G. Höpp u.a. (Hgg.): Blind für die Geschichte?

Cover
Titel
Blind für die Geschichte?. Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus


Herausgeber
Höpp, Gerhard; Wien, Peter; Wildangel, René
Reihe
ZMO-Studien 19
Erschienen
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Meyer zu Uptrup, Arbeitsstelle für Gedenkstättenpädagogik, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Potsdam

Weniger aufgrund kultureller Neugier, eher wegen fataler politischer Entwicklungen rückte der arabisch-islamische Kulturkreis in den letzten Jahren verstärkt in den Focus des öffentlichen Interesses in Europa und Amerika. Die öffentliche Kommunikation folgt seit einer Reihe von großen terroristischen Anschlägen einigen Grundmustern, zu denen die potenzielle terroristische Gefahr durch muslimische Extremisten ebenso gehört, wie das durch die UN bestätigte geringe Bildungsniveau in arabischen Staaten. Im Kontext des israelisch-arabischen Konfliktes stellt die Rezeption der NS-Verfolgungsgeschichte ein zentrales Moment der ideologischen Selbstrechtfertigung verschiedener Gruppen dar. Daher auch der Titel “Blind für die Geschichte”, resultierend aus der Beobachtung, dass Hitlers Buch “Mein Kampf” in arabischen Ländern neu verlegt, die arabische Kollaboration mit den Nazis gerechtfertigt und zugleich die Judenvernichtung geleugnet wurde.1

Direkt nach dem II. Weltkrieg beklagten sich arabische Nationalisten und die neu gegründete Arabische Liga, dass die Araber Palästinas nicht für die Judenverfolgung durch einen Verlust Palästinas büßen sollten. Doch waren sich manche arabischen Politiker darüber im Klaren, dass die Sympathie der Mandatsmacht England bei den Opfern Hitlers lag, der eben noch London bombardiert hatte, und weniger bei arabischen Repräsentanten, die für den Sieg der Achsenmächte gebetet hatten. In dieser Hinsicht war die mitunter überbewertete Rolle des “Großmuftis” von Jerusalem, der die Kriegsjahre in inniger Freundschaft mit Hitler und Himmler in Berlin verbrachte, fatal für die arabischen Interessen nach 1945. Die Berliner Partner einte ihre Feindschaft gegen “die Juden” und der gemeinsame Glauben an eine “jüdische Weltverschwörung”.

In dem anzuzeigenden Sammelband stehen Studien zu Einzelaspekten (wie Driss Maghroui, ‘Den Marokkanern den Krieg verkaufen’. Französische Anti-Nazi Propaganda während des Zweiten Weltkrieges, oder die Darstellung der vergleichsweise sehr kleinen Gruppe von arabischen Opfern des Nationalsozialismus von Gerhard Höpp) neben Aufsätzen, die gleichsam ins Zentrum aktueller Konflikte zielen: unvereinbare Kulturen der Erinnerung und mit diesen begründete unvereinbare politische Ansprüche bei maximalem Misstrauen und Feindschaft.

Zu den Überraschungen des Bandes zählt eine Untersuchung über die ägyptische Zeitschrift “Al-Hilal”, die im Sommer 1934 der Judenverfolgung in Deutschland mehrere umfangreiche Artikel widmete und auf den Genozid an vier Millionen Armeniern verwies, als “der schrecklichste und verabscheuungswürdigste Mord in der Geschichte der modernen Zivilisation”. Dieser Völkermord, dessen Dimension realiter etwa anderthalb Millionen Opfer forderte, war Al-Hilal Vorbild und klares Vorzeichen dessen, was dem jüdischen Volk drohe, wenn es weiterhin Ziel und Opfer des aggressiven und rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten bliebe. Wer hat das so klar ein Jahr nach der “Machtergreifung” in einem meinungsbildenden internationalen Presseorgan formuliert? Nur in Wien schrieb Irene Harand, 1935 in einer Broschüre, den Juden Deutschlands drohe die “restlose Vernichtung”.2 Jedoch ist die Einordnung der drohenden Judenvernichtung in Europa in den historischen Zusammenhang von “Genoziden” von großer Hellsichtigkeit. Die Zeitschrift Al-Hilal, herausgegeben von aus dem Libanon nach Ägypten emigrierten Christen, erschien in einer Auflage von ca. 40.000 Exemplaren und beeinflusste den intellektuellen Diskurs im gesamten arabischen Osten. Damit ist aber auch schon gleich die Begrenztheit erkennbar: die Auflage war im Bezug auf den Verbreitungsraum doch recht klein. Der Beitrag von Israel Gershoni (Tel Aviv University) ist einer der spannendsten, da er das Bild einer differenzierten arabischen Kulturschicht zeichnet, die hier in Europa selten wahrgenommen wird.

Jedoch war Al-Hilal wohl nur eine von wenigen modernen Oasen in der Wüste. Gershoni relativiert die intellektuelle Szene Ägyptens nicht, indem er z.B. auf Hassan al Banna verwies, der zu gleicher Zeit die Muslimbruderschaft gründete, die schnell mehr Anhänger hatte als Al-Hilal Leser und maßgeblich dazu beitragen sollte, die humanistischen, liberalen und modernen Ansätze in arabischen Gesellschaften zu zerstören. Desiderat bleibt eine Darstellung der Kooperation zwischen Agenten von Nazi-Deutschland und der Muslimbruderschaft und ihrer ideologischen Einflüsse aus dem außerarabischen Raum.3

René Wildangel widmete sich der arabischen Öffentlichkeit im palästinensischen Mandatsgebiet während des II. Weltkrieges. So richtig seine Feststellung sein mag, dass das Bild “arabischer Massen in Palästina, die auf den Sieg der Achsenmächte hofften”, ein “Zerrbild” sei, so falsch ist es auch, eine relative Passivität der Araber zu suggerieren und den von diesen z.B. seit 1936 ausgehenden Terror als “Proteste” oder “Widerstand” zu bezeichnen (S. 119f.). Das wird dem komplexen Wechselspiel, arabischen Gruppierungen, der zionistischen Hauptströmung, zwischen den arabischen und jüdischen Terrororganisationen und der britischen Anti-Terror-Strategie kaum gerecht. Auf gleicher Linie liegt die kommentarlose Bezeichnung des Krieges von 1948 zwischen Israel und den Arabern als “Katastrophe” und damit der Übernahme der arabischen Sicht (S. 150).4 Hieraus wird deutlich, dass es sowohl in der damaligen Situation wie auch heute noch unmöglich scheint, sich des israelisch-arabischen Konfliktes ohne Parteinahme anzunehmen.

Wildangel räumte selbst ein, dass die Relevanz arabischer Schriften über und gegen den NS schwer einzuschätzen sei, dennoch sind die von ihm dargelegten arabischen Presseerzeugnisse aufschlussreich. Etwas genauer hätte die Unterstützung der Gruppierung “Al-Gamia al-islamiya” durch den deutschen Auslandsnachrichtendienst jedoch analysiert werden können, um die Entwicklung politischer und antisemitischer Einstellungen nachzuvollziehen. Welche Verbindung besteht zu der Gruppierung gleichen Namens, die seit den 1980er-ahren durch terroristische Aktivitäten traurige Berühmtheit erlangte? Mitunter sind theoretische Überlegungen und Definitionen, die z.B. aus der Soziologie oder politischen Psychologie gewonnen werden, für das Verständnis historischer Vorgänge hilfreich, mitunter nicht. Für letzteres lieferte Peter Wien ein Beispiel, der mit einem umfangreichen Begriffsarsenal auf Karl Mannheim und Michel Foucault zurückgreift und relativ magere Ergebnisse zu “Generationenkonflikt und totalitäre Tendenzen im Irak der dreißiger Jahre” gewinnt. Im Gegensatz erreicht Karin Joggerst mit der Hermeneutik von “kollektivem Gedächtnis” eine aufschlussreiche Darstellung in “Vergegenwärtigte Vergangenheit(en). Die Rezeption von Shoah und Nakba im isralisch-palästinensischen Konflikt”.

Joggerst verweist auf vergleichbare Strukturen in den Erinnerungskulturen Israels und der palästinensischen Araber, Ähnlichkeiten auch in der Nutzung von geschichtlichen Ereignissen zur nationalen Selbstdefinition. Leider klammert sie jedoch alle religiösen Elemente in ihrer Untersuchung aus. Sie sind jedoch zentral, wie schon ein Blick in die Charta der muslimischen Organisation “Hamas” lehrt. Desiderat ist auch eine angemessene Diskussion des Bewusstseins, das Recht, zumal “göttliches” Recht, auf seiner Seite zu haben, womit die arabische Seite ihren eigenen Terrorismus als “Widerstand” verklärt.

Fraglich ist zudem, ob die von Joggerst suggerierte Vergleichbarkeit der intellektuellen Kulturen der beiden Antagonisten angenommen werden kann. Hier scheint eher eine Asymmetrie an selbstkritischer Reflexionsfähigkeit zu konstatieren zu sein. Auf israelischer Seite ist mehr Realismus zu finden, auf arabischer Seite mehr die fatale Sucht, historische und politische Phänomene durch Verschwörungstheorien zu erklären, wobei die Fiktion der jüdischen Weltverschwörung zur arabischen idée fixe mutiert. Das wird auch in dem Beitrag von Götz Nordbruch über den “Nationalsozialismus als Thema aktueller Debatten in der ägyptischen Öffentlichkeit” deutlich. Nachdem in Ägypten, das eine Art Leitfunktion in den innerarabischen Intellektuellen-Debatten einnimmt, der “Holocaust” zunächst bis in die 1990er-ahre nicht thematisiert wurde, wird er nun vornehmlich als von den Zionisten erfundener Mythos bezeichnet. Zum Thema wird vor allem neonazistisch-revisionistische Literatur rezipiert und zitiert, wie die gerichtsnotorischen Leugner Roger Garaudy, David Irving und weiterer einschlägige Autoren und Institute. Anhand der Positionen arabischer Organisationen, die im Vorfeld der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban im August 2001, formuliert wurden, zeigte Nordbruch wie jene den Zionismus in einen Wiedergänger des Nationalsozialismus verwandelten als Ausdruck von Vernichtungsintentionen der westlichen, nicht-muslimischen Moderne. In der NS-Ideologie kulminiere der westliche Materialismus und der Verlust religiöser Werte. “Die Kritik des Nationalsozialismus dient hier nicht nur als Grundlage einer Denunziation des Zionismus, sondern insbesondere auch zur Abgrenzung gegenüber ‘dem Westen’. In der Übertragung dieser Charakteristika auf des ‘nazistische Israel’ ist der Nationalsozialismus schließlich Ausgangspunkt für Angriffe gegen Israel, das als modernster Repräsentant einer westlichen ‘Zivilisation der Vernichtung’ beschrieben wird.” (S. 288) Doch scheint sich diese wirre Argumentation auf intellektuell-politische Gruppierungen zu beschränken. Den arabischen Mainstream konnte die aufmerksame Welt in den letzten Wochen des Jahres 2005 lautstark durch den iranischen Präsidenten Ahmadineschad vernehmen, der den Holocaust als zionistischen Mythos bezeichnete und Israel von der Landkarte des Orients ausradieren möchte. Unterstützung folgte auf dem Fuße durch die ägyptische Muslimbruderschaft, der Organisation aus der sich alle muslimischen extremistischen und terroristischen Organisationen herleiten.

“Blind für die Geschichte” - das gilt für die arabische Welt im Großen und Ganzen wohl immer noch, da es in arabischen Ländern keinen mit europäischem Maßstab vergleichbaren kulturellen Konsens über die NS-Geschichte gibt, einige Ausnahmen machen dies sehr deutlich. Ein Missbrauch von Geschichte ist vielfach die Folge mit dem Versuch, mit aus der Geschichte abgeleiteten Argumenten aktuelle politische Forderungen zu untermauern.

Zusätzlich gibt es blinde Flecken in der Geschichtsschreibung. Das bezieht sich nicht nur auf die Ausklammerung radikaler, menschenfeindlicher und terroristischer Tendenzen in muslimischen Gesellschaften sondern auch z.B. auf eine Darstellung der Rezeption nationalsozialistischer Politikziele oder ideologischer Fragmente in der arabischen Welt damals und heute, die der LeserInnen in dem Band vermissen. Es wäre schon interessant zu wissen, welche Elemente der NS-Weltanschauung in arabische Politikvorstellungen flossen und z.B. die Ausbildung des aktuellen arabischen Antisemitismus beeinflussten. Auch sollte das Wirken ehemaliger Nazis in arabischen Staaten kritisch gewürdigt werden, von denen der Antisemitismus-Spezialist aus dem Reichspropagandaministerium Johann von Leers nur ein Beispiel ist, der nach 1945 als Berater des ägyptischen Präsidenten Nasser wirkte. Und: welchen Einfluss übte die NS-Ideologie auf die Konzeptionen muslimischer radikaler und terroristischer Gruppierungen aus?

Anmerkungen:
1 Fisk, Robert, Blind für die Geschichte, in: Die Zeit, 11. Oktober 1996.
2 Harand, Irene, Sein Kampf. Antwort an Hitler, Wien 1935, S. 338.
3 Hinweise bei: Küntzel, Matthias, Djihad und Judenhaß, Freiburg 2003, S. 35 u.ö.
4 Siehe jetzt: Segev, Tom, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, Berlin 2005 als eine recht ausgewogene Darstellung eines “neuen Historikers” aus Israel. “Katastrophe” bezieht sich auf den Begriff “Nakba”, mit dem arabische Palästinenser die Flucht und Vertreibung 1948 bezeichnen.

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