W. Gelfand u.a. (Hgg.): Deutschland-Tagebuch 1945-1946

Titel
Deutschland-Tagebuch 1945-1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten


Herausgeber
Gelfand, Wladimir; Scherstjanoi, Elke
Erschienen
Berlin 2005: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Moll, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst Email:

Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes veröffentlichte der Aufbau-Verlag im Frühjahr die Tagebuchaufzeichnungen Wladimir Gelfands, eines Leutnants der Roten Armee, die während seines Aufenthalts in Deutschland 1945 bis 1946 entstanden sind. Ein werbewirksames Versprechen gewährt,„tiefe Einblicke in die Gedanken und Gefühle eines Siegers aus Stalins Armee“.1 So werben Verlage heutzutage, um eine breite, das „Authentische“ suchende Lesergemeinde. Zweifellos ist hier eine bisher einzigartige Veröffentlichung gelungen und die Zeitgeschichtsforschung um eine seltene Entdeckung bereichert worden. Die Herausgeberin des „Deutschland-Tagebuchs“, Elke Scherstjanoi, Historikerin am Institut für Zeitgeschichte, hat sich seit Jahren in ihren Forschungen zur Kriegs- und Nachkriegszeit immer wieder auch mit privaten Erinnerungszeugnissen befasst.2 Die vorliegende Publikation erfüllt daher alle Ansprüche einer kompetenten Quellenbearbeitung. Für die Publikation hat die Herausgeberin die Auswahl der Texte wie auch den ausführlichen Kommentar auf ein deutsches Leserpublikum abgestimmt. Das „Deutschland-Tagebuch“ setzt sich zusammen aus fortlaufenden Tagebuchnotizen, ergänzt durch lose Notizen, Dienstdokumente, Briefe und Fotografien, die sämtlich im genannten Zeitraum entstanden sind.

Wladimir Natanowitsch Gelfand (1923-1983) begann im Kriegsjahr 1942 mit seinem Eintritt in die Armee Tagebuch zu schreiben und führte dieses auch nach dem Krieg fort. Zeit seines Lebens war der spätere Lehrer ukrainisch-jüdischer Abstammung ein leidenschaftlicher Sammler und ambitionierter Chronist der eigenen Lebensgeschichte. In jungen Jahren träumte der gebildete, sensible Mann davon, Schriftsteller zu werden, was er jedoch nicht realisieren konnte. Er hinterließ seinen Erben ein beachtliches Konvolut von Aufzeichnungen, Fotografien und Erinnerungsstücken. Gelfands Sohn fühlte sich - wie viele Kinder und Enkel der sowjetischen Kriegsgeneration - verpflichtet, die Kriegszeit des Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, und brachte so ein seltenes Zeitdokument ans Licht.3 Bisher glaubte man gar nicht an die Existenz von Tagebüchern „normaler Frontkämpfer“, ging man davon aus, dass während des Krieges ein strikt organisiertes Zensurverfahren für private Aufzeichnungen und Briefkorrespondenzen in der Roten Armee geherrscht hatte. Wenn auch genauere Forschung noch fehlt, so können wir heute davon ausgehen, dass das allgemeine Verbot, Tagebuch zu führen, nur lückenhaft durchgesetzt oder sogar in bestimmten Dienststellen aufgehoben war. Für Offiziere der Politabteilungen galten Ausnahmen, wenn die Vorbereitung für Fremdpropaganda oder die Vernehmung von Gefangenen persönliche Aufzeichnungen erforderten. Aus den Memoiren des damaligen Politoffiziers Lew Kopelew erfahren wir von dessen während der Verhaftung konfiszierten Aufzeichnungen.4 Bisher unbekannte Tagebuchautoren sind die 1943 in einem Einsatz gefallene Navigatorin Galina Dokutowitsch 5 sowie Georgij Soljus 6, ein 1945 in Ostpreußen eingesetzter Politoffizier. Beide Beispiele sind Zufallsfunde. Wer weiß, wieviel unentdeckte Tagebücher noch in den russischen Archiven oder in Privatbesitz existieren?

Das Tagebuch Gelfands genießt gegenüber anderen „Ego-Dokumenten“ sowjetischer Kriegsteilnehmer deutlichen Vorrang, denn nichts ist nachträglich verändert oder bearbeitet worden. Zudem berühren seine Aufzeichnungen zwei alltagsgeschichtliche Aspekte. Zum einen gibt Gelfand Auskunft über das damalige Verhältnis von Angehörigen der Roten Armee gegenüber den Deutschen. Zum anderen erfahren wir von ihm Details über Alltag und inneren Zustand der Roten Armee, über materiellen Notstand und mangelnde Ausrüstung, scharfe oft physisch ausgetragene Konflikte unter Soldaten und Offizieren und über eine nur lückenhaft durchgesetzte Disziplin der Truppen beim Vormarsch auf Berlin. Beide Aspekte finden sich nicht in der sowjetischen wie postsowjetischen Geschichtsdeutung, die bis heute Sieg und Triumph in den Mittelpunkt stellt. Gelfands Perspektive wirft auch ein neues Licht auf die deutsche Wahrnehmung von Kriegsende und Nachkrieg. Wir erfahren von gewaltvollen, brutalen Übergriffen von Rotarmisten auf die deutsche Zivilbevölkerung, gleichzeitig aber auch von freiwilligen Annäherungen - trotz des geltenden Fraternisierungsverbots - und von erotischen wie materiellen Interessen beider Seiten.

Der Schöngeist Gelfand ist - bei all seinen künstlerisch-romantischen Neigungen - in erster Linie ein „normaler Sowjetbürger“. Er führt uns in die Gedankenwelt eines typischen Vertreters der damaligen Jugendgeneration ein. Gelfands Altersgenossen - vom stalinistischen Klima der 1930er-Jahre geprägt und seit dem deutschen Angriff 1941 für den erfolgreichen Kampf um die Heimat mobilisiert – hatten die größte Last des Krieges und des Wiederaufbaus zu tragen.

Seit seiner Einberufung im März 1942 beteiligte sich der damals 19-jährige Gelfand aktiv an der politischen Arbeit in der Truppe. 1943 erhielt er die Vollmitgliedschaft in der KPdSU. Er diente an verschiedenen Frontabschnitten, auch an vorderster Kampflinie, wo er als Zugführer einer Granatwerfer-, später einer Schützeneinheit die Härten des Frontalltags erlebte. Eine Verwundung brachte ihn acht Monate ins Hinterland. Nach einem Offizierslehrgang hoffte der Sohn eines jüdischen Metallarbeiters vergeblich auf schnelle Beförderung. Den Einzug nach Berlin erlebte Gelfand als Stabsoffizier einer Division der 3. Stoßarmee der 1. Weißrussischen Front nicht mehr im vorderen Frontbereich. Vom Dienstalltag war er damals bereits wegen anhaltender Schwierigkeiten mit Kameraden und Vorgesetzten desillusioniert. Er wurde mehrmals versetzt und litt unter - möglicherweise antisemitisch motivierten - Anfeindungen und Demütigungen.

Die Zeit nach dem Kriegsende bis zur Demobilisierung verbrachte Leutnant Gelfand in einer Trophäenbrigade, er konfiszierte also Güter aus privatem Besitz. Dies ermöglichte ihm Freiraum für zahlreiche Erkundungen in der Gegend in und um Berlin. In einem nicht geringen Maße erlebte der im Umgang mit Frauen unsichere junge Mann seine Dienstzeit in Deutschland als ein sexuelles Abenteuer. Seine Kontakte zu deutschen Frauen, die er im Tagebuch ausführlich schilderte, blieben nicht unentdeckt und brachten ihm ein Disziplinarverfahren ein. Ungeachtet der Grobheiten und Reibereien, die Gelfands Dienstalltag deutlich belasteten, blieb dem jungen Offizier das Selbstbewusstsein eines siegreichen Frontkämpfers erhalten. Die im Buch veröffentlichten Fotografien zeigen einen stolzen jungen Offizier vor dem Reichstag und anderen deutschen Kulturdenkmälern. Wie viele seiner Kameraden dokumentierte er damit seinen persönlichen Triumph für die Verwandten zu Hause.

Dem beredsamen, teilweise naiven alltagssprachlichen Schreibgestus Gelfands stehen nicht selten umständliche Satzkonstruktionen im Wege. Oft bedient er sich eines unbeholfenen Pathos, drückt sich - trotz Bildung und Belesenheit - ungenau aus. Seine Sicht auf den Krieg ist stark von Propagandainhalten bestimmt. In den Wünschen und Ängsten des schwankenden jungen Mannes zeigt sich der Reflexionshorizont eines jungen Frontsoldaten. In manchen Punkten ähneln seine Phantasien auch denen der Soldaten auf der anderen Seite des Schützengrabens. In plakativer Weise belegen dies seine Äußerungen über ein Gerücht vom angeblichen Kontakt mit einem deutschen Frauenbataillon (S. 61f.). Die hier dokumentierten Sexualphantasien und Gewaltvorstellungen von der Frau an der Waffe entsprechen einer entgrenzten Variante gegenseitiger Feindvorstellungen. 7

Gelfand ist ein typischer Vertreter der sowjetischen Kriegsgeneration. Bedingt durch eine psychisch schwer zu ertragende Ambivalenz von Stolz auf die persönliche Teilnahme am errungenen Sieg, von stummem Leiden an traumatischen Kriegserlebnissen und mangelnder Anerkennung in der Nachkriegszeit, befanden sich die Kriegsveteranen in einem lebenslangen Spannungszustand. Vor diesem Hintergrund erscheinen Gelfands Tagebuchnotizen aus der Zeit des „Großen Vaterländischen Krieges“ umso mehr als ein sprechendes Zeugnis der Vergangenheit. Wir erfahren, wie ein Mensch in einer totalitär organisierten Struktur wie der Roten Armee, in der Ausnahmesituation des Kriegs- und Nachkriegsalltags gelebt und gedacht hat. Gelfands Aufzeichnungen sind Momentaufnahmen, die den Menschen als Akteur der Geschichte zeigen.

Eine geplante Veröffentlichung des Tagebuchs in Russland würde gewiss für die Kinder, Enkel und Urenkel, die bis heute mit anderen Geschichten der „Sieger aus Stalins Armee“ konfrontiert sind, von großem Gewinn sein.

Anmerkungen:
1 Gelfand: s.o., Klappentext
2 Scherstjanoi, Elke (Hg.), Rotarmisten schreiben aus Deutschland, München 2004.
3 Vitaly Gelfand stellte Aufzeichnungen des Vaters ins Internet: http://zhurnal.lib.ru/g/gelxfand_w_w
4 Kopelew, Lew, Aufbewahren für alle Zeit, Hamburg 1976, S.13-14.
5 unveröffentlicht, Museum des Großen Vaterländischen Krieges, Minsk
6 unveröffentlicht, Museum Berlin-Karlshorst
7 Weder auf deutscher noch auf sowjetischer Seite wurden geschlossene weibliche Kampfverbände eingesetzt.

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