Titel
Les Balkans. De la transition post-ottomane a la transition post-communiste


Autor(en)
Lory, Bernard
Reihe
Analecta Isisiana 40
Erschienen
Istanbul 2005: The Isis Press
Anzahl Seiten
435 S.
Preis
$45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Unter den zahlreichen historischen Parallelen, die im Zuge der Implosion des Sowjetimperiums gezogen wurden, stach diejenige zum Auseinanderfallen des Osmanischen Reiches als besonders erkenntnisträchtig heraus: Ressourcenüberdehnung durch Aufrüstungsdruck sowie Legitimationsschwund durch Partizipationsforderungen der Staatsbürger haben in beiden Fällen zunächst zum Wegbrechen der imperialen Peripherien, sodann zum Kollaps im Zentrum geführt.1 Was im sowjetisch-osmanischen Fall mittels transnationalen Vergleichs ermittelt wurde, projiziert Bernard Lory auf einen einzelnen nationalen Fall, indem er die beiden Transitionsperioden des vor 1878 unter osmanischer Herrschaft befindlichen und bis 1989 unter sowjetischer Dominanz stehenden Bulgarien beleuchtet.

Lory, Maître de conférences am Pariser Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO), ist einer der profiliertesten und produktivsten Südosteuropahistoriker Frankreichs. Mit seiner Monografie “Le Sort de l’Heritage Ottoman en Bulgarie. L‘Exemple des Villes Bulgares 1878-1900” erregte er 1985 nicht nur in der internationalen Geschichtswissenschaft, sondern gerade auch in der nationalistischen Nomenklatura der damals herrschenden Bulgarischen Kommunistischen Partei Aufsehen, ging diese doch zeitgleich daran, ihr osmanische Erbe in Gestalt der ca. einer Million bulgarischer Türken durch Zwangsassimilation auszulöschen. Und Lorys 1996 erschienenes zweites Buch “L’Europe balkanique de 1945 à nos jours” setzte den blutigen Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren bei relativer Stabilität des übrigen Balkans kundig in Bezug zu Zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg.

“Les Balkans” versammelt 35 von Lorys zahlreichen Aufsätzen und Miszellen aus den Jahren 1981 bis 2002, wobei neben den französischsprachigen zwar auch solche in deutscher und englischer, nicht hingegen diejenigen in bulgarischer, makedonischer und serbischer Sprache Berücksichtigung fanden. Den beiden Themenblöcken zu den post-osmanischen und post-kommunistischen Umbruchperioden ist dabei ein dritter zu einem nicht minder tiefen Einschnitt in der Geschichte Bulgariens, nämlich zum Ersten Weltkrieg, zugeordnet.

Teil A, “De la société de millets aux États nationaux: études sur la transition post-ottomane” reicht chronologisch vom 17. Jahrhundert bis in die 1920er-Jahre, doch bildet das 19. Jahrhundert den eigentlichen Schwerpunkt. Die thematische Spannweite geht von der Militär- und Religionsgeschichte über die Literatur- und Kulturgeschichte zur Sozial- und Stadtgeschichte, der regionale Bogen von Novi Sad (Neusatz) in der Vojvodina über Filibe (Plovdiv) in Thrakien und Monastir (Bitola) in Makedonien bis Selânik (Thessaloniki) an der Ägäis. Von besonderem Interesse sind zwei komplementäre Beiträge zu den politischen wie kulturellen Aspekten von Sprache im plurilingualen Südosteuropa. In “Parler le turc dans les Balkans ottomans au XIXe siècle” (S. 47-67) geht Lory der Frage nach, ob Türkisch die lingua franca des osmanischen Balkans gewesen sei. Zwar stellt sich ihm das Türkische als “kultureller Vektor” für die Gesellschaften der Region dar, doch sieht er aufgrund der durchgängigen Bi- bzw. Multilingualität keine Sonderstellung der (arabisch-persisch-)türkischen Amtssprache Osmanisch. Und in der Skizze “L’Empire ottoman face à la montée des langues balkaniques” (S. 61-67) kommt er zu dem Ergebnis, dass das sprachpolitische Konfliktpotential zwischen den türkischsprachigen und nicht-türkischsprachigen Untertanen des Sultans eher gering war. Doppelt gegen den ethnozentrischen Strich bürstet Lory schließlich die bulgarische Nationalgeschichte in der Studie “Ahmed Aga Tamraslijata: The Last Derebey of the Rhodopes” (S. 105-133), in dem er zum einen die muslimischen – türkischen, pomakischen u.a. – Anteile der Geschichte Bulgariens heraushebt und zum anderen die starken Regionalisierungstendenzen im gebirgigen Süden vor, aber auch nach der Nationalstaatsgründung von 1878 bzw. der Vereinigung mit Ostrumelien 1885 betont.

Teil B, “Adjustement identitaires autour de la Première Guerre mondiale”, bietet insofern neue Perspektiven, als hier die vergessene Geschichte der das habsburgisch okkupierte Albanien, den bulgarisch besetzten Süden Serbiens und Griechenland von 1915 bis 1918 durchschneidenden Saloniki-Front eindringlich erzählt wird. Von der Landung eines alliierten Expeditionskorps in Thessaloniki im Oktober 1915 bis zum Einbruch der bulgarischen Truppen bei Dobro Pole im September 1918 lagen sich Franzosen, Griechen, Briten, Russen, Serben und Italiener einerseits sowie bulgarische, österreichisch-ungarische und deutsche Soldaten anderseits nahezu bewegungslos gegenüber. Lediglich einmal kam Bewegung in die Frontlinie, als im November 1916 die Ententetruppen das 1913 serbisch gewordene und 1915 bulgarisch besetzte Bitola einnahmen. Überzeugend setzt Lory dabei das militärische Geschehen vom Herbst 1918 mit den sozialen und politischen Umwälzungen in Bulgarien in Beziehung, die 1919 in der Alleinregierung des Bulgarischen Nationalen Bauernbundes resultierten. In mehrfacher Hinsicht innovativ ist der Aufsatz “Armee und Militärdienst als Faktoren des Wandels von Alltagsleben und Mentalitäten in Südosteuropa” (S. 261-275), in dem er Streitkräfte und Wehrpflicht nur partiell als Modernisierungsmotor und “Westernisierungsagentur” deutet: Zwar wurden hier Köperbewusstsein - einschließlich der ansonsten unbekannten Rechts-Links-Unterscheidung -, Hygiene, Disziplin und Umgang mit Technik eingeübt, doch was davon in Form von Erfahrung in den zivilen Alltag mitgenommen wurde, bleibt Lory zufolge offen. Für am prägendsten hält er das Bewusstsein der ehemaligen Rekruten, dass es außerhalb ihrer üblichen, zumeist ruralen Lebenswelt eine “andere Welt” gibt, in der die Häuser aus Stein gebaut sind, Eisenbahnen und Straßenbahnen fahren sowie Cafés, Kinos und Bordelle zum Aufenthalt einladen.

Den Auftakt von Teil C, “Appréhender la transition post-communiste: l’approche de l’historien” bildet der Abriss “L’histoire bulgare au fil de ses traumatismes: 1878, 1944, 1989” (S. 281-291). (Teil-)Staatsgründung 1878, Sowjetisierung 1944 und “Revolution auf Raten” 1989/90 stellen sich ihm dabei als Wendemarken mit teils mobilisierenden, teils aber traumatisierenden Wirkungen dar. Zugleich unterstreicht er fünf Parallelen zwischen den drei Epochenjahren: (1) Ihnen ging jeweils ein Krieg voraus – der Russisch-Osmanische, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg. (2) In allen drei Fällen kam es zu weit reichendem Elitentausch sowie zu dramatischen Veränderungen im politischen System, die sich in neuen Verfassungen niederschlugen. (3) Grundlegende Änderungen der außen- wie geopolitischen Orientierung – vom Nahen Osten auf die Sowjetunion und schließlich die EU - waren jeweils der Fall. (4) In sämtlichen Fällen kam es zu tief greifenden Umwälzungen der Agrarbeziehungen. (5) Alle drei Umbrüche waren von gewaltigen Migrationswellen begleitet: Nach 1878 flohen zahlreiche Türken und andere Muslime in das Osmanische Restreich, nach 1944 emigrierten fast sämtliche Juden nach Israel und erneut Türken in die Türkei, wie auch 1989 viele Türken in das östliche Nachbarland umsiedelten.

Die frappierendste Parallele aber ist mit Lory der russische Faktor in allen drei Neuanfängen: Die (Teil-)Staatsgründung 1878 erfolgte im Zuge eines zarischen Oktrois gegenüber dem Sultan, den Weg in den Kommunismus bahnte die Rote Armee und die Wende vom Herbst 1989 war eine Reaktion auf die sowjetische Perestrojka. Reizvoll wäre gewesen, die drei staatlichen Wendemarken mit Zäsuren weniger sichtbarer, aber nicht weniger einschneidender Art zu vergleichen, so etwa mit der Vereinigung Bulgariens mit der fast gleich großen autonomen osmanischen Provinz Sarki Rumeli Vilayeti (Ostrumelien) 1885, der verheerenden militärischen Niederlage an der Seite der Mittelmächte 1918 samt diplomatischem Nachspiel in Neuilly 1919 oder der von einem militärischen Putschversuch 1965 ausgelösten Wende vom Nachstalinismus zum Nationalkommunismus.

Gleichfalls außerordentlich gedankenreich ist der Essay “La traversée du communisme en Bulgarie par quatre classes d’âge” (S. 313-327), in dem Lory die Kommunismusperzeption von vier bulgarischen Generationen untersucht und vergleicht. Dabei handelt es sich (a) um die zwischen 1905 und 1920 Geborenen, die den Übergang von der Königsdiktatur in den Stalinismus selbst vollzogen; (b) um die von Krieg und Aufbau des Kommunismus Geprägten der Geburtenjahrgänge 1920 bis 1935; (c) um die zwischen 1935 und 1950 Geborenen und im Staatssozialismus Sozialisierten; sowie (d) um die Jahrgänge 1950 bis 1965, die sich nach den “fetten” 1980er-Jahren unversehens in den “mageren” 1980ern wieder fanden. Seine generalisierenden Ergebnisse schränkt er allerdings am Schluss ein, wenn er die diachrone Unterscheidung nach Alterskohorten durch eine synchrone Differenzierung in Stadt- und Landbewohner, in Nomenklaturaangehörige und “andere” sowie in ethnische Bulgaren und Angehörige von Minderheiten als gleichfalls (gleichermaßen?) prägend einstuft (S. 327).

Die “Geschichtsversessenheit” von Elite und Gesellschaft in Bulgarien, deren konzentriertester Ausdruck die bis heute ad nauseam bemühte Formel vom “fünfhundertjährigem türkischen Joch” ist, exemplifiziert Lory eindrücklich am Beispiel der von Partei und Staat Ende der 1960er-Jahre initiiierten Propagandakampagne “Stote turisticeski obekta v Bulgarija” (Einhundert Tourismusziele in Bulgarien): Jedes Kind, jeder Jugendliche und jeder Erwachsene sollte die 100 prominentesten Erinnerungsorte des Landes besuchen. In seinem Aufsatz “Cent lieux de mémoire pour la Bulgarie” (S. 341-354) demonstriert er, dass diese Ausflugsziele mit wenigen Ausnahmen authentische Orte der Nationalgeschichte waren, hier vor allem solche der nationalrevolutionären Bewegung im Osmanischen Reich, der kommunistischen Bewegung im bulgarischen Nationalstaat sowie des Partisanenkampfes im Zweiten Weltkrieg. 1976 jedoch wurde die Liste beträchtlich überarbeitet und 1987 ein weiteres Mal modifiziert. Jetzt kamen vor allem Orte aus protobulgarischer Zeit sowie solche der mittelalterlichen bulgarischen Reichsbildungen, weiter religiöse Orte wie Klöster und Kirchen und schließlich “bourgeoise”, wie Bürgerhäuser aus dem 19. Jahrhundert oder Kunstmuseen, hinzu. Die Renationalisierung der kommunistischen Erinnerungskultur Bulgariens in den Bereichen Denkmalskultur und Architektur behandelt Lory auch in dem gründlichen Beitag “Le triomphe du national-communisme bulgare: La politique monumentale de 1976 à 1985” (S. 355-373). Dabei hebt er die Rolle der exzentrischen Kulturministerin der Jahre 1975 bis 1981, Ljudmila Zivkova, hervor, die als Tochter des von 1956 bis 1989 amtierenden Partei- und Staatschefs Todor Zivkov sehr weit reichende Gestaltungsmöglichkeiten besaß.2 Die Ministerin, die in Moskau und Oxford studiert und in Sofija im Fach Zeitgeschichte promoviert hatte, überzog das Land mit einem dichten Netz bulgarisch-nationaler, kommunistisch-internationalistischer, religiös-spiritueller sowie mystisch-esoterischer Denkmale, Museen und Memorialkomplexe, die Lory in einer langen Liste akribisch mit Ort, Baudatum, Thema, Bildhauer, Architekt und Angaben zu Einweihung, Größe, Gestaltung u.a. auflistet (S. 368-373). Dass Zivkova 1981, im Jahr der von ihr bombastisch ausgestalteten Feierlichkeiten zum 1300. Gründungstag des bulgarischen Staates, im Alter von nur 39 Jahren überraschend starb, war wohl weniger Ironie des Schicksals als mutmaßlich ein politischer Mord. Ihr erinnerungskulturelles Vermächtnis indes ist bis heute sichtbar, denn aufgrund des starken Akzents auf Nation, Kirche und Mystik blieb die von ihr geschaffene Denkmalskultur auch nach 1989 durchaus gegenwartstauglich. Dies gilt, wie Nikolai Voukov unlängst gezeigt hat, selbst für die unter Zivkova entstandenen explizit “sozialistischen” Denkmalsbauten, nicht hingegen – so zuletzt Maria Todorova - für diejenigen aus der Stalin-Ära.3

Beschlossen wird Bernard Lorys Sammelband mit einer kritischen Studie zu “Geopolitical Illusions and Geographic Reality in the Bosnian Paradigm” (S. 407-432), in der er, gestützt auf die geografische Forschung aus jugoslawischer Zeit, die geopolitischen Phantasmagorien der französischen Medien im Zuge des Bosnien-Kriegs dekonstruiert, sowie mit dem Essay “Ouvrir les yeux sur la pauvreté nouvelle” (S. 419-432), der einen Versuch der Erklärung von Kommunismusnostalgie in einer “Welt der Deklassierten” unternimmt.

Mit seiner Aufsatzsammlung demonstriert Bernard Lory eindrücklich seine breite, langjährige Forschungs- und Publikationstätigkeit sowie seine enzyklopädischen Kenntnisse zu Geschichte und Kultur des neuzeitlichen Südosteuropa. Dass dabei der im Titel aufscheinende Vergleich der post-osmanischen Transitionsperiode mit der postkommunistischen nur ansatzweise unternommen wird, fällt angesichts der sowohl mit den Methoden des Historikers als auch mit denen des Ethnologen gewonnenen Einsichten in das Funktionieren der Gesellschaften der Region kaum ins Gewicht. Lory gelingt das Kunststück, das, was er in seinem Buch über den balkanischen Teil Europas nach 1945 als sein historiografisches Credo formuliert hat, auch seinen Lesern erfolgreich zu vermitteln: “Les Balkans sont complexes, mais non incompréhensible.”

Anmerkungen:
1 Garton Ash, Timothy, Der Niedergang des sowjetischen Imperiums. Reform oder Revolution? Versuch der Vermessung einer neuen politischen Landschaft, in: Lettre international 3 (Dezember 1988), S. 17-28, hier S. 19; siehe auch Barkey, Karen; von Hagen, Mark (Hgg.), After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman and Habsburg Empires, Boulder 1997.
2 Zu Zivkovas Biografie siehe Kerov, Yordan, Lyudmila Zhivkova – Fragments of a Portrait, in: Radio Free Europe Research. Background Report /253 (Bulgaria), 27. Oktober 1980, S. 1-32. Weniger als der Titel verspricht, hält hingegen der Aufsatz von Nedeva Atanasova, Ivanka, Lyudmila Zhivkova and the Paradox of Ideology and Identity in Communist Bulgaria, in: East European Politics and Societies 18 (2004), S. 278-315.
3 Voukov, Nikolai, Beyond the Representation of Power. Monuments of the Socialist Past in Post-1989 Bulgaria, in: Bartetzky, Arnold; Dmitrieva, Marina; Troebst, Stefan (Hgg.), Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918 (Visuelle Geschichtskultur 1), Köln 2005, S. 211-219; zur Stalinzeit vgl.: Todorova, Maria, The Mausoleum of Georgi Dimitrov as lieu de mémoire, in: Journal of Modern History 38 (2006) (im Erscheinen).

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