H. Seidel u.a. (Hgg.): Zwangsarbeit im Bergwerk

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Titel
Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiet im Ersten und Zweiten Weltkrieg


Herausgeber
Seidel, Hans; Tenfelde, Klaus
Erschienen
Anzahl Seiten
1614 S. in 2 Bd.
Preis
€ 79,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Pöppinghege, Historisches Institut, Universität Paderborn

Die jüngere Forschung hat die Allgegenwart von Zwangsarbeit in den meisten Wirtschaftsbranchen des Deutschen Reichs aufgezeigt. Vielfach ging es dabei um die Frage nach den Handlungsspielräumen der beteiligten Betriebe, die bis vor kurzem noch ungeprüft vorgeben konnten, die Zwangsarbeiter seien ihnen quasi aufgedrängt worden. Inzwischen liegen differenziertere Ergebnisse – hauptsächlich Lokalstudien – vor, die die Unternehmen keineswegs von der Verantwortung freisprechen, jedoch mehr das Mit- und Gegeneinander von Partei, Verwaltungen und Wirtschaft beleuchten. Dabei sind sowohl die zunächst freiwillig im Reich tätigen ausländischen Arbeitskräfte ins Blickfeld genommen worden als auch ausländische Kriegsgefangene und die zwangsweise vorwiegend aus Osteuropa nach Deutschland deportierten ArbeiterInnen. Oft beziehen sich die vorliegenden Studien auf einzelne Betriebe oder Kommunen bzw. Regionen. Eine gesamte Branche zu untersuchen ist einigermaßen innovativ. Eine davon, in der Hunderttausende von ausländischen Arbeitern arbeiten mussten, war der Bergbau. Allein im Ruhrkohlebergbau waren 350.000 Ausländer beschäftigt, im gesamten deutschen Steinkohlebergbau betrug der Ausländeranteil zu Spitzenzeiten rund 40 Prozent der Gesamtbelegschaft. Allein diese Zahlen belegen eindrucksvoll das Ausmaß des „Fremdarbeitereinsatzes“. Die heutige Ruhrkohle AG fühlte sich moralisch verpflichtet, „die unabhängige wissenschaftliche Erforschung der Zwangsarbeit“ voranzutreiben und beauftragte das unter Leitung von Prof. Dr. Klaus Tenfelde stehende Institut für soziale Bewegungen der Ruhruniversität Bochum in Kooperation mit dem Bochumer Bergbauarchiv mit den umfangreichen Recherchen zu der vorliegenden Publikation.

Herausgekommen ist ein zweibändiges Standardwerk – bestehend aus einem Forschungs- und einem Quellenband –, das erstmals eine so wichtige Industriebranche wie den Kohlebergbau in seiner ganze Breite untersucht und zentrale Quellen dokumentiert. Neben einem einleitenden Artikel zum Forschungsstand enthält der Forschungsband 18 Aufsätze, die durch Inhaltsangaben – in zuweilen abenteuerlichem Englisch – erschlossen werden können. Erwartungsgemäß kann der Leser auf ein umfangreiches Personen-, Orts-, Institutionen- und Firmenregister zurückgreifen, ein Glossar bergmännischer Fachtermini eröffnet darüber hinaus auch dem Laien Einblicke in die Arbeitswelt unter Tage. Eine gut recherchierte Auswahlbibliografie rundet den positiven Gesamteindruck des Forschungsbandes und der Quellenedition ab. Die Aufsätze geben einen Überblick über den Ausländereinsatz im Bergbau – sowohl im Deutschen Reich als auch in den während des Zweiten Weltkrieges besetzten Gebieten. So werden selbst kleinere Fördergebiete wie die Saar und Sachsen einbezogen. Von den besetzten Gebieten sind dies u.a. Slowenien, die Niederlande und die Sowjetunion. Betrachtet wird neben dem Stein- auch der Braunkohlebergbau.

Beim Thema Zwangsarbeit stellt sich auch im Bergbau die Frage nach der Handlungsfreiheit der Unternehmen: viele Geschäftsleitungen zeichneten sich zunächst durch Skepsis und Zurückhaltung aus. Die Gründe hierfür unterschieden sich nicht sonderlich von jenen in anderen Branchen. Man befürchtete disziplinarische Probleme und erwartete – meistens zu Recht – einen Rückgang der Produktivität. Seit 1942, so die Kernthese, mangelte es den Unternehmen jedoch an Optionen, wollten sie ihre Fördermengen nicht drastisch sinken lassen. Damit waren dem massenhaften zwangsweisen Einsatz von ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen Tür und Tor geöffnet. Die Untersuchung und die vorzüglich edierten Dokumente erlauben den Blick in ein mörderisches Ausbeutungs- und Vernichtungssystem und dessen innere Widersprüche. Wer wann welche Kompetenzen beanspruchte, ist auch hierbei von Belang und belegt einmal mehr den polykratischen Charakter des Dritten Reiches. Das Werk ist einem strikt wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ansatz verpflichtet, kulturgeschichtliche Fragen werden nicht berührt. Dies zeigt sich auch an der Auswahl der Dokumente: Immer sind es die Quellen der „Täter“ in Politik, Unternehmen und Verwaltungen, die „Opferperspektive“ der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen bleibt ausgeklammert. Ihre Lebenssituation erschließt sich nur mittelbar aus den Quellen beispielsweise der Betriebsleitungen.

Der Reiz der Beiträge liegt im hohen Grad der Vergleichbarkeit der einzelnen Beiträge, die sich für die Zeit des Zweiten Weltkriegs sowohl mit den Bergbauregionen im Altreich als auch in den besetzten Gebieten befassen. Dabei kommt entsprechend seiner wirtschaftlichen Bedeutung dem Ruhrbergbau eine besondere Bedeutung zu, wie Hans-Christoph Seidel in seinem Beitrag verdeutlicht. Er identifiziert das Jahr 1942 als jenen Zeitpunkt, der eine deutliche quantitative Dynamik hinsichtlich des Ausländereinsatzes markierte. Bis zum Kriegsende wuchs der Anteil der Ausländer unter den Belegschaften auf nahezu 40 Prozent, was einer „deutlich überproportionalen Ausländerbeschäftigung im Ruhrbergbau“ (Bd. 1, S. 151) auch im Vergleich mit anderen schwerindustriellen Branchen entsprach. Freilich erwuchsen den Zechen dadurch erhebliche Disziplin- und Motivationsprobleme, so dass die Produktivität insbesondere der russischen Arbeiter unter derjenigen der deutschen Kollegen blieb. Eng hieran gekoppelt war die Frage der Behandlung der Ausländer, die, so Seidel, in kleineren Betrieben in der Regel besser war als in den unpersönlichen Großbetrieben (Bd. 1, S. 157). Mit Problemen anderer Art hatten die deutschen Besatzer beispielsweise in Slowenien zu kämpfen, wie Sabine Rutar zeigt. Parallel zur wirtschaftlichen Ausbeutung betrieben die Deutschen eine mehr oder minder konsequente Volkstumspolitik, die jene als „germanisierungsfähig“ erachtete slowenische Minderheit einigermaßen pfleglich behandelte – während die nicht „eindeutschungsfähigen“ Einwohner kurzerhand umgesiedelt bzw. für den Arbeitseinsatz im dortigen Braunkohlebergbau vorgesehen wurden. Allein diese Konstellation ließ Inkonsistenzen und innere Widersprüchen zwischen wirtschaftlichem Ausbeutungsanspruch und Germanisierungspolitik erkennen. Dabei führten beide Varianten des Herrschaftsanspruchs zu einem identischen Ergebnis: Die anti-deutsche Stimmung wuchs, so dass die Besatzer immer häufiger Sabotageakte auf den Zechen registrieren mussten.

Den Anspruch, eine „vergleichende Perspektive“ beider Weltkriege (S. 26) einzunehmen, kann das Werk angesichts seiner quantitativen Gewichtung nicht einlösen. Wenn der Untertitel eine Darstellung des Arbeitseinsatzes im Kohlenbergbau „im Ersten und Zweiten Weltkrieg“ ankündigt, dann muss die Tatsache überraschen, dass lediglich zwei [!] von 18 Aufsätzen dem Ersten Weltkrieg gewidmet sind. Im Dokumententeil wird diese Diskrepanz noch deutlicher: Ganze sechs [!] Dokumente wurden zum Ersten Weltkrieg zusammengetragen, die restlichen 399 entfallen auf die Zeit des Dritten Reiches! Dieses bedauerliche Ungleichgewicht mag durchaus der unbefriedigenden Quellenlage für die Zeit von 1914-1918 und natürlich der unterschiedlichen Bedeutung des Arbeitseinsatzes in den beiden Weltkriegen geschuldet sein, lässt den Leser aber doch einigermaßen ratlos zurück. Um tatsächlich einen Vergleich anzustellen oder gar Ulrich Herberts 1 These von der „Lernfähigkeit“ der Nationalsozialisten in Fragen des Ausländereinsatzes zu untersuchen, bedarf es weiterer Forschungen insbesondere zum Ersten Weltkrieg, so verdienstvoll und qualitativ hochwertig die beiden Aufsätze zum Einsatz belgischer Arbeiter an der Ruhr 1914-1918 auch sind. Abgesehen davon suggeriert die von den Herausgebern vorgenommene Gewichtung, der Erste Weltkrieg sei lediglich als „Aufgalopp“ für den Zweiten zu erachten und entbehre einer eigenen historischen Legitimität. Klammert man diese Kritik aus, so ist für die Zwangsarbeit in den Bergwerken unter den Nationalsozialisten aber zweifellos ein Standardwerk vorgelegt worden, das künftige Forschungen über Jahre hinaus befruchten dürfte.

Anmerkung:
1 Herbert, Ulrich, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1999, bes. S. 27-40.

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