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Titel
"Gezähmte Helden". Die Formierung der Sowjetjugend 1917-1932


Autor(en)
Kuhr-Korolev, Corinna
Erschienen
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olga Nikonova, Süd-Ural Universität, Tscheljabinsk

In der Monografie „Gezähmte Helden“ untersucht Corinna Kuhr-Korolev die sowjetische Jugend in den 1920er und 1930er-Jahren. Mit dem Thema „Sowjetjugend“ geht Kuhr-Korolev auf einen bisher vernachlässigten Aspekt der frühen Sowjetunion ein. Ziel der Monografie ist die Rekonstruktion des Verständigungsprozesses über die „Sowjetjugend”, die Analyse der politischen, psychologischen und pädagogischen Konzepte von der Jugend, sowie die Untersuchung der Identifikationsmöglichkeiten der Jugend mit Erziehungs- und Disziplinierungspraktiken (S. 11-13). In den 1920er-Jahren war die Sowjetunion in demografischer Hinsicht ein „junger“ Staat. Der Erste Weltkrieg und die Katastrophen der Revolution und des Bürgerkrieges hatten die Bevölkerungsstruktur des russisch-sowjetischen Landes stark geprägt. Der Bevölkerungsanteil der Jugendlichen nahm beträchtlich zu. 1926 machten die Jugendlichen ein Viertel der Bevölkerung in Russland aus, wie die sowjetische Statistik behauptete (S. 7).

Trotz der wichtigen Rolle, die der sowjetischen Jugend als Trägerin des frühen Stalinismus zukommt, ist sie bisher wenig erforscht. Oft werden in der Stalinismusforschung Verhaltensweisen und Stereotype, Deutungsmuster und Denkfiguren der Erwachsenen ohne weiteres auf die Jugendlichen übertragen. Als gesondertes Forschungsobjekt wurde die „Sowjetjugend” nur in den Arbeiten von Anne Gorsuch und Natalia Lebina 1 analysiert. Einzelne Aspekte der Geschichte von Jugendlichen in der Sowjetunion sind des weiteren in einigen Monografien und Aufsätzen angesprochen worden.2

Die Ignoranz der HistorikerInnen gegenüber einer differenzierten Generationsbetrachtung ist teilweise im Forschungsobjekt selber begründet. Als Basis für die Definition der „Sowjetjugend” wird in der Regel ein formales Charakteristikum – das Alter von 14 bis 23 Jahren – benutzt. Dieses Merkmal ist, wie Kuhr-Korolev zeigt, unzureichend. Ihre Grundthese ist, dass die „Sowjetjugend” ein ideologisches und soziales Konstrukt war. Am Projekt „Sowjetjugend“ arbeiteten nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch Politiker, Wissenschaftler und Literaten aus der älteren Generation. Dementsprechend geht Kuhr-Korolev über die Altersgrenzen der Jugendlichen hinaus und untersucht Konzepte und Projektionen derer, die sich entweder als „jugendlich“ empfunden oder „im Namen“ der Jugend und für die Jugend gesprochen haben. Unter den „gezähmten Helden“ selbst findet man vorwiegend die städtische Jugend und Mitglieder des Komsomols. Jedoch lebte die Mehrheit der sowjetischen Bevölkerung in der Zeit, die Kuhr-Korolev analysiert (1917-1932), auf dem Lande. Daraus wird klar, dass mit dem Begriff der „Sowjetjugend“ nur ein kleiner Teil der Jugendlichen in der Sowjetunion insgesamt erfasst wird. Kuhr-Korolev erklärt diese Beschränkung ihres Forschungsobjektes damit, dass die Komsomolzen „sowohl für die Ausprägung des sowjetischen Jugendbildes als auch die Gestaltung der staatlichen Jugendkultur eine wichtige Rolle“ spielten (S. 9).

Der erste Teil der Monografie ist der Darstellung von Jugendlichen in den Reden und Konzepten der Bolschewiki gewidmet. Besonders ausführlich werden die Ideen von Anatoli Lunatscharski und Grigori Sinowiew ausgeführt. Daran knüpft Kuhr-Korolev die Untersuchung des Selbstbildes von Komsomolzen an und analysiert die Vorstellungen der Verbandsmitglieder von der politischen Rolle der Jugendlichen im sozialistischen Staat. Im zweiten Teil der Monografie werden wissenschaftliche Konzepte sowjetischer Psychologen und Pädologen untersucht. Viel Aufmerksamkeit schenkt Kuhr-Korolev den Debatten über den „novyj byt“ (der neuen Lebensweise) und ihren Einfluss auf die Sexualität der Jugendlichen. Hier wird auch das Problem der Darstellung des jugendlichen Körpers, des Körperkultes und der Körperkultur in den sowjetischen gesellschaftlichen Konzepten und der bildenden Kunst behandelt. Im dritten Teil findet man die Analyse des jugendlichen Selbstbildes am Beispiel der „Junkorbewegung“ sowie eine Besprechung des Jugendbildes in der sowjetischen Literatur der 1920er/1930er-Jahre.

Kuhr-Korolev zeigt in ihrer Monografie die Vielfalt von Ideen und Konzepten zu Jugendlichen, die in der Sowjetunion zur Zeit der Neuen Ökonomische Politik (NÖP) und des Frühstalinismus bestand. Bis zum Ende der 1920er-Jahre formulierte das bolschewistische Regime keine eindeutige Politik in der „Jugendfrage“. Noch ohne totale parteiliche Kontrolle konnten sich nebeneinander ein nietzscheanisches Konzept des Helden von Lunatscharski und Gorki, der disziplinierende Diskurs von Lenin-Stalin-Kirow, das elitäre Bewusstsein von Avantgarde der Komsomolzen und die diversen Varianten der Opposition entfalten. Kuhr-Korolev erkennt in der Vielfalt der Konzepte zwei grundlegende Einstellungen: erstens die Konzepte, welche die Jugendlichen idealisierten, und zweitens der disziplinierende Ansatz, den sie auf Lenin zurückführt. Bereits auf dem III. Komsomolkongress sei klar geworden, dass eine Abkehr von der Idealisierung und der Heroisierung der Jugendlichen stattgefunden hatte. „Lenins Ausführungen machten deutlich, dass die Jugend für noch nicht reif genug gehalten wurde, eine führende Rolle im neuen Staat zu spielen“ (S. 43f., 121). In den disziplinierenden Massnahmen der Partei sieht Kuhr-Korolev einen Versuch der Bolschewiki, eine selbstständige Position des Komsomol zu verhindern. Auch waren sie eine Reaktion darauf, dass die sowjetische Jugend nicht den idealistischen Darstellungen der Politiker und Wissenschaftler entsprach.

In einer Vielzahl von Quellen sucht Kuhr-Korolev die Spuren dieser hinter der Ideologie versteckten Realitäten der „Sowjetjugend”. In den Bildern von Dejneka findet sie die Darstellungen einer „goldenen Jugend“ der NÖP. Die Erzählungen der sowjetischen Schriftsteller Olescha und Gladkow liefern die literarischen Verarbeitungen von typischen Komsomolfunktionären mit ihrer Grobheit und sexuellen Unbeherrschtheit. Die sowjetische Statistik berichtete über die ungebildete und desinteressierte jugendliche Leserschaft in einem „lesenden“ Lande. Die Einzelbeispiele und ausgewählten Sujets verbinden sich jedoch bei Kuhr-Korolev kaum zu einer ganzheitlichen Darstellung der „Sowjetjugend“. Die gewählten Beispiele demonstrieren nur die Diskrepanz zwischen der realen Vielfalt sozialer Typen von Jugendlichen und der einheitlichen Repräsentation der Jugend im offiziellen Diskurs.

Wiederholt kommt Kuhr-Korolev auf die Frage des Identifikationsangebots des Jugendbildes und die Wahrnehmung dieses Bildes durch die Jugendlichen zurück. Die ungebildete und arme dörfliche Jugend setzte sich eher mit den Erlässen der Armeekommissaren auseinander als mit den Ideen der Psychologen und Pädologen. Erst die Industrialisierung brachte die Jugendlichen in die Städte, wo sie möglicherweise unter den Einfluss des propagierten Jugendbildes gerieten. Und sogar diese Jugendlichen, die sich mit dem offiziellen Jugendbild auseinandersetzten, kommen selten zur Sprache. Kuhr-Korolev bestätigt diese Tatsache selbst, wenn sie auf das Fehlen von „Selbstzeugnissen“ hinweist. Die alltäglichen Praktiken und Verhaltensnormen, die für die städtische und dörfliche „Sowjetjugend” typisch waren, lässt sie außer Acht. Demgemäss wird die Frage nach der Rezeption des offiziellen Jugendbildes in der Monografie nur hinsichtlich einer kleinen Gruppe von Jugendlichen beantwortet.

Die Monografie schenkt dagegen den sowjetischen pädologischen und psychologischen Konzepte, sowie der Jugendpresse und der „Junkorbewegung“ übermäßig viel Aufmerksamkeit. Vieles davon ist aus der Sekundärliteratur bereits bekannt. Teilweise wird dies aber durch die interessanten Kapitel zu Körperkultur, Sport und Sexualität der „Sowjetjugend” ausgewogen. Hier werden die Probleme der Geschlechterverhältnisse in der sowjetischen Gesellschaft und in der Ideologie ausführlich dargestellt. Kuhr-Korolev zeigt, dass der Diskurs der Geschlechtergleichheit weniger populär war, als es üblicherweise angenommen wird.3 Die modernen Geschlechterrepräsentationen waren selbst für die städtische Jugend und die Komsomolzenavantgarde nicht besonders attraktiv. Sexualität unter Jugendlichen wurde vom Regime als Bedrohung wahrgenommen. Der bolschewistische Staat versuchte, dieses bedrohliche Potential unter Kontrolle zu bekommen, und propagierte Verhaltensnormen, welche die Sexualität unterdrückten. Kuhr-Korolev demonstriert die differenzierte Einstellung der Bolschewiki zu Männern und Frauen. Während Männer als Träger einer unkontrollierten Sexualität dargestellt wurden, traten Frauen als vorrevolutionäre „Opfer“ und „Prostituierte“ auf (S. 151ff.).

Die Monografie „Gezähmte Helden“ bedeutet einen wichtigen Schritt zur weiteren Differenzierung der Stalinismusforschung. Hier wird die sowjetische Bevölkerung nicht mehr als Monolith gesehen. Mit „sowjetisch“ wird jetzt nicht nur Russisches, Zentrales und Erwachsenes, sondern auch Provinzielles, Ethnisches und eben auch Generationsspezifisches bezeichnet. Trotz einiger Schwächen leistet das Buch von Kuhr-Korolev damit einen gewichtigen Beitrag zur differenzierten Interpretation des Stalinismus.

Anmerkungen:
1 Gorsuch, Anne, Soviet Youth and the Politics of Popular Culture during NEP, in: Social History 17 (1992), 189-201; Peris, Daniel, Storming the Heavens. The Soviet Youth League of the Militant Godless, Ithaka 1998; Lebina, Natalia, Powsednewnaja schisn sowetskowo goroda. Normy i anomali. 1920-1930-e gody, St. Peterburg 1999.
2 Vgl. dazu: Kuhr-Korolev, Corinna; Plaggenborg, Stefan; Wellmann, Monica (Hgg.), „Sowjetjugend” 1917-1941. Generation zwischen Revolution und Resignation, Essen 2001; Wellmann, Monica, Integrationsprobleme und Ausgrenzungserfahrungen – Abschiedsbriefe junger Selbstmörder aus Moskau (1920er-Jahre), in: Kuhr-Korolev, Corinna; Plaggenborg, Stefan; Wellmann, Monica (Hgg.), „Sowjetjugend” 1917-1941. Generation zwischen Revolution und Resignation, Essen 2001.
3 Vgl. dazu: Stites, Richard, The Women's Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860-1930, Princeton 1978.

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