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Titel
Sieben Siegel. Essays zur Kulturgeschichte


Autor(en)
Demandt, Alexander
Reihe
Historica Minora 3
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XIII, 337 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang E.J. Weber, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Der dritte Band der Essays des emeritierten Berliner Ordinarius für Alte Geschichte und Verfassers wie Herausgebers zahlreicher, auch fachwissenschaftlich beachteter historischer Sachbücher (Das Attentat in der Geschichte, 1996; Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, 1997) umfasst 21 zwischen 1984 und 2004 entstandene, zumeist für ein breiteres Publikum bestimmte Beiträge. Sein Titel ist der Offenbarung des Johannes bzw. einer Rezeption dieser Bibelstelle durch Goethe in dessen ‚Faust‘ entnommen. Der thematische Bogen spannt sich vom Ursprung des Weihnachtsfestes über diverse Studien zur Antike und Antikerezeption in Europa und den USA sowie zum deutschen Märchen, den Weltreichen in der Geschichte, zur Frage von Nationalkultur und Universalzivilisation, zur Geschichte der Bäume, zum Verhältnis Hitlers zur Antike und zur Geschichte der Universität bis zu Erwägungen zum Unbehagen an der Gegenwart, zur Funktion der Geschichte zwischen Unterhaltung und Belehrung sowie zur Philosophie der Arbeit.

Welche Vorstellungen von Kultur und Kulturgeschichte diesen Erörterungen zugrunde liegen, ist nicht im Vorwort oder in einem Leitbeitrag systematisch entwickelt, sondern bedarf der Rekonstruktion anhand verstreuter Definitionsansätze. Nach ihnen unterscheidet der Autor grundsätzlich einen „weiten“ von einem „engeren“ Kulturbegriff, deren Profile jedoch uneindeutig bleiben. Der allgemeinere Begriff scheint weitgehend mit der konservativ-kulturkritischen Kategorie „Zivilisation“ identisch, die in der deutschen Debatte bekanntermaßen um 1900 konzipiert wurde. Der engere „eigentliche“ Kulturbegriff ist demgegenüber stark, wenngleich nicht wirklich stringent hochkulturell aufgefasst. Seinen Kernbereich machten „Kunst und Literatur, Religion und Wissenschaft“, aber auch „Moral“ und „Sitte“ aus, die zentral an der Erzeugung kollektiver und individueller Identität, entsprechenden Selbstwertgefühls usw. beteiligt sind (besonders S. 176ff., 19: Kultur als „Lebenskunst“). „Strittig“ sei dagegen, „ob Kulturen in und von vorgegebenen Völkern geschaffen werden [...] oder ob nicht umgekehrt [...] sich die Völker durch ihre Kulturen bilden, mit ihrer Kultur entstehen, was mir wahrscheinlicher dünkt“ (S. 178).

Des Weiteren steht zwar fest: „Die Kulturentwicklung folgt einem Schema“, gemeint ist ein Schema des richtig als zentral dargestellten Kulturtransfers und der Kulturrezeption. Dennoch heißt es wenig später nicht weniger apodiktisch: „Kultur entwickelt sich nicht, sondern wird entwickelt. Hier widerspreche ich Leo Frobenius, Oswald Spengler, Konrad Lorenz und all jenen Geschichtsdenkern, die in den Kulturen gleichsam übernatürliche Organismen sehen, lebende Makrosysteme, die sich eigendynamisch entfalten, sich über die kulturschaffenden Menschen stülpen und sie zu ihren Werkzeugen machen.“ (S. 212f.)

Entsprechend unterschiedlich erscheint der Gebrauchswert der in einen ungeheuer weiten Bogen bildungsbürgerlichen Wissens und Beurteilens gespannten, durch die Zwänge ihrer Gattung noch zusätzlich in ihren analytischen Chancen eingeschränkten Beiträge. Einen insgesamt überzeugenden, sehr detailgesättigten Überblick über das Fortwirken der Antike im gegenwärtigen Europa bietet der freilich unhistorisch betitelte Aufsatz "Was wäre Europa ohne die Antike?" (S. 19-35); lediglich im Hinblick auf die Behauptung, Samuel von Pufendorf sei „der früheste Anwalt des demokratischen Gedankens in Deutschland“ gewesen (S. 33), beschleichen den Frühneuzeithistoriker gewisse Zweifel. Diesem Beitrag nahezu ebenbürtig zur Seite stehen die Erwägungen zum römischen Erbe „im deutschen Kulturgut“ (S. 66-77).

Zum Auf- und Abstieg der Weltreiche ist aus dem ursprünglichen Vortrag auf dem Internationalen Historikertag in Montreal (S. 94-116) durchaus auch für den Fachhistoriker etwas zu lernen. Eher Exempla bietet der um Literaturhinweise ergänzte Vortrag zum Kulturvandalismus in Kriegszeiten (S. 117-130). Von neueren Forschungsergebnissen (insbesondere Gr. Weber) profitiert der Wiederabdruck eines Festschriftbeitrags zu den Träumen der römischen Kaiser (S. 131-151). Zu harmonisierend, politisch korrekt und unkritisch wirkt für den Rezensenten der offenbar erfolgreich gewesene Vortrag zum Europabegriff und -gedanken in der Antike (S. 152-173; Erstdruck 2000). Ob die Schlusssätze („Geschichte bedeutet Wandel und Vergänglichkeit. Was ewig währt ist wenig wert.“, S. 208) der zuletzt 2002 gedruckten „Betrachtung“ zum Kulturenkonflikt im Römischen Reich wirklich „zeitgemäß“ (Untertitel) sind oder gerade nicht, dürfte diskussionswürdig sein. Ob die Eiche oder die Linde „der deutsche Baum“ ist (S. 222-233), kann eigentlich nur dann nachhaltiges Interesse beanspruchen, wenn die Wahrnehmungen, Einschätzungen und Sinnstiftungen, die sich für die diversen Gruppen der deutschen Gesellschaft – eben nicht: ‚die‘ Deutschen – mit dem Baumsymbol verbinden, deutlicher und kritischer ausgeführt sind.

Eine quellengesättigte, fachwissenschaftliche Analyse bildet der freilich in jüngster Zeit bereits zweifach, darunter in der Historischen Zeitschrift, abgedruckte Aufsatz zur Wahrnehmung der Antike als Klischee durch Hitler (S. 248-274); hier könnten genauere Herausarbeitungen der Spannungen und Gegensätze zwischen Rombewunderung und Germanentümelei anschließen. Der Kurzvortrag zum historischen Auftreten und – ansatzweise – zur Berechtigung oder Nichtberechtigung von Unbehagen an der (jeweiligen) Gegenwart lässt ‚den‘ Historiker wieder einmal als Inbegriff weiser Bescheidenheit auftreten (S. 275ff.). Auch der Fortbildungsvortrag für Journalisten zu „Geschichte zwischen Unterhaltung und Belehrung“ verknüpft Bedenkenswertes mit dem Verzicht auf höhere argumentative Komplexität im Bereich der (alten) Frage, in welchem Sinne in wie weit denn ‚Geschichte‘ überhaupt ‚belehren kann‘ (S. 280-291). Der kühn ‚Philosophie der Arbeit‘ betitelte Preisverleihungsvortrag ist durch keinerlei aktuelle Erwägung im Hinblick auf Arbeitslosigkeit bzw. Erwerbsarbeitsknappheit angekränkelt (S. 292-309). Dem Vortrag zum Jahrestag der litauischen Universität Vilnius zum Ursprung und zur Entwicklung der europäischen Universität (S. 310-323) fehlt es nicht an prägnanter Souveränität; was ihn eigentlich über das mittlerweile oft durchaus hohe Niveau seiner Gattung hebt, ist jedoch das an derartiger Stelle seltene Eingeständnis: „Unter den typischen Professorentugenden fehlt die Courage“ (S. 322).

Insgesamt ordnen sich die vorliegenden Essays einem mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade abgebrochenen bildungsbürgerlichen mainstream zu. Sie markieren in diesem Rahmen ein unzweifelhaft hohes Niveau und bestechen vor allem durch einen eindrucksvoll weiten Kenntnishorizont. Aus einer aktuellen fachwissenschaftlichen Perspektive zeigen sie jedoch auch Schwächen. Störend wirken die nicht immer (S. 109ff.), aber doch zu häufig unkommentierte Verwendung des Begriffes „Volk“, die unhistorisch-ideologischen Voreingenommenheiten der Zuhörer und Leser, die der Autor keineswegs teilt, Vorschub leisten kann, und wie bereits angesprochen die kaum näher explizierte Verwendung der Konzepte des Kulturtransfers und der Kulturrezeption. Hinzu kommen die Unentschiedenheit der Kulturauffassung und der Verzicht auf deutlichere Reflexion der Konstruktivität jeglicher historischen Erkenntnis. Das hätte auch den nahezu durchgehenden Gestus des überlegenen historischen Lehrers deutlicher durchbrochen, der mit einem modernen diskursiven Wissenschafts- und Historiografieverständnis kaum zu vereinbaren ist. An die Stelle der einen, bildungsbürgerlich-moralisch-patriotischen Geschichte ist längst eine Mehrzahl höchst unterschiedlicher, aber prinzipiell gleich berechtigter Geschichten getreten, wie zumal dem Kulturhistoriker nicht verborgen geblieben sein kann. Von diesem grundlegenden Wandel lässt der Sammelband nur wenig spüren.

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