R. Uertz: Das Katholische Staatsdenken

Titel
Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789-1965)


Autor(en)
Uertz, Rudolf
Reihe
Politik- und kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 25
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
552 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Große Kracht, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Ideengeschichte steht nicht hoch im Kurs. Sie gilt als antiquiert, behäbig, ohne Bezug zur Welt der harten Fakten. Wer sie dennoch betreibt, spricht lieber von „intellectual history“, um zumindest sprachlich auf der Seite der Innovation zu stehen, auch wenn der Wein, der in diesem neuen Schlauch serviert wird, durchaus wie der alte schmeckt. Wenn überhaupt, so wird Geistes- und Ideengeschichte heute zu großen Teilen von Germanisten, Politologen und Kultursoziologen betrieben, während Historiker immer noch von einer methodisch domptierten Sozialgeschichte der Ideen träumen. Was dabei meist zu kurz kommt, sind jedoch die Ideen selbst, denn diese verändern sich nun einmal keineswegs immerzu im Gleichschritt mit der sozio-ökonomischen Interessenlage ihrer Träger. Dies gilt nicht zuletzt für Ideen religiösen Gehalts, wie in der vorliegenden, gewichtigen Arbeit zum Wandel des katholischen Staatsdenkens in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Zweitem Vatikanischem Konzil deutlich wird.

Rudolf Uertz zeichnet in seiner Studie, die aus einer politikwissenschaftlichen Habilitationsschrift an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt hervorgegangen ist, den langsamen Abschied der katholischen Staatslehre von einem ahistorisch konzipierten ‚Gottesrecht’ hin zur Anerkennung und Würdigung eines von der Person her gedachten ‚Menschenrechts’ nach. Erschien gerade der letzte Papst als Mahner und Fürsprecher universaler Menschenrechte, so entsprach das traditionelle Selbstbild des Pontifex noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein eher demjenigen des obersten Interpreten der ewigen göttlichen Rechtssetzung. Neuerungen in der Lehre waren dementsprechend stets nur als Anknüpfung an Altes und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit diesem denkbar. Dieser ‚Kompostierungsprozess’ (Josef Isensee) verdeckte nach Ansicht von Uertz sowohl die Wahrnehmung bestehender Brüche als auch die Möglichkeit eines reflektierten Umgangs mit neuen Erfahrungen. Noch die Verlautbarungen des Zweiten Vatikanischen Konzils waren von diesem Bedürfnis geprägt, „das Neue stets im Einklang mit dem Alten“ zu präsentieren (S. 476), auch wenn hier – besonders mit dem Konzilsdekret über die Religionsfreiheit (1965) – der entscheidende Schritt vom ‚Recht der Wahrheit’ zum ‚Recht der Person’, wie Uertz im Anschluss an ein bekanntes Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde schreibt, getan wurde: Denn das Recht auf Religionsfreiheit bedeutete, das Recht nicht mehr länger auf die göttliche Wahrheit zu gründen, sondern auf das Recht der Person, ihren Glauben in Freiheit zum Ausdruck zu bringen, und sollte sie dabei auch irren. Damit war die Forderung nach einem katholischen Glaubensstaat, in dem Recht und Moral unter Weisung des Lehramtes zusammenfallen sollten, für die katholische Kirche vom Tisch.

Uertz beginnt seine voluminöse Untersuchung dieses langsamen Abschieds mit der Analyse katholischer Reaktionen auf die Ideen von 1789 (S. 33-192). Nach päpstlicher Weisung galten diese durchweg als im Widerspruch zum göttlichen Recht stehend, wie Pius VI. unter Rückgriff auf den Römerbrief (Kap. 13) und die klassische Zwei-Gewalten-Lehre kundtat. Im französischen Traditionalismus (bei de Maistre sowie dem frühen de Lamennais) wurden die offenbarungstheologischen Argumente zugunsten des Ancien Régime noch einmal deutlich verstärkt. Lamennais’ eigene Wandlung vom überzeugten Monarchisten zum Vorkämpfer für Demokratie und Volkssouveränität in den 1830er Jahren änderte laut Uertz dessen fideistische Position, nach der allein die Uroffenbarung Zugang zum göttlichen Recht gewährt, nicht: An die Stelle der „Monarchie von Gottes Gnaden“ trat bei ihm vielmehr eine „Demokratie von Gottes Gnaden“ (S. 99).

Die Sprache des Traditionalismus prägte die kirchlichen Verlautbarungen bis weit über das Erste Vatikanische Konzil (1869/70) hinaus, obwohl hier der Fideismus in theologischer Hinsicht eine klare Verurteilung erfuhr. Stattdessen wurde von nun an die Übereinstimmung von Glauben und Vernunfterkenntnis betont, wobei letztere sich allerdings in der Logik scholastischer Naturrechtstheorien (namentlich in der Nachfolge von Thomas von Aquin) zu bewegen hatte. Diese Engführung der kirchlichen Lehre auf ein letztlich ahistorisch gedachtes ‚natürliches Sittengesetz’, aus dem sich staatlich-rechtliche Ordnungsvorgaben nach Meinung der Kirchenoberen gleichsam von selbst ergeben sollten, drängte alternative Entwürfe katholischen Staatsdenkens immer mehr zurück. So hatten sich nicht zuletzt in Deutschland bereits Jahrzehnte zuvor auf der Grundlage romantisch geprägter Ideen und konkreter politischer Erfahrungen während Revolution von 1848/49 Alternativen zum französischen Traditionalismus ausgebildet, die lehramtlich kaum zur Kenntnis genommen wurden. Uertz erwähnt hier insbesondere Joseph Görres und Wilhelm Emmanuel von Ketteler, die mit ihren Anleihen beim ständischen Konstitutionalismus ihrer Zeit zum Teil weit voraus waren.

Im zweiten Teil seiner Arbeit (S. 193-361) widmet sich Uertz dann eingehend den Staatslehren der oben bereits erwähnten Neuscholastik, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis weit in das 20. hinein den begrifflichen Rahmen nicht nur für die päpstlichen Lehrschreiben, sondern für die katholische Theologie insgesamt vorgab. Als Inaugurator dieser Lehre in Deutschland gerät zunächst der Jesuit Theodor Meyer in den Blick, der die abstrakt-teleologische Denktradition nicht nur wieder belebte, sondern zugleich auch von demokratietauglichen Elementen (wie der Volkssouveränitätslehre der spanischen Spätscholastik) zu reinigen versuchte. Anschließend setzt sich Uertz ausführlich mit den Lehrschreiben Leos XIII. auseinander, mit denen das neuscholastische Denkgebäude erst seine kanonische Fassung erhielt. Auch Leo schloss sich in seiner Ablehnung des liberalen Staatsverständnisses und der Abwehr der ‚christlichen Demokratie’ den Vorgaben der Tradition an, gleichwohl gelang ihm im Konkreten durchaus eine Öffnung hin zu den liberal-demokratischen Gemeinwesen seiner Zeit, wie seine ‚Ralliement’-Politik (die Aufforderung an die französischen Katholiken, die Republik zu akzeptieren) in den 1890er-Jahren zeigt.

Dabei hielt Leo stets am Grundsatz fest, dass die staatliche Gewalt von Gott verliehen wird, allerdings gestand er zu, dass der Träger dieser Gewalt gegebenenfalls durch die Wahl des Volkes designiert werden könne. Diese Unterscheidung zwischen ‚Translation’ und ‚Designation’ bewahrte somit die traditionelle Gewaltenlehre der Kirche; sie ermöglichte später aber auch katholischen Theologen wie Joseph Mausbach und Peter Tischleder, ihre positive Haltung gegenüber der parlamentarischen Verfassung der Weimarer Republik als in Übereinstimmung mit dem Lehramt zu präsentieren. Für die Binnenlegitimation der Zentrumspartei war dies von erheblichem Wert. Versuche wie diejenigen des von Uertz der Vergessenheit entrissenen Moraltheologen Robert Linhardt, angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung die naturrechtlichen Schranken zu überwinden und zu einer Ethik der personalen Menschenwürde vorzustoßen, blieben in Deutschland freilich bis weit über 1945 hinaus die Ausnahme.

Im dritten und letzten Teil seiner Arbeit (S. 363-482) zeichnet Uertz schließlich den Wandel in der katholischen Staatsdoktrin zwischen Pius XII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil nach. Gilt für viele Interpreten der Pacelli-Papst, der am Ausgang des Zweiten Weltkriegs erstmals in der langen Reihe der römischen Oberhirten anerkennende Worte für Demokratie und Menschenrechte fand, bereits als vorsichtiger Modernisierer, so zeigt Uertz, dass Pius in seinen Argumentationsformen weiterhin den klassischen Naturrechtsvorstellungen folgte. Erst mit der Rezeption des christlichen Personalismus, namentlich der Werke von Jacques Maritain und den Vertretern der Nouvelle Théologie, die von Pius 1950 noch deutlich zur Ordnung gerufen worden waren, unter seinem Nachfolger Johannes XXIII. konnte die Generallinie der Neuscholastik Anfang der 1960er-Jahre und im Verlauf des Konzils durchbrochen werden. In Deutschland fand der Personalismus hingegen erst spät Eingang ins theologische Denken, das in den 1950er-Jahren noch allzu sehr von den Auseinandersetzungen zwischen Jesuiten und Dominikanern um die richtige Interpretation des Naturrechts geprägt war.

Rudolf Uertz hat ein gehaltvolles Buch geschrieben, das allen zu empfehlen ist, die sich ein differenziertes Bild über das katholische Staatsdenken im 19. und 20. Jahrhundert verschaffen wollen. Manches konnte man freilich bereits zuvor an anderen Stellen im Einzelnen nachlesen, und Uertz verschweigt nicht, wie viel er den Werken vorausgegangener Interpreten verdankt. So liegt die eigentliche Leistung der Arbeit in der Zusammenschau von fast zweihundert Jahren katholischer Staatslehre, die so umfassend bislang noch nicht präsentiert wurde. Auch geht das Buch entgegen der Selbstbeschränkung im Titel weit über die kirchlich-konfessionellen Positionsbestimmungen in Deutschland hinaus, wie insbesondere das Kapitel zum französischen Traditionalismus, aber auch die breite Auseinandersetzung mit den jeweiligen päpstlichen Lehrschreiben zeigen. Durchaus wünschenswert wäre es daher gewesen, wenn der französische Einfluss (Maritain) gerade für die personalethische Erneuerung im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils ebenfalls etwas ausführlicher in einem eigenen Kapitel gewürdigt worden wäre. Manche Leser mögen außerdem ein Kapitel über das katholische Staatsdenken in der Zeit zwischen 1933 und 1945 vermissen, die Uertz in seiner Untersuchung nicht eigens behandelt. Doch gerade der neuscholastische Denkgestus könnte interessante Aufschlüsse über die theologischen Hintergründe des vieldiskutierten ‚Schweigens des Papstes’ zur Zeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung geben. Aber auch so verlangt Uertz seinen Lesern bereits Einiges an Konzentrationskraft ab, um sich im Labyrinth des lehramtlich „Kompostierten“ nicht völlig zu verlieren: Auch Ideen, ob katholische oder nicht, liegen manchmal übereinander, was ihre Wahrnehmbarkeit nicht unbedingt fördert, ihre Wirkmächtigkeit und Dauer hingegen schon.