F.-L. Kroll (Hg.): Die kupierte Alternative

Cover
Titel
Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945


Herausgeber
Kroll, Frank-Lothar
Reihe
Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus 6
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 347 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Entwicklung des (west-)deutschen Konservatismus seit 1945, zumal seit den 1960er-Jahren, ist ein noch wenig bestelltes Feld der zeithistorischen Forschung. Zwar hat sich in jüngster Zeit neben dem politikwissenschaftlichen auch das geschichtswissenschaftliche Interesse am – pauschal gesprochen – rechten Ideenspektrum in der Geschichte der Bundesrepublik deutlich verstärkt; detaillierte Einzelstudien bilden aber nach wie vor die Ausnahme. Bereits über die Frage, was als konservativ zu gelten habe, ließe sich kaum unmittelbare Einigkeit erzielen. Das interessierte Lesepublikum wird den vorliegenden Sammelband daher mit Neugier zur Hand nehmen, eröffnen seine Beiträge doch ein Panorama ganz unterschiedlicher konservativer Positionen, was sich zu einem ersten Vorstoß in weithin noch unkartierte Ideenlandschaften der „Bonner Republik“ zusammensetzt.

Dass dies von einem politisch akzentuierten Standpunkt aus geschieht, spricht nicht a priori gegen das Buch. Schon bei der Lektüre des einführenden Überblicks von Frank-Lothar Kroll zeigt sich, dass der Band auch dann gewinnbringend ist, wenn man den darin vertretenen Thesen nicht folgen möchte. Kroll interpretiert den westdeutschen Konservatismus nach 1945 in erster Linie als eine abgedrängte, in ihren Entwicklungsmöglichkeiten bewusst behinderte Politikrichtung und Denkströmung, mithin – wie es auch der Titel besagt – um eine „kupierte Alternative“ zur westlich-pluralistischen Entwicklung der Bundesrepublik. Kroll führt dazu einen Kranz von inneren und äußeren Ursachen an, die sich zwar zu einem stimmigen Bild fügen, im Einzelnen aber durchaus kontrovers erörtert werden können. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Repressionen des NS-Systems gegen die konservativen Widerständler des 20. Juli tatsächlich die „soziale Trägerschicht“ des preußischen Konservatismus derart dezimierten, dass von einem eigenständigen „demographischen Faktor“ zu sprechen ist (S. 7). Umstritten dürfte auch die provokante, aber keineswegs neue Auffassung sein1, dass die „ideelle Westintegration“ der Bundesrepublik in erster Linie auf Eingriffe der amerikanischen Besatzungsmacht zurückgeführt werden kann, welche ihre eigenen „Ordnungsvorstellungen und politisch-gesellschaftlichen Leitbilder den Führungseliten des jungen westdeutschen Teilstaates nachhaltig, kompromißlos und […] auf irreversible Weise oktroyierten“ (S. 9).

Der zweite einführende Beitrag aus der Feder von Clemens Albrecht liefert eine Reihe konzeptioneller Überlegungen zur Wirkungsgeschichte des Konservatismus in der Bundesrepublik. Als eigentliches Gravitationszentrum wird jedoch rasch eine Auseinandersetzung mit der „68er-Bewegung“ erkennbar, die im Kern berechtigt und nachvollziehbar sein mag, allerdings teilweise über das Ziel hinausschießt. Die These, dass allein der Konservatismus die „Revolutionshoffnungen verhindert und die '68er in den Prozeß argumentativ gestützter Mehrheitensuche gezwungen“ habe (S. 33), dürfte zumindest nicht ohne weiteres konsensfähig sein.

Das Tableau der nachfolgenden Aufsätze ist breit gefächert, wobei die ersten drei Beiträge hier nur kurz erwähnt werden können: Es geht jeweils um die Verankerung und Tradierung konservativer Wertorientierungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen, namentlich im Beamtentum (Josef Schüßlburner), in der Bundeswehr (Klaus Hammel) und in Vertriebenenorganisationen (Matthias Stickler). Im Gegensatz dazu konzentrieren sich die übrigen Aufsätze auf eine genuin konservative Ideenproduktion in der Bundesrepublik und verklammern meist (gruppen-)biografische Zugänge mit ideengeschichtlichen Analysen. Dass dabei von den Ambitionen einer avancierten Intellektuellengeschichte oft nur wenig zu spüren ist, mag bedauert werden, tut indes der Reichhaltigkeit der präsentierten Einsichten keinen unmittelbaren Abbruch.

In einem ersten Abschnitt zur konservativen Presse und Publizistik stellt Felix Dirsch die Zeitschrift „Neues Abendland“ vor und umreißt an ihrem Beispiel wesentliche Denkansätze des katholisch-kulturkonservativen Milieus der Nachkriegszeit. Die grundlegenden theoretisch-ideellen Bezugsgrößen – „wahre“ Demokratie, Föderalismus, Staat und Gesellschaft, „Abendland“ – werden systematisch erörtert und mit bedenkenswerten Befunden zu einer eigenständigen „Konservatismusdebatte“ (S. 122) im Katholizismus ergänzt. Im Anschluss daran skizziert Hans B. von Sothen die Biografie des Publizisten Hans Zehrer nach 1945, wobei im Gegensatz zu den meisten anderen Beiträgen auch zahlreiche unveröffentlichte Archivalien herangezogen werden. Diese Quellenfunde erlauben es von Sothen, dem in Grundzügen bekannten Werdegang Zehrers als Chefredakteur der „Welt“ einige informative Schattierungen hinzuzufügen. Gegenläufig zum bisherigen Forschungsstand2 wird beispielsweise herausgestellt, dass Zehrers Einfluss auf die Linie des Axel-Springer-Verlags zu Beginn der 1960er-Jahre nur zeitweilig geschwächt war und sein Anteil an der nationalkonservativen Neuausrichtung der „Welt“ in den Jahren nach 1964 doch höher zu veranschlagen ist, als dies bislang vermutet wurde.

Mit ausgewählten wissenschaftlichen Milieus der Bundesrepublik beschäftigen sich die nächsten drei Aufsätze. Klaus Hornung nimmt sich den jüngst so kontrovers diskutierten Lebensweg von Hans Rothfels3 vor, dessen wesentliche Stationen er verfolgt und zu dem Gesamtbild eines Konservativen in der „Krise der Moderne“ (S. 211) zusammenfügt. Über Rothfels’ Ort im ideellen Vorfeld des Nationalsozialismus wird freilich recht apologetisch geurteilt, so dass es nicht überrascht, wenn Hornung andere Betrachtungsweisen pauschal als Ressentiments einer „allzu zeitgeisthörigen Historiographie“ verwirft (S. 207). Ebenfalls im „Widerspruch zum Zeitgeist“ sieht Ulrich E. Zellberg die verfassungstheoretischen Konzepte der Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde, Josef Isensee, Herbert Krüger und Helmut Quaritsch. Systematisch wird die juristisch-theoretische Gedankenwelt dieser oftmals von Carl Schmitt beeinflussten Gelehrten erschlossen und auf ihre Zentralkategorie hin interpretiert – den Staat. Aus zeithistorischer Sicht bleibt der Ertrag dieser Ausführungen gleichwohl begrenzt, denn eine Einordnung in die Geschichte der Bundesrepublik wird jeweils kaum angedeutet, was hinter aktuellen Forschungsergebnissen leider zurückbleibt.4 Demgegenüber stellt Michael Henkel in seinem Beitrag über konservative Elemente im Denken des Politikwissenschaftlers Eric Voegelin durchaus historische Bezüge her. Zwar dominiert auch hier ein Aufriss der wissenschaftlichen Theoriebildung, doch wird diese entlang der Lebensstationen Voegelins schlüssig entwickelt und mit instruktiven Überlegungen zu ihrem gegenwärtigen Stellenwert ergänzt.

Der Band wird abgerundet durch drei Beiträge zur „konservativen Intelligenz“, die man freilich auch dem oben skizzierten Abschnitt zur Publizistik hätte zuschlagen können. Anhand von veröffentlichten Essaysammlungen zeichnet Hans-Christof Kraus ein Porträt des renommierten Journalisten Friedrich Sieburg in den 1950er-Jahren, dessen konservative Grundhaltung als Literatur- und Kulturkritiker zwar detailliert ausgeleuchtet wird, allerdings nur punktuell neue Einsichten erbringt5; man hätte sich gewünscht, dass der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar liegende Nachlass Sieburgs endlich einmal Berücksichtigung gefunden hätte. Auch die Untersuchung von Susanne Peters über William S. Schlamm, einen um 1960 berüchtigten konservativen Publizisten, basiert vornehmlich auf zeitgenössischen Presseartikeln und Publikationen. Ihre Einsichten fügen sich gleichwohl zu einer detaillierten Fallstudie, welche Schlamms Veröffentlichung „Die Grenzen des Wunders“ (1959) und die sich daran anschließenden Kontroversen in den Mittelpunkt rückt. Peters präsentiert hier Auszüge einer in Vorbereitung befindlichen Biografie, auf die man gespannt sein darf. Den deutschen Konservatismus nach der Vereinigung nimmt schließlich Stefan Winckler in den Blick. Die Aufsehen erregenden Wortmeldungen der „neuen konservativen Intelligenz“ (S. 326) um Heimo Schwilk, Ulrich Schacht und Rainer Zitelmann Mitte der 1990er-Jahren werden dabei ebenso umrissen wie der rasche politisch-publizistische Niedergang dieser losen Netzwerke und Zirkel zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus.

Die Erforschung des westdeutschen Konservatismus wird durch den vorliegenden Band in vielerlei Hinsicht bereichert, auch wenn sich die interessanteren Ergebnisse und Thesen oft hinter pointierten Zuspitzungen verbergen. Die in den meisten Beiträgen vorgenommene Abgrenzung von einem behaupteten (auch historiografischen) „Zeitgeist“ geht indes vielfach mit einer fragwürdigen Homogenisierung des „gegnerischen“ Ideenspektrums einher. Dass für dieses in vielen Fällen die „68er“-Bewegung angeführt wird, unterschlägt nicht nur die Vielfältigkeit der bereits in der späten Adenauer-Zeit einsetzenden Liberalisierungs- und Pluralisierungsprozesse, sondern überschätzt die Folgewirkungen der Studenten- und Protestbewegung wohl beträchtlich. Gleichzeitig verweist diese negative Fixiertheit jedoch auf ein zentrales Forschungsdesiderat: Statt die Nachgeschichte von „1968“ pauschal mit der „langfristigen Etablierung einer prinzipiell veränderungsorientierten ‚Protestkultur’“ zu identifizieren (S. 19), wäre zunächst nach der Genese und dem Stellenwert dieses Wahrnehmungsmusters innerhalb des konservativen Meinungsspektrums zu fragen. Die eigentlich reizvolle Forschungsaufgabe würde dann auch weniger darin liegen, eine Marginalisierung konservativen Denkens und Handels in der westdeutschen Öffentlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen; vielmehr sollte dieser Topos selbst stärker historisiert und in ein Beziehungsgefüge konkurrierender Ideenströmungen eingeordnet werden. Doch zu diesem Aspekt hat der Band bedauerlicherweise nur wenig mitzuteilen.

Anmerkungen:
1 Klassisch dazu bereits: Schrenck-Notzing, Caspar von, Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen, Stuttgart 1965.
2 So Kruip, Gudrun, Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1999, S. 105.
3 Vgl. etwa das Diskussionsforum „Hans Rothfels und die Zeitgeschichte“ (<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=diskussionen&id=281=281>) sowie zuletzt: Hürter, Johannes; Woller, Hans (Hgg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005; Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005.
4 Vgl. Günther, Frieder, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004.
5 Vgl. dazu bereits: Krause, Tilman, Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewußtsein. Friedrich Sieburgs Wege und Wandlungen in diesem Jahrhundert, Berlin 1993.

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