Titel
Stalins Tochter. Das Leben der Swetlana Allilujewa


Autor(en)
Schad, Martha
Erschienen
Bergisch Gladbach 2004: Verlagsgruppe Lübbe
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Britz

Wer heutzutage durch große Buchhandlungen mit einem reichhaltigen Sortiment an historischer Literatur schlendert, der wird zwangsläufig auf ein ständig anwachsendes Angebot an sowohl fach- als auch populärwissenschaftlichen Biografien stoßen. Mittlerweile erhalten auch solche Persönlichkeiten eine Lebensbeschreibung, die nur deshalb als biografiewürdig angesehen werden, weil sie ihr Leben oder einen Teil desselben in der Nähe (oft auch: im Schatten) einer herausragenden historischen Gestalt verbracht haben. In diese Kategorie fallen Biografien über die Ehefrauen, Töchter, Mätressen, Musen und Sekretärinnen bedeutender Männer. Werke dieser Art bilden einen besonders in jüngster Zeit üppig blühenden Seitenzweig am Baum der Populärbiografik. Martha Schad, eine vielseitige und produktive Autorin, hat jetzt nach diversen biografischen Arbeiten, u.a. über die bayerischen Königinnen und Kaiserin Elisabeth von Österreich, ein Buch über Stalins Tochter Swetlana Allilujewa vorgelegt.

Zumindest für HistorikerInnen, die sich mit der Geschichte der Sowjetunion befassen, ist die 1926 geborene Swetlana Allilujewa keine Unbekannte. Obgleich ihr nach 1953 aus der Tatsache, Stalins Tochter zu sein, keine Nachteile erwuchsen, empfand sie die Last ihrer Herkunft so schwer, dass sie sich 1957 entschloß, den Namen des Vaters abzulegen und den Mädchennamen ihrer Mutter anzunehmen. Dessen ungeachtet bestimmten auch weiterhin (äußerliche) Anpassung an das System und Loyalität gegenüber der Parteiführung ihr Leben. Einige Jahre später trat sie dann aber gleich zweimal auf spektakuläre Weise ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit: Im Frühjahr 1967 nutzte sie einen Aufenthalt in Indien, um die Sowjetunion zu verlassen und in die USA auszureisen. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte Swetlana den Memoirenband „Zwanzig Briefe an einen Freund“, der in Amerika und Westeuropa zum umjubelten Bestseller wurde und seine Autorin über Nacht zur Millionärin machte (später folgten zwei weitere Bände, die aber weniger Beachtung fanden). Daraufhin entfachte die sowjetische Führung im In- und Ausland eine wüste Hetzkampagne und versuchte Swetlana als mannstolle Geisteskranke hinzustellen, der man keinen Glauben schenken dürfe. Das Memoirenwerk bot zwar keine nennenswerten Enthüllungen über Stalins Herrschaftspraxis, von der Swetlana als Kind und junge Frau kaum etwas mitbekommen hatte, eröffnete dafür aber ganz neuartige Einblicke in das Familienleben Stalins. Es befriedigte die Neugier von JournalistInnen, KremlastrologInnen und HistorikerInnen, die bis dahin kaum verlässliche Informationen über das Privatleben des sowjetischen Diktators besessen hatten und ihn als Menschen nur schwer einzuschätzen vermochten, weil es an Zeugnissen aus erster Hand fehlte. Namentlich in der Stalinbiografie von Robert Tucker hat das durchaus kritisch gehaltene Bild, das Swetlana von ihrem Vater und besonders von seinem rachsüchtigen, krankhaft misstrauischen Wesen entwarf, markante Spuren hinterlassen. Schad, die aus den Memoiren eifrig zitiert, sie aber nirgends einer zusammenfassenden Würdigung unterzieht und auf ihren Wert als Quelle hin befragt, hätte nicht unerwähnt lassen sollen, dass Swetlanas Buch von vielen Zeitgenossen als nötige, überfällige Korrektur zu dem geschönten Stalinbild aufgefasst wurde, das beispielsweise Churchill in seinen Kriegserinnerungen gezeichnet hatte.

An der Rezeption von Swetlanas Memoiren seitens der Geschichtswissenschaft ist Schad ohnehin nicht interessiert. Ihr Hauptaugenmerk gilt Swetlanas Privatleben, ihrer Kindheit, dem erst innigen, später angespannten Verhältnis zum Vater, den familiären Tragödien (Selbstmord der Mutter, Liquidierung von etlichen Verwandten), ihrer Schul- und Studienzeit, ihren vier kurzlebigen Ehen und oft unglücklich verlaufenden Herzensangelegenheiten, ihrem wechselvollen Schicksal nach der Ankunft in Amerika, ihrer Suche nach dem rechten Glauben (Swetlana ließ sich 1962 in Moskau taufen und konvertierte 1982 zum Katholizismus. Zeitweise spielte sie sogar mit dem Gedanken, den Schleier zu nehmen). Das alles ist – zumindest aus Sicht des Historikers – ohne zeitgeschichtliche Relevanz, wird aber ausführlich und in einem Tonfall erzählt, der blumige und sentimentale Nuancen nicht scheut („Eine glückliche Kindheit bringt Licht und Harmonie für ein ganzes Leben“, S. 55). Schad legt wenig kritische Distanz gegenüber ihrer Heldin an den Tag. Über weite Strecken gibt sie einfach das wieder, was Swetlana in ihren beiden Büchern „Zwanzig Briefe an einen Freund“ und „Das erste Jahr“ über ihr Leben berichtet hat. Der Leser könnte also auf die Lektüre der Biografie getrost verzichten und stattdessen gleich zu Swetlanas Bekenntnissen greifen. Die Distanzlosigkeit gegenüber den Memoiren und mündlichen Verlautbarungen geht so weit, dass Schad eine 1991 von Swetlana geäußerte Behauptung, Stalin sei ein geborener Heerführer und „der einzige Mann“ an der Spitze der Roten Armee gewesen, ohne jeden relativierenden Kommentar zitiert (S. 74). Vielfach beschreibt Schad Gedanken und Empfindungen Swetlanas, ohne dass klar wird, auf welche Belege sich diese Angaben eigentlich stützen. Problematisch ist auch der Umgang mit anderen Quellen. Dazu gehört das dubiose und sensationsheischende Buch des nach Amerika geflohenen NKWD-Agenten Alexander Orlow, „The Secret History of Stalin’s Crimes“ (1954). Orlow hatte niemals persönlichen Umgang mit Stalin, und was er über das Privatleben des Diktators schreibt, beruht daher bestenfalls auf Hörensagen. Als seriöse Quelle kommt sein Buch längst nicht mehr in Betracht.

Dürftig und unbefriedigend sind Schads Ausführungen immer dann, wenn sie sich nicht auf unmittelbare Aussagen Swetlanas stützen kann. Die 13 Jahre zwischen Stalins Tod und Swetlanas Weggang aus der Sowjetunion bestreitet Schad im We sentlichen mit Ausführungen über das Privatleben ihrer Heldin im engeren Familienkreis. Gerade das ist es aber nicht, was an Stalins Tochter in erster Linie interessieren sollte. Mehrfach werden „intellektuelle Freunde“ erwähnt, mit denen Swetlana Umgang pflegte (S. 100, 166). Diese Freunde bleiben aber zu schemenhaft, als dass sich behaupten ließe, Stalins Tochter habe möglicherweise in regimekritischen Kreisen verkehrt. Namentlich genannt wird nur der Dichter Sinjawskij. Auch Swetlanas berufliche Tätigkeit im Verlagswesen und in einem Literaturinstitut erfährt nur eine knappe Erwähnung. Es entsteht der irreführende Eindruck, Swetlana habe jahrelang ein unauffälliges Hausfrauendasein geführt. Wie und ab wann vollzog sich der langwierige Prozess der Selbstfindung, der damit begann, dass Swetlana erst ihre eigene schmerzliche Familiengeschichte aufarbeitete, in der Abkehr von den Verheißungen der marxistischen Ideologie seine Fortsetzung fand und schließlich in der Erkenntnis gipfelte, dass das Leben in der Sowjetunion unerträglich geworden war? Schads Angabe, Swetlana habe schon als Schülerin, schon während des Krieges das sowjetische System kritisiert (S. 85), verdient mit Skepsis aufgenommen zu werden, denn die materiell gut versorgte und von den Widrigkeiten des normalen Alltagslebens abgeschirmte junge Frau kannte von ihrem Land kaum mehr als den Kreml und die Datschen ihres Vaters. Da Schad den zeitgeschichtlichen Hintergrund nahezu vollständig ausblendet, bleibt es den LeserInnen verborgen, wie die Aufbruchs- und Erneuerungsstimmung, die sich nach dem XX. Parteitag der KPdSU zumal der jüngeren Generation bemächtigt hatte, im Laufe der Chruschtschow-Jahre in Desillusionierung und Frustration umschlagen konnte. Swetlana stand mit ihrer Enttäuschung nicht allein; nur bot sich ihr im Gegensatz zu vielen anderen Unzufriedenen unverhofft die Möglichkeit, durch ihre Ausreise in den Westen ihrer Ablehnung gegenüber dem System unmissverständlich Ausdruck zu verleihen. Sie war kein Einzelfall, wird aber von Schad ungewollt als solcher dargestellt. Das Umfeld, in dem sich Swetlana in Moskau bewegte, hätte genauer untersucht werden müssen, denn vor allem durch die Begegnungen und Kontakte mit gebildeten, gesellschaftlich engagierten Angehörigen ihrer eigenen Generation dürfte aus der privilegierten Tochter Stalins allmählich eine selbständig und kritisch denkende Frau geworden sein, die für sich keine Zukunft in der Sowjetunion sah.

Insgesamt hat Schad ein einigermaßen brauchbares Lebensbild Swetlana Allilujewas vorgelegt. Ein knapp gehaltener biografischer Essay, zugespitzt auf Swetlanas gesellschaftliche Kontakte in den 1950er und 1960er-Jahren, die in den Memoiren vollzogene Auseinandersetzung mit dem Vater und die Ausreise in den Westen, wäre eine bedenkenswerte Alternative zu diesem umfangreichen Buch gewesen, das sich zu oft im Privat- und Liebesleben seiner Protagonistin verliert. Swetlana Allilujewa lebt heute zurückgezogen in Wisconsin. Seit längerer Zeit schon gibt sie keine Interviews mehr. Erst nach Veröffentlichung ihres Buches ergab sich für Martha Schad die Gelegenheit, Swetlana besuchen und interviewen zu können. Es entstand ein Film, der in der ARD ausgestrahlt werden soll. Es bleibt zu hoffen, dass Schad in ihrem Interview Fragen gestellt hat, die sie in der Biografie nur anschneiden oder gar nicht behandeln konnte. Und damit sind nicht Fragen über Swetlanas Privatleben und ihre vier Ehen gemeint, sondern über ihre weltanschauliche und religiöse Selbstvergewisserung während der Ära Chruschtschow und ihren Weg zu dem Entschluss, die Sowjetunion zu verlassen.

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