Cover
Titel
Vergangenheit als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Vierhaus, Rudolf
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 183
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Ramonat, Historisches Seminar, Johann Wolfgang von Goethe-Universität

Der Band mit Aufsätzen von Rudolf Vierhaus spannt einen weiten thematischen Bogen. Das hat der Geehrte im besten Sinne selbst zu verantworten. 1957 erschien seine Dissertation über „Ranke und die soziale Welt“, die immer noch als Standardwerk gelten kann. Zusammen mit Ernst Schulin, der hier noch zu nennen ist, begründete Vierhaus mit diesem Werk eine neue, ernsthafte wissenschaftsgeschichtliche Forschung über Leopold von Ranke, die sich in ihrer Quellenbasis nicht auf die gedruckten Werke Rankes beschränkte. Nur wenige Jahre nach dieser Pionierleistung – Vierhaus hatte sich mit Johannes von Müller und Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt – druckte die Historische Zeitschrift seine bahnbrechende Studie „Faschistisches Führertum. Ein Beitrag zur Phänomenologie des europäischen Faschismus“ (hier S. 224-249). Vierhaus war in großen Schritten von der Gründergeneration der modernen Geschichtswissenschaft zur Zeitgeschichte gelangt. Ein weiterer, hier nicht abgedruckter Beitrag beschäftigte sich schließlich mit „Walter Frank und die Geschichtswissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland“ (HZ 207, 1968), also mit der vorübergehenden, aber auf Endgültigkeit angelegten Zerstörung der wissenschaftlichen und kritischen Kultur in Deutschland, die in der Zeit Rankes, der Brüder Humboldt oder Niebuhrs wenn nicht gegründet, so doch gefestigt und an der neuen Berliner Universität institutionalisiert worden war. Zu allen genannten, Epoche machenden Persönlichkeiten veröffentlichte Vierhaus Studien; über die Brüder Humboldt trug er in jüngster Zeit zu dem Sammelband der „Deutschen Erinnerungsorte“ bei (hier S. 269-288).

Vierhaus kam es bei allen seinen Arbeiten immer auf eine ideengeschichtliche Grundierung an, beispielhaft in den wiederveröffentlichten Beiträgen über den so genannten „politischen Professor“ (S. 302-318) oder die Rolle der Religion in der deutschen Bildungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (S. 289-301). Seine Studie über „Schleiermachers Stellung in der deutschen Bildungsgeschichte“ ist ebenfalls erneut abgedruckt (S. 253-270). Hier kommt es Vierhaus auf eine genaue Einordnung der bildungs- und kulturpolitischen Vorstellungen Schleiermachers an. Die politischen Optionen des aktiven Professors werden klar herausgearbeitet und auf Alternativen, die sich durchaus auch vor der Folie des Hin und Her zwischen universitärer Selbstverwaltung und ministeriellem bzw. staatlichem Machtanspruch lesen lassen, zugespitzt. Es kennzeichnet den Historiker Vierhaus, daß er nach langer eigener Erfahrung in der Wissenschaftspolitik auf die Formationsphase der modernen Universität analysierend zurückblickt. Vierhaus war nach seiner ersten Berufung als Ordinarius im Jahre 1964 maßgeblich am Aufbau der Ruhr-Universität Bochum beteiligt, wie er in einem Interview zu erzählen weiß, das aus Anlaß der Debatten auf dem Frankfurter Historikertag im Jahre 2000 um die Verstrickung der deutschen Geschichtswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus geführt wurde (S. 497-509). Aus den ruhigen, abgewogenen Bemerkungen des historisch gebildeten Zeitzeugen konnte jedenfalls keine der damals für kurze Zeit entstandenen ‚Parteien’ polemischen Honig saugen. Dieses einerseits-andererseits weist den Historiker eben aus – aber nicht als Person, sondern, so würde Vierhaus vielleicht sagen, der sich direkt und indirekt für einen „Objektcharakter der Geschichte“ aussprach, eben als wissenschaftlich genauen „Beobachter“ einer vergangenen Gegenwart, die jedem „einerseits“ ein „andererseits“ anfügt.

Die Dissertation über Ranke erschien 1957 und damit in einer Zeit, als die wissenschaftliche Historie mit diesem Namen (wie man wohl sagen muss: noch) alles im besten Sinne „Unbelastete“ ihrer Zunft verbinden zu können hoffte. Ranke war insofern ein Teil des „anderen“, des besseren Deutschland. Ein Teil der nie untergegangenen Nation der Dichter und Denker. Rankes prima facie unpolitische Art, die sich mit seiner wissenschaftliche Praxis einer kulturhistorisch informierten politischen Geschichte der europäischen Staaten verband, hatte nach 1945 eine besondere Anziehungskraft. Der halkionische Nationalismus des Vormärz, kraftvoll aber nicht chauvinistisch, war zwar in den 1920er-Jahren schon breit wieder entdeckt worden, aber er konnte nach dem Zweiten Weltkrieg aktueller denn je erscheinen.

Mit Ranke hat sich Vierhaus aber auch noch zu einer Zeit beschäftigt, als dieser alles andere als populär war. In den 1970er und 1980er-Jahren erschienen wichtige Studien aus Vierhaus’ Feder, von denen zwei hier erneut abgedruckt sind („Rankes Begriff der historischen Objektivität“, S. 358-369 und „Leopold von Ranke: Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Kunst“, S. 346-357). Vierhaus hat im Beitrag über die „historische Objektivität“ die Leistung vollbracht, Rankes Anliegen einer „unparteiischen“ Geschichte erneut deutlich zu machen. Und das nicht zufällig inmitten der Wirren, die „68“ auch für die Geschichtswissenschaft bedeuteten. Die Sache selbst, Rankes Unparteilichkeit, war ja seit den Arbeiten von Ottokar Lorenz, Paul Joachimsen und – vielleicht vor allem – Otto Vossler unbestritten.

Liest man heute diesen Aufsatz, so zeigen sich doch die Schwierigkeiten der Zeit, die zwar nicht genuin theoretischen, aber doch begrifflich sehr klaren und belastbaren Texte des frühen 19. Jahrhunderts in letzter Konsequenz Ernst zu nehmen, und mit ihnen die idealistische Philosophie, die immer im Hintergrund steht, als eigenständige theoretische Position gelten zu lassen. Ranke dachte eben streng vom Subjekt aus. Geschichte als Historie existierte nicht als Objekt, nicht als Anschauungsmaterial für objektive „Beobachter“, nicht als „Perspektive“. Geschichte war nichts Gegebenes, sondern sie war nur der Forschung zugänglich, sie war eine Aufgabe, ein Problem, eine Erkenntnisleistung. Historische Erkenntnis wurde nur durch Fragestellungen, mithin durch Subjektivität, ermöglicht. Mit der idealistischen Philosophie könnte man formulieren, dass Subjektivität niemals als Verhinderungsgrund, sondern stets als Ermöglichungsbedingung der Geschichte als Wissenschaft angesehen wurde. Vierhaus trennt Subjekt und Objekt, Forschung und Darstellung, Tatsache und Deutung und rückt dann Ranke fast notwendig in die Nähe des Positivismus. Er gleicht dessen Positionen fast wörtlich etwa an die eines Chladenius und den „Sehepunct“ an. Durch die Trennung von Deutung und Tatsache wird Objektivität in dieser Deutung vor allem zu einer Sache des Handwerks, bei dem es gilt, möglichst viele Aspekte zu berücksichtigen und in die Darstellung einzubinden und neben dem einerseits immer auch das andererseits zu nennen. Objektivität ist dann, zugespitzt ausgedrückt, eine additive Totalität; wird sie nicht erreicht, droht Subjektivität. Das sind, zumindest indirekt, Deutungsmuster des so genannten Werturteilsstreits, die heute gelegentlich mit dem Schlagwort „Problem des Historismus“ belegt werden. Mit dem Denken zu Zeiten der Formationsphase der Geschichte als Wissenschaft, mit dem Denken Humboldts, Niebuhrs und des jungen Ranke haben sie wenig zu tun. Auch in der gegenwärtigen philosophischen Debatte spielen sie, das sei nur nebenbei bemerkt, aus mancherlei theoretischen Gründen keine Rolle.

Diese Bemerkungen sollen und können selbstverständlich die Verdienste dieser Arbeiten über Ranke und seine Zeitgenossen nicht schmälern. Aber angesichts einer solch gewichtigen Aufsatzsammlung ist es geradezu geboten, auch über die impliziten, vom Autor gar nicht beabsichtigten Aussagen über den Wechsel der Zeitläufte Auskunft zu geben. Die unbeabsichtigten Wirkungen menschlicher Handlungen, die sich hinter den Rücken der historischen Agenten entfalten, haben Rudolf Vierhaus jedenfalls immer sehr interessiert.

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