaates“ in bewusster Auseinandersetzung mit dem kollektivistischen sozialistischen und dem individualistischen liberalen Staat entwickelt. Im Korporativstaat sollte der homo oeconomicus zum homo corporativismus umerzogen werden, d.h. der faschistische Idealtypus des arbeitenden Menschen hervorgebracht werden (S. 354). Die mit der deutschen Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus vertrauten LeserInnen erinnern diese Vorstellungen an das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, der Magna Carta der Betriebsverfassung im „Dritten Reich“ vom 20. Januar 1934. Reiter zieht den Vergleich auch, ohne die bezeichneten äußerlichen Unterscheidungen auf dahinter liegende grundsätzliche Differenzen abzuklopfen: In Deutschland dauerte es nur drei Monate bis zur Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung (2.5.1933) und gerade ein Jahr, bis der Tatbestand gesetzlich fixiert war (20.1.1934); in Italien fast fünf Jahre. In Deutschland gab es seit Mai 1933 überhaupt keine Gewerkschaften mehr, auch keine nationalsozialistischen; in Italien existierten faschistische (Schein-)Gewerkschaften fort, und ihre Existenz beschwor gelegentlich Konflikte mit der faschistischen Partei bzw. mit dem Ministerium für Korporationen herauf, da die unüberwindbaren Klassengegensätze nolens volens aufbrachen (Die Industriellenverbände, die Confindustria bzw. der Reichsverband der deutschen Industrie und die Reichsgruppe Industrie existierten hier wie dort als straff organisierte Interessenvertretung der Besitzenden weiter.). Und schließlich: In Deutschland stand am Ende ein die Gerichte verpflichtendes Gesetz (20.1.1934); in Italien eine (juristisch unverbindliche) Zusammenstellung von Erklärungen (dichiarazioni).

Reiter hat eine rechtshistorische Arbeit vorgelegt. Nach Auffassung des Autoren betrifft das „übergeordnete Thema ein juristisches wie geschichtliches Phänomen in Italien“ (S. 15). Dementsprechend gliederte er die Monografie. Er beginnt mit „historischen und soziokritischen Betrachtungen der Arbeitsverhältnisse in Italien“ ( S. 21-106 ). Da sich der Faschismus in seinem „Staats-, Volks- und Wirtschaftsverständnis auf die 2000jährige Tradition der Apenninenhalbinsel seit der Antike“ berief, greift Reiter gleichermaßen weit zurück, wohl um die LeserInnen die faschistische Argumentationslinie verständlich zu machen. Ausführlich erörtert er Gabriele D’Annunzios „Carta della Reggenza Italiana del Carnaro“ als die „unmittelbare Vorgängerin der Carta del Lavoro“ (S. 78). Im dritten und im vierten Kapitel widmet sich Reiter den juristischen Vorarbeiten zur Carta del Lavoro, d.h. der „Juristischen Disziplin der kollektiven Arbeitsgesetze“ (Gesetz vom 3.4.1926) und den „Normen zur Anwendung des Gesetzes vom 3. April 1926“, die eine Königliche Verordnung vom 1. Juli 1926 festlegte. (S. 167-200 bzw. 201-224). Das folgende Kapitel „Die Carta del Lavoro“ umfasst etwa ein Drittel der Monografie (S. 225-352). Es beinhaltet eine ausführliche Textanalyse, eine Darstellung der angestrebten Ziele und die Beschreibung des Einflusses, den die Carta del Lavoro auf das Sozial- und Staatsrecht gehabt hat.

In den Vorbemerkungen stellt der Autor die Tatsache fest, dass nach dem Zweiten Weltkrieg weder in Italien noch in Deutschland die Carta del Lavoro besonderes wissenschaftliches Interesse gefunden hat, geschweige denn „der historische Bezug im juristischem Sinne“ zum Thema einer selbständigen wissenschaftlichen Arbeit gemacht worden ist (S. 15). Seine Überlegungen, warum das so ist, breitet Reiter nicht aus. Mir scheint es daran zu liegen, dass die Carta del Lavoro zwar wichtige, ergänzende Auskünfte über die Vorstellungswelt der italienischen Faschisten gibt: über ihren Antimarxismus und Antibolschewismus und über ihren Antiliberalismus, über den Versuch, einen dritten, einen „nationalen“ Weg zwischen den beiden Weltsichten zu begründen. In der politischen Praxis blieb das Konstrukt allerdings weitestgehend wirkungslos. Selbst die Diskussionen unter den Faschisten, die ihren Höhepunkt auf dem Kongress in Ferrara (5.- 8. Mai 1932) fanden, beeinflussten die Ausgestaltung der Carta del Lavoro nicht. Die Realität des Polizeistaates dominierte die Gestaltung der Beziehungen zwischen den Klassen in der faschistischen Gesellschaft und nicht der Mythos des Korporativstaates.

Anmerkungen:
1 Deutsch bei: Wagenführ, Horst, Korporative Wirtschaft in Italien. Volk und Wirtschaft (Neue Lesestücke zur Politischen Ökonomie, 2) Berlin 1934. Deutsch und italienisch bei: Heinrich, Walter, Der Faschismus. Staat und Wirtschaft im neuen Italien, München 1932.

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