Titel
Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas


Herausgeber
Schulte, Christoph
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Svetlana Jebrak, Institut für Geschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der vorliegende Tagungsband zum Herder-Jahr 2003 umfasst die Beiträge einer vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam in Zusammenarbeit mit der Internationalen Herder-Gesellschaft veranstalteten Konferenz. Herausgegeben vom ausgewiesenen Kenner der jüdischen Philosophie, Christoph Schulte, zeichnet er die spezielle jüdische Wirkungsgeschichte Herders nach, die bei seinen Zeitgenossen wie dem berühmtesten der Popularphilosophen aus der Schule C. Wolffs, Moses Mendelssohn, und dem bedeutendsten hebräischen Dichter der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Hartwig Wessely, begann und bis heute anhält.

Vierzehn Autoren haben sich in den drei Teilen des Sammelbandes (Herder und seine jüdischen Zeitgenossen; Wissenschaft und Politik; Kulturphilosophie) zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zu der deutsch-jüdischen sowie der osteuropäischen Kulturgeschichte zu leisten. Es geht um die verschiedenen Gesichter des Schriftstellers, Theologen und Philosophen Johann Gottfried von Herder (1744-1803) und dessen zentrale geschichtsphilosophische Kategorien wie Individualität, Entwicklung und Tradition als Überlieferung des Beständigen in der Geschichte. Die Vielfalt in der Rezeption entspricht der Vielfalt der Problemlagen moderner jüdischer Existenz. Dem Vorwort des Bandes zufolge wird selbst dort, wo Herder von jüdischen Intellektuellen als Protestant, Pastor und Klassiker des deutschen Bildungskanons wahrgenommen wird, stets nach der Haltung Herders zum Judentum gefragt. Alle Autoren beschäftigen sich mit der Herder-Rezeption, die bei den säkularen jüdischen Intellektuellen nicht ihr Verhältnis zur Religion, sondern zum jüdischen Volkstum bedeutet, wobei das Volkstum als Sozialindividualität verstanden wird. Die Auswahl der Themen und der jüdischen Intellektuellen seit dem 18. Jahrhundert, deren Ideen und Selbstverständnis dargestellt werden, ist nicht zufällig. Bei allen geht es um die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und um das Streben nach universaler Humanität und Bildung. Es geht also um die unterschiedliche Identitätsbildung jüdischer Intellektueller in Ost- und Westeuropa.

Der Reiz des Ansatzes der Wirkungsgeschichte von Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas wird in einigen Beiträgen des Bandes besonders deutlich. So wird im Beitrag von Verena Dohrn die kulturelle und politische Wirkung Herders im östlichen Europa bis in die postsowjetische Zeit herausgearbeitet. In Russland – anders als in Westeuropa – hatte der Kampf um die Emanzipation der Juden im 19 Jahrhundert keinen Erfolg. Die jüdische Aufklärung scheiterte politisch und ideologisch, aber sowohl die hebräische Sprache als auch die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk blieben feste Bezugspunkte jüdischen Selbstverständnisses, die Pflege der jüdischen Religion, Kultur, Sprache und Tradition war eine reale politische Option. Dohrn zufolge kann zwar nicht von einer breiten Wirkung Herders in Osteuropa gesprochen werden, doch wird er auch bei den hebräischen Aufklärern (Maskilim) der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts erwähnt.1 Dohrn begibt sich auf Spurensuche in den Schriften Simon Dubnovs (1860-1941), der sich sowohl für die Erlangung der Bürgerrechte als auch der nationalen Rechte einsetzte. Dabei verdeutlicht sie Herders Einfluss auf den russisch-jüdischen Historiker und Politiker auch im Zusammenhang mit Dubnows Rezeption der Werke von Baruch Spinoza, John Stuart Mill und Heinrich Graetz (S. 175). Herder wird von ihr als Wegbereiter einer modernen vergleichenden Kulturgeschichte und Dubnov als Begründer einer paradigmatischen Diasporageschichte gesehen.

Anschließend widmet sich Julius H. Schoeps in seinem Aufsatz dem Kulturzionismus. Nach Schoeps Auffassung ist ein direkter Einfluss Herders auf den Zionismus nicht nachweisbar, obwohl Protagonisten des Zionismus wie Achad Haam, Max Nordau, Shmuel Bergmann oder Alex Bein das Werk Herders kannten. So lautet Schoeps’ Schlussfolgerung, dass Denker wie Kant, Fichte und Hegel eher als Herder das zionistische Denken beeinflusst haben. Es geht um die Identitätsprobleme, welche die Situation der Juden im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt haben. Die jüdische Identitätsproblematik – verschärft durch den Antisemitismus – zwischen der Hinwendung zum Sozialismus und dem Bekenntnis zum Zionismus Herzls wird neben der Sinnsuche der Juden in Mitteleuropa von Schoeps verdeutlicht (S. 182). Um die Frage der Identitätsfindung geht es auch in Guiseppe Veltris Aufsatz über den Vater der Wissenschaft des Judentums Leopold Zunz und seine Suche nach der Glaubensform des jüdischen Volkes: die deutsche Einstellung zum Judentum und die jüdische Einstellung zum Deutschtum.

Andere Autoren beleuchten anschaulich das Verhältnis Herders zum Judentum. So unterstreicht Martin Bollacher die politische und religiöse Ambivalenz von Herders Äußerungen über das Judentum: Herder habe das Schrifttum und die rabbinische Kultur der jüdischen Diaspora missachtet, sein Blick auf die Juden orientiere sich lediglich an den eigenen geschichtsphilosophischen Entwürfen (S. 8). Martin L. Davies geht auf das Jüdische im Geschmacksdiskurs bei Marcus Herz (1747-1803) ein. Der Geschmack ist bei Herz, der selbst ein aufgeklärter deutscher Jude ist, nicht nur ein „Phänomen“ – wie bei Herder – sondern im Gegenteil, er erweist sich als ein unverzichtbares universales Grundelement menschlichen Verhaltens (S. 147). Der Sinn für Schönheit bleibt ein Grundzug des Menschen, der gute Geschmack entfaltet sich erst durch intensivste individuelle Bildungsleistung. Der Geschmack ist nicht eigentlich das Produkt des künstlerisch hochbegabten Menschen allein, sondern eher das Produkt der Gesamtheit der kulturellen (sozialen und politischen) Bedingungen, die diesen künstlerischen Menschen hervorgebracht haben. Mosche Pelli hingegen untersucht die hebräischen Texte der jüdischen Aufklärung und verdeutlicht Parallelen zwischen Wessely und Herder. Daniel Weidner durchleuchtet den Umgang protestantischer Theologen mit dem Alten Testament als Werk menschlicher Autoren und arbeitet die Position Herders heraus: Er habe die Bibel nicht mehr als „heilige Schrift“, sondern als Buch unter Büchern aufgefasst, nicht mehr Gott sei ihr Autor, sondern die Menschen (S. 35). Grit Schorch beschreibt die Theorie des Erhabenen als gemeinsamen Konvergenzpunkt von Mendelssohn, Herder, den Protagonisten der Bibelkritik im deutschen Sprachraum und dem englischen Theologen Robert Lowth, der einen systematischen Ansatz entwickelte, die hebräische Bibel als Literatur und Poesie zu lesen. So ist der ästhetische Zugang zur Bibel in der jüdischen wie auch in der deutschen Aufklärung eine der Optionen, mit einem nichtreligiösen Methodeninventar den Text des Alten Testaments für die Moderne neu lesbar zu machen (S. 67). Anschließend arbeitet der Herausgeber selbst in seinem Beitrag zu Moses Mendelssohn, dem die hebräische Bibel ein Text mit poetischen Passagen gewesen sei, dem zugleich ein religiös normativer Geltungsanspruch innewohne, die Gemeinsamkeiten von Mendelssohn und Herder heraus. Christoph Schulte zufolge wurden die Juden preußische bzw. später deutsche Staatsbürger mit deutschen Bildungsidealen, und so wurde Herder und seine Werke Bestandteil des Bildungskanons deutschsprachiger Juden (S. 93).

Besonders im dritten Teil des Sammelbandes versuchen sich alle Autoren in der Interpretation des Satzes: „Das Volk ist und bleibt also auch in Europa ein unserm Weltteil fremdes Asiatisches Volk."2 Waren die Juden fremd in den Staaten, in denen sie lebten? So beschreibt Hartwig Wiedebach in der Erläuterung der Ästhetik Hermann Cohens die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Nationalität. Herbert Kopp-Oberstebrink widmet sich Ernst Cassirers frühen philosophiegeschichtlichen Werken und seinen Gedanken über das Verstehen des Fremden. Es lasse sich doch das Fremde und die Fremden nur dann verstehen, wenn man mit ihm bzw. mit ihnen ein Gemeinsames habe – wie die schmerzliche Erfahrung, selbst ein Fremder im eigenen Land geworden zu sein (S. 223). Daniel Hoffmann beleuchtet die Bekenntnistexte von Rudolf Borchardt, der sich eine jüdische Existenz als Deutscher nicht vorstellen konnte (S. 246). Liliane Weissberg arbeitet mit den Schlüsseltexten Hannah Arendts. Anstelle von Lessings Konzeption einer umfassenden Humanität habe Arendt zufolge für Herder die Suche nach einer Staatspolitik im Vordergrund gestanden, die Juden als Fremde emanzipiere (S. 252). Arendt, die den säkularen Bildungswillen des deutschen Judentums bewunderte, bezieht sich in ihren späten Schriften nicht mehr auf Herder.

In dem abschließenden Aufsatz von Matthias Buth werden Motive und Grenzen der Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland in Osteuropa betrachtet. Buth stellt sich in seinem Epilog zum Sammelband die Frage, welche Wurzeln Deutsche und Europäer haben und was ihre Identität ausmacht. Von Else Lasker-Schüler bis Günter Grass wird nach den Spuren der nationalen Identität und des europäischen Humanismus gesucht. Es geht um das Anerkennen des Eigenen im Fremden und des Fremden im Eigenen.

Insgesamt ist der Sammelband von erheblicher Heterogenität gekennzeichnet – sowohl hinsichtlich der Länge der Beiträge als auch mit Blick auf die Informationsdichte. Die Autoren wenden sich offenbar an ein informiertes Fachpublikum (nur dem Beitrag von Matthias Buth fehlen die Fußnoten) und gründen ihre Fallstudien auf umfangreiche Archivrecherchen. Bei einigen fehlen dennoch zum Teil die Basisinformationen, was den Zugang für eine interessierte Leserschaft erschwert. Wenngleich dem Band die Literaturliste fehlt, ist er ein Gewinn, denn er rückt auf einzigartige Weise die Wirkungsgeschichte Herders bei jüdischen AutorInnen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert im osteuropäischen und im deutschsprachigen Raum ins Blickfeld.

Anmerkungen:
1 Die jüdischen Aufklärer (Maskilim) waren durch die europäische Aufklärung inspiriert und wendeten sich wirtschaftlich, geistig und sozial motivierten jüdischen Emanzipationsbestrebungen in West- und Mitteleuropa im 18. Jahrhundert sowie in Osteuropa um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu.
2 Herder, Johann Gottfried, Werke in zehn Bänden, Frankfurt am Main 1985ff., Bd. 10, S. 630.

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