Titel
Luftmenschen und rebellische Töchter.


Herausgeber
Haumann, Heiko
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Svetlana Jebrak, Institut für Geschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die von Heiko Haumann herausgegebene Veröffentlichung über die größte jüdische Gemeinschaft der Welt des 19. Jahrhunderts – die Ostjuden – stellt eine wesentliche Bereicherung der Forschungslandschaft dar, insbesondere im Sinne einer Entmythologisierung der jüdischen Lebenswelten in Osteuropa. Die Autorinnen Desanka Schwara und Monika Rüthers, beide hervorragende Kennerinnen und Liebhaberinnen der ostjüdischen Welt, bedienen sich - wie schon in ihren früheren Veröffentlichungen - autobiografischer Quellen und anderer Selbstzeugnisse sowie jüdischer bzw. jiddischer belletristischer Literatur.1 Das Werk vermittelt im ersten, von Rüthers und Schwara gemeinsam verfassten Teil die notwendigen Wissensgrundlagen über die untersuchten Landschaften, Sprachen und Regionen wie Polen, Litauen, Weißrussland, Galizien und Bukowina, um so die ostjüdische Vielfalt in einer multikulturellen Umgebung zu verdeutlichen. Im zweiten Teil zeigt Desanka Schwara die Lebensbedingungen der „Luftmenschen“ – die Geschlechterbeziehungen, das Erziehungswesen, das traditionelle Schulsystem und die geschäftlichen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Im dritten Teil folgen Monika Rüthers’ Schilderungen der Lebenswelten der ostjüdischen Frauen – wie der Zugang zur weltlichen Bildung, das Aufkommen der Konflikte mit dem traditionellen Rollenbild, die Prostitution und dem „Mädchenhandel“. In seinem Schlusswort macht der Herausgeber Haumann in einem hervorragenden Überblick deutlich, dass es um die Orientierungssuche der Ostjuden in einer Zeit des Umbruchs und um die Bewältigung der Krise des jüdischen Selbstverständnisses in Osteuropa geht, ganz besonders im polnisch-russischen Raum (S. 313). Was war bestimmend für den Weg zum neuen Selbstverständnis der Juden? Die einsetzende Industrialisierung und der interne Konkurrenzkampf der Ostjuden haben auf dem Hintergrund des radikalen sozioökonomischen Strukturwandels die jüdische Lebenswelt erschüttert. Auf die innerjüdischen Auseinandersetzungen im religiös-ideologischen (ideengeschichtlichen) Bereich wie Chassidismus (die Frommen) und Frankismus (die Bekämpfer der rabbinischen Lehre) folgten die sozioökonomischen und politischen Veränderungen in Osteuropa. Sie eröffneten den Weg zur jüdischen Aufklärung, zum Reformjudentum, zur Assimilation, zur Säkularisierung, zum Sozialismus (auch zur jüdisch-sozialistischen Arbeiterbewegung), zum Nationaljudentum und zum Zionismus.2

Die Emigration schien einer Zahl von über eine Million Jüdinnen und Juden, die zwischen den Jahren 1890 und 1914 das Land verließen und über England, Österreich und Deutschland nach Südamerika, in die USA und zum kleineren Teil nach Palästina gingen, der richtige Ausweg. Andere hingegen strömten in die revolutionäre Bewegung und in die jüdisch-autonomistischen Gruppierungen in der Arbeiterbewegung; wieder andere, gerade auch viele Frauen, begrüßten das Aufkommen des Zionismus als Zeichen eines neuen Weges des Judentums. Zahlreiche Ostjuden suchten Akzeptanz und strebten die Integration in die sie umgebende Gesellschaft an, wenngleich auch sie ihre Eigenständigkeit behielten und sich meist als Angehörige einer eigenen, ostjüdischen Kultur verstanden. Es bildete sich das Bewusstsein einer eigenen ostjüdischen „Kulturpersönlichkeit“, obwohl man selbstverständlich von gemeinsamen Wurzeln aller Juden ausging.3 Es entstand „ein neues, spezifisch ostjüdisches Selbstverständnis, ein neues Selbstbewusstsein quer zu allen religiösen und politischen Gruppierungen, das in der Tradition stand, in der gemeinsamen Erinnerung, und sich ihrer bewusst war, aber sich auch den Widersprüchen der neuen Zeit stellte, sich keineswegs als homogen verstand und die heftigen inneren Konflikte nicht überdeckte“ (S. 336).

Hinter der dramatischen gesellschaftlichen Bewegung verbargen sich Millionen von Einzelschicksalen. Die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Individuen zeigen Rüthers und Schwara beispielhaft in ihrem Buch. Das Ostjudentum war in Bewegung geraten. Die Gesellschaft suchte nach einer Veränderung. Die Industrialisierung, der Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft hinterließen auch bei den Ostjuden ihre Spuren. Wie viel Heimat hatten die Ostjuden? „Die Ostjuden haben nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof.“4 Das Leben innerhalb der jüdischen Gemeinschaft war keine Idylle: Zahlreiche Konflikte, bitterer Streit, gegenseitiger Hass, der Nachbarschaftsneid und die unbeschreibliche Gewalt aufgrund der Armut gab es auch hier. Die Solidarität untereinander bröckelte oft, obwohl sich die Ostjuden ihrer Grundüberzeugung von der gemeinsamen sozialen Verpflichtung bewusst blieben. Die traditionell weibliche Wohltätigkeit veränderte sich notwendigerweise, weil die Verarmung der jüdischen Gemeinschaft derartige Formen angenommen hatte, dass die herkömmlichen Mittel der Wohltätigkeit nicht mehr ausreichten. Der Zweck der Wohltätigkeit musste deshalb sein, zur Selbsthilfe anzuregen (S. 326). An die Stelle der Krankenpflege, der Waisenkinderpflege, der Ausrichtung von Begräbnissen und der Aussteuer, der Bekleidung und der Hochzeiten traten nun Schulen, Weiterbildungskurse in technischer und landwirtschaftlicher Ausrichtung, Kreditbeschaffungsgesellschaften und kulturelle Organisationen. Die traditionelle jüdische Vorstellung von Solidarität wandelte sich. Trotz der Auflösungstendenzen und der Richtungsunterschiede lebten die Ostjuden immer noch in den Banden von Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit.

Am Beispiel einiger biografischer Darstellungen wird die Sozial- und Infrastruktur der polnischen Städte deutlich: Warschau (Esther Singer), Lodz (Israel Singer) oder Lublin (Zaddik Jakob Isaak oder der in Lemberg geborener Majer Balaban, der als Feldrabbiner während des Ersten Weltkrieges in Lublin diente). So stehen Namen wie Simon Dubnow und Chaim Weizmann für Weißrussland, Isaak Singer und Elia Salman für Litauen oder Rose Ausländer für die Bukowina. Die Stärke der Veröffentlichung liegt in ihrer lebensnahen Darstellung der einzelnen Menschen und regionalen Landschaften. Die von den Autorinnen Schwara und Rüthers geleistete detektivische Arbeit im Dickicht der osteuropäischen Archive muss hier besonders unterstrichen werden, denn die Zahl der aufgesuchten Archive – auch wenn ihre Auflistung im Einzelnen fehlt – ist beachtlich: Kielce, Lublin, Vilnius, Warschau, Lemberg, Lodz, Krakau, New York und Jerusalem. In der Veröffentlichung tauchen Frauennamen auf, die bis dahin nur in den Fußnoten zu finden waren. Auch wären einige Interpretamente der Autorinnen zu diskutieren, beispielsweise die Annahme, dass die „Umsiedlungsversuche nicht gegen die Juden gerichtet waren, sondern einen Integrationsversuch darstellten“ (S. 38), oder dass „die Moskauer Kaufleute die Assimilation der jüdischen Bevölkerung durch die Erziehung anstrebten“ und nicht im eigenen Sinne aus Konkurrenzgründen handelten (S. 39).

Zum einen ist diese Veröffentlichung eine fundierte Einführung für jedermann in die Geschichte der Juden in Osteuropa im 19. Jahrhundert, zum anderen wird nicht jedem die Thematik der Litwaken (der aus Litauen stammenden Juden) und ihre Beziehung zur jüdischen Arbeiterbewegung geläufig sein (S. 45). Es bedarf einiger fundierter Kenntnisse des osteuropäischen Judentums, um die im ersten Kapitel des Buches geschilderten Regionen Polens zuordnen zu können, und auch die Beschreibungen einzelner Städte fallen doch recht unterschiedlich aus. Da nicht jede Stadt einen berühmten Sohn oder eine berühmte Tochter hatte, scheint die Auswahl der Städte eher zufällig. Schwara selbst deutet auf methodische Schwierigkeiten beim Sprung vom 14. ins 19. Jahrhundert und von West- nach Osteuropa hin (S. 145). Nichtsdestoweniger gelingt ihr sowohl durch die detaillierte Einführung in die Begrifflichkeiten des Jiddischen und des Hebräischen, als auch durch die Erarbeitung der Parallelen in diesen ostjüdischen Welten eine exzellente Analyse mit Vergleichsmöglichkeiten. Polnische wie französische Textstellen (im ersten Teil) wie jiddische (im zweiten Teil) bleiben wie im Original unübersetzt (S. 204). Zwei Mal benutzen sie die hebräische Originalschrift (S. 176, 186), der Rest des Textes ist in Umschrift geboten, was sehr leserfreundlich ist. Insgesamt besticht die Veröffentlichung durch fundierte Kenntnisse, die informativ und überzeugend dargeboten werden, sowie durch die Chronologie und die präzise formulierten Auslegungen. Sie regt zu weiteren Forschungen auf dem Gebiet der ostjüdischen Identität prägenden Lebensweisen an und empfiehlt sich als Inspirationsquelle.

Anmerkungen:
1 Schwara, Desanka, "Ojfn weg schtejt a bojm." Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongreßpolen, Litauen und Rußland 1881 – 1939, Köln 1999. Dies., Humor und Toleranz. Ostjüdische Anekdoten als historische Quellen (Lebenswelten osteuropäischer Juden), Köln 2001; Ruthers, Monica, Jiddische Briefsteller als Quellen zur ostjüdischen Sozial- und Alltagsgeschicht, in: transversal. Zeitschrift des Centrums für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz 2 (2002), S. 33-41.
2 Nicht zufällig fand die Gründungsversammlung des jüdischen Arbeiter – „Bundes“ im selben Jahr wie der Erste Zionistenkongress 1897 statt.
3 Der Begriff „Kulturpersönlichkeit“ stammt von Nathan Birnbaum, vgl. Haumann, S. 336.
4 Roth, Joseph, Juden auf Wanderschaft (1927/1937), in: Ders., Werke, hg. v. Kersten, Hermann, 3. Bd., Köln 1976, S. 293-369, hier S. 298.

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