U. Prutsch u.a. (Hgg.): Leopold von Andrian

Titel
Leopold von Andrian (1875-1951). Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte


Herausgeber
Prutsch, Ursula; Zeyringer, Klaus
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 97
Erschienen
Anzahl Seiten
910 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Stachel, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte

Der „leidige Zufall der Geburt“ (Karl Kraus in anderem Zusammenhang) führte dazu, dass der österreichische Schriftsteller, Diplomat und Politiker Leopold von Andrian (1875-1951) in seinen Personaldokumenten als gebürtiger Berliner ausgewiesen war. Ein Umstand, den der Vertreter einer prononciert anti-deutschen Österreich-Ideologie schamvoll verschwieg, sodass in älteren Arbeiten zuweilen fälschlich Wien als sein Geburtsort angegeben ist. Aufgewachsen ist der als Sohn des Anthropologen Ferdinand von Andrian zu Werburg und seiner Ehefrau Caecilie – eine Tochter des Komponisten Giacomo Meyerbeer – geborene Leopold Ferdinand Freiherr von Andrian zu Werburg (so der volle Name) in der Tat in Wien, bzw. in den Villen der Familie in Altaussee und Nizza. In Elternhaus und Schule erfuhr er jene Prägung auf ein christlich-abendländisches, dabei ausgesprochen elitäres Kulturverständnis, dem er sein ganzes Leben lang verbunden bleiben sollte: Als Vertreter eines konsequenten Bekenntnisses zum Katholizismus und zum monarchischen Prinzip, das sich mit einer gesamt-europäisch ausgerichteten humanistischen Bildung und stupender Belesenheit verband. Nach Besuch zweier konservativ-elitärer Mittelschulen – des Jesuitengymnasiums in Kalksburg und des Schottengymnasiums in Wien (parallel dazu erhielt er auch Privatunterricht) – studierte Andrian an der Wiener Universität Rechtswissenschaft, Philosophie und Germanistik.

Als Schriftsteller debütierte er mit Lyrikveröffentlichungen und – gerade zwanzig Jahre alt – mit der Erzählung Der Garten der Erkenntnis (1895). Die dem Symbolismus der Wiener Fin de siècle-Kultur verpflichtete Geschichte um den in einem Konvikt aufgewachsenen jungen Adeligen Erwin, der aus einer zutiefst melancholischen Grundhaltung heraus keine menschlichen Bindungen aufzubauen vermag und schließlich in jungen Jahren nicht frühvollendet sondern unvollendet stirbt, traf offensichtlich einen „Nerv der Zeit“. Die Erzählung wurde zu einem viel gelesenen „Kultbuch“, markierte aber zugleich auch schon das Ende von Andrians literarischem Schaffen. Zwar trug er sich – wie seine privaten Aufzeichnungen belegen – weiterhin mit Plänen für literarische Projekte und nahm intensiven Anteil am literarischen Geschehen – bekannt war bislang vor allem seine lebenslange, in zahlreichen Briefen dokumentierte Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal – auch veröffentlichte er Schriften zu politischen und philosophischen Fragen (letzteres aus einer, dem Renouveau catholique nahe stehenden, neothomistischen Position heraus, die von einer auf Gott hingeordneten, sinnhaften ontologischen Struktur aller Erscheinungen ausgeht); den Weg zurück zur literarischen Produktion fand er jedoch nicht mehr. Ein Grund dafür waren wohl auch Andrians berufliche Verpflichtungen im diplomatischen Dienst der k.u.k. Monarchie, die ihn unter anderem nach Athen, Rio de Janeiro, St. Petersburg, Kiew, Bukarest und Warschau führten. Während des ersten Weltkriegs, den er Anfangs begrüßt hatte, war er Gesandter der österreichisch-ungarischen Regierung in den besetzten polnischen Gebieten. Als bevollmächtigter „Minister“ für Polen nahm er an den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk teil. Die Funktion als Generalintendant der Hoftheater in Wien im letzten Kriegsjahr (Juni bis November 1918) blieb ein Intermezzo. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, den Andrian bis zu seinem Lebensende als verhängnisvolles Unglück bedauerte, zog er sich ins Privatleben zurück, kommentierte aber in zahlreichen Zeitungsartikeln und Essays die österreichische und internationale Politik. Mit seinem gegen die Idee eines Anschlusses an Deutschland gerichteten Traktat Österreich im Prisma der Ideen positionierte er sich 1937 einerseits als Vertreter einer kulturell untermauerten Österreichbewusstseins (Österreich als Ausdruck eines übernationalen Europäertums), andererseits als Anwalt einer antidemokratischen, hierarchisch gegliederten, „ständestaatlichen“ Sozialordnung, die er auch philosophisch-metaphysisch zu rechtfertigen suchte. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 emigrierte er nach Südamerika, 1946 kehrte er nach Europa zurück und ließ sich vorerst in Frankreich, später in der Schweiz nieder, wo er 1951 verstarb.

Leopold von Andrian hat Zeit seines Lebens geschrieben – nach den literarischen Texten der frühen Jahre vor allem politische und philosophische Artikel, die in verschiedenen, heute zum Teil schwer zugänglichen Publikationsorganen veröffentlicht wurden, dazu unzählige, nicht für die Veröffentlichung konzipierte Briefe und vor allem Tagebuchnotizen, einerseits privaten Charakters, in denen der zweimal verheiratete Autor in verschlüsselter Form auch seine homosexuellen Neigungen thematisierte, andererseits aber auch Kommentare zum politischen und künstlerischen Zeitgeschehen. Seinen umfangreichen Nachlass vermachte Andrian testamentarisch dem deutsch-amerikanischen Germanisten Walter H. Perl, der Teile davon – unter anderem den Briefwechsel mit Hofmannsthal1 – veröffentlichte; 1978 gelangte das Konvolut – es umfasst knapp 7400 Einzelstücke, neben eigenen Texten Andrians auch Belegexemplare von Artikeln und Büchern, Kopien fremder Texte, Telegramme und Fotografien – schließlich in das Marbacher Literaturarchiv, wo es im Rahmen eines vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierten Projektes von der Wiener Historikerin Ursula Prutsch und dem in Angers/Frankreich tätigen österreichischen Germanisten Klaus Zeyringer gesichtet und aufgearbeitet wurde. Der im Jahr 2003 publizierte, über 900 Seiten umfassende Auswahlband ist – neben einigen Aufsätzen zu Teilaspekten – das Ergebnis dieses Forschungsprojektes.

War bislang in der Literatur zu Leopold von Andrian entweder der Schriftsteller oder der politische Denker thematisiert worden, so versuchen die beiden Herausgeber – entsprechend ihrer unterschiedlichen fachdisziplinären Orientierung – in interdisziplinärer Weise beide Aspekte zu dokumentieren und so erstmals ein umfassendes Bild dieses Autors zu zeichnen. Sie standen dabei vor der schwierigen Aufgabe, im Verlauf von mehreren Jahrzehnten entstandene Texte (die frühesten stammen aus dem dreizehnten Lebensjahr des Autors, die spätesten entstanden wenige Monate vor seinem Tod) aus unterschiedlichen Textsorten auszuwählen, zu strukturieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Da sich verschiedene Leitmotive von Andrians Auffassungen durch alle seine Texte ziehen, wählten die Herausgeber die ungewöhnliche Form eines im großen und ganzen chronologisch geordneten „Readers“, der Texte unterschiedlicher Art – bereits veröffentlichte, im Prinzip zur Veröffentlichung bestimmte und ihrem Charakter nach private Texte, daneben auch einige Texte anderer Autoren (in der Mehrzahl Briefe an Andrian) – nebeneinander stellt und somit eine aus durchaus unterschiedlichen Quellen zusammengefügte Textsammlung ergibt: Das vorliegende Endprodukt rechtfertigt diese ungewöhnlichen Editionsprinzipien in glänzender Weise.

Die umfangreiche Textsammlung ist eine hochinteressante Quelle sowohl zur Person Andrians, als auch zu bestimmten Tendenzen des politischen und künstlerischen Denkens in Österreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für den primär historisch interessierten Leser mögen etwa die in Zusammenhang mit seinen politischen Obliegenheiten stehende Korrespondenz Andrians, seine Anmerkungen zum polnisch-ruthenischen Nationalitätenkonflikt in Galizien, mit dem er aufgrund seiner politischen Funktionen bestens vertraut war, seine Bemerkungen zum österreichisch-deutschen Verhältnis und die Zeugnisse seines Kontakts zu Otto von Habsburg und der „legitimistischen“ Bewegung in den 1930er-Jahren von vordringlichem Interesse sein. Der eher literatur- oder kulturhistorisch Interessierte wird vor allem die Briefe an und von Schriftstellerkollegen, Literaturwissenschaftlern und auch Komponisten (zu Andrians Korrespondenzpartnern gehörten u.a. Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr, Carl J. Burckhardt, Max Brod, Max Reinhardt, der Germanist Josef Nadler, die Komponisten Richard Strauss und Arnold Schönberg usw.), sowie die zahlreichen Kommentare zur zeitgenössischen Literatur und zur Literaturgeschichte mit Gewinn und auch als Quelle für persönliche, strategisch orientierte „Netzwerke“ lesen. Die Hauptleistung der Textsammlung besteht aber gerade eben darin, eine Gesamtschau des Denkens und Schreibens Andrians und damit auch die wechselseitige Beeinflussung von politischem und literarischem Urteil zu dokumentieren, wobei die Herausgeber dankenswerterweise auch offensichtlich Widersprüchliches stehen lassen, sodass sich „kluge Analysen neben kitschigen Einfältigkeiten, sensible Beobachtungen neben autoritär-elitistischen Phrasen“ (S. 13) finden – die einen sind für den Autor ebenso kennzeichnend wie die anderen.

Die Quellentexte sind in sechs Hauptkapitel gegliedert, die jeweils einen bestimmten Zeitraum in Andrians Leben und Schaffen dokumentieren, wobei jedem dieser Teile eine ausführliche erläuternde Einleitung vorangestellt ist, in der einerseits auf die Biografie Andrians, andererseits auf den zeitlichen Kontext Bezug genommen wird. Ergänzt wird der umfangreiche Korpus an Quellentexten durch gründliche und detaillierte Erläuterungen in den Fußnoten, eine biografische Zeittafel zum Autor und einleitende Erläuterung der Editionsprinzipien, weiters durch Bibliografien der Werke Andrians, seiner (allerdings nicht gerade zahlreichen) Übersetzungen und verschiedener Formen der Sekundärliteratur, sowie durch ein Personen- und Werkregister; dazu kommen ein Bildteil und einige Faksimiles von handschriftlichen Originalquellen. Mit dem Auswahlband von Ursula Prutsch und Klaus Zeyringer ist nun erstmals ein umfassender Blick auf den bislang vor allem als „Namen“ sowohl durch die politische Geschichte als auch durch die Literaturgeschichte Österreichs „geisternden“ Leopold von Andrian geleistet, der weiterführenden Forschungen wohl als unhintergehbarer Ausgangspunkt dienen wird. Dass die Textsammlung über das historische Erkenntnisinteresse hinaus zumindest in Teilen auch in literarisch ansprechender Weise gelesen werden kann, soll dabei nicht unerwähnt bleiben. Negativ zu vermerken ist – einmal mehr – einzig ein Umstand, der nicht in die Verantwortung der Herausgeber fällt, sondern für den der Verlag zu rügen ist: Der Kaufpreis des Buches ist – ungeachtet seines Umfanges, aber vor allem angesichts der Ausstattung als Paperback – derart grotesk überzogen, dass er potentielle Interessenten nur abschrecken kann. Dies muss mit Bedauern als leider immer mehr überhand nehmendes Phänomen des deutschsprachigen wissenschaftlichen Buchmarktes vermerkt werden.

Anmerkung:
1Hofmannsthal, Hugo von, Leopold von Andrian. Briefwechsel, hg.v. Perl, Walter H., Frankfurt am Main 1968.

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