G. Weiss: Westfälische Museen im Kaiserreich

Titel
Sinnstiftung in der Provinz. Westfälische Museen im Kaiserreich


Autor(en)
Weiss, Gisela
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 49
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
598 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gudrun-Christine Schimpf, Mannheim

Gisela Weiß untersucht in ihrer Dissertation über die westfälische Museumslandschaft die Funktion des Museums „als zentrale[s] Medium bürgerlicher Selbstvergewisserung und als Segment im Prozess der Modernisierung“ (S. IX). Dazu erweitert sie zum einen die Annahme Hermann Lübbes von der Korrelation zwischen der Dynamik zivilisatorischer Veränderungsprozesse und dem Anwachsen der Museumssammlungen sozial- und kulturgeschichtlich. Zum anderen stützt sie sich, was Fragen der Konstruktion von Identitäten anbelangt, im Wesentlichen auf Studien zum kulturellen Gedächtnis und zur Erinnerungskultur. Sie verfolgt in ihrer Studie keine institutionengeschichtliche Herangehensweise, sondern sucht den Zugang über die jeweils die Museen tragende und formende Gesellschaft. Untersuchungsgrundlage sind in erster Linie die Museen in Münster, Bielefeld, Dortmund und Witten. Darüber hinaus unternimmt Weiß aber auch, wo es die Quellen erlauben, den innerwestfälischen Vergleich mit anderen Museen. Das Schwergewicht der Studie liegt dabei auf (kunst- und kultur-)historischen Sammlungen, die zu vier Hauptfragenkomplexen untersucht werden: den Ursachen und Formen der Museumsbildung, den Prozessen der Institutionalisierung und Professionalisierung, dem Öffentlichkeitsanspruch und Bildungsauftrag, schließlich der Konstruktion nationaler, regionaler und lokaler Identitäten.

Der Einleitung folgen vier Großkapitel, in denen Weiß die verschiedenen ihrer komparatistischen Studie zugrunde liegenden Fragenkomplexe untersucht. Das erste behandelt die Frage der modernen Gesellschaft als „Bewahrgesellschaft“. Hier werden in groben Strichen die unterschiedlichen Ausgangslagen und Entwicklungen der Museumsbildung skizziert sowie auf die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen in Westfalen (alt- und neupreußisch, konfessionelle und sozioökonomische Unterschiede) eingegangen. Außerdem geht Weiß der Frage nach, welche Bedeutung die Industrialisierung für die jeweilige Stadt hatte und ob demzufolge die Museen Bewahranstalten im Lübbeschen Sinne waren. Die Darstellung der Museumsgründungen in den vier Städten erfolgt als geraffte Chronologie, die als Grundlage für die weiteren Kapitel dient. Sie informiert die LeserInnen, ohne sie mit Details zu überfrachten. Dadurch werden allein in der Frage der Trägerschaft bereits grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entwicklung deutlich. Waren die beiden Museen in Münster von Beginn an Provinzialmuseen und wurde die Sammlung in Bielefeld noch vor der Jahrhundertwende kommunal, so erfolgte die Gründung des Dortmunder Museums bereits in kommunaler Regie. In keiner anderen Stadt war die Kommunalverwaltung so engagiert wie in Dortmund, wo die Administration ihre Fürsorgetätigkeit auch auf den kulturellen Bereich ausdehnen wollte und sich dafür auch finanziell engagierte. Im ebenfalls stark industrialisierten Witten übte sich die Stadtverwaltung dagegen in Zurückhaltung. Das Museum blieb Vereinssache, obwohl „Museen [...] gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Prestigefrage wirtschaftlich prosperierender Städte“ (S. 77) waren.

Das zweite Großkapitel befasst sich mit Fragen der Institutionalisierung und Professionalisierung. Der Ausbau der Bürokratie und die Kompetenzausweitung der Verwaltungen wirkten sich auf die Institutionalisierung des Museumsbereichs aus. Museen sollten den gesammelten Objekten auf Dauer Schutz gewähren. Doch selten hielt die Erweiterung der Räumlichkeiten mit dem Sammeleifer der Museumsverantwortlichen Schritt. Der Hinweis Weiß‘, dass die Ausstellungsräume schnell überfüllt waren und eher Magazinen glichen, lässt allerdings unberücksichtigt, dass die Trennung zwischen Schausammlung und Depot Ende des 19. Jahrhunderts in der Regel noch nicht vollzogen war, sondern Museen dem Publikum stets ihre gesamte Sammlung zeigten. 1

In allen Fällen prägten Personen durch ihre Vorarbeiten die Ausgestaltung und Entwicklung des jeweiligen Museums. Sie waren jedoch in ein „Geflecht von Beziehungen, Verpflichtungen und Abhängigkeiten gegenüber dem museumstragenden Verein [...], gegenüber der städtischen oder der provinzialen Verwaltung“ (1 S. 29) eingebunden. Weiß konzentriert sich unter Verwendung des biografischen Ansatzes auf die Museumsleiter und -verantwortlichen. Deutlich wird der Wandel von der ehrenamtlichen zur hauptamtlichen Tätigkeit, die Einbindung der Museen in die städtische Verwaltung sowie die Herausbildung und Veränderung der jeweils verfolgten Sammlungsstrategien. Das Anforderungsprofil an die Museumsverantwortlichen wandelte sich durch den wissenschaftlichen und pädagogischen Auftrag der Museen. Weiß zeigt auf, dass es in Westfalen vor allem Lehrer waren, die ehrenamtlich die Museumsarbeit leisteten, während lediglich bei rein städtischen Gründungen und in den Provinzialmuseen hauptamtliche Kräfte tätig waren. Den ehrenamtlichen Museumsleitern sicherte die Tätigkeit für das Museum einen Platz in der städtischen Oberschicht und bot soziales Prestige, das mit dem Lehrerberuf vor der Jahrhundertwende nicht verbunden war. Neben dem Beruf des Museumsdirektors und schneller als bei diesem kam es zu Professionalisierungen beim übrigen Museumspersonal, so vor allem bei den Aufsichten.

Seit 1875 war die Förderung öffentlicher Sammlungen für die Provinzialverwaltung in Westfalen durch die preußischen Dotationsgesetze obligatorisch geworden, nicht jedoch für die Kommunen und Kreise. Die Kommunalverwaltungen wuchsen jedoch, gedrängt durch Privat- und Vereinsinitiativen sowie einen gesamtgesellschaftlichen Erwartungsdruck allmählich in ihre neue Aufgabe hinein. Eine städtische Trägerschaft bot aus Sicht der Museumsleute durchaus Vorteile. Kontinuität und Schutz der Sammlungen waren gesichert, die Museumsinteressen wurden idealiter gefördert und Leihgebern konnten andere Sicherheiten geboten werden, als dies ein Verein tun konnte. Durch die Einbindung der Museen in die Kommunalverwaltung wirkte sich auch deren Wandel hin zur Leistungsverwaltung auf die Museen aus, die so an Professionalisierung und Spezialisierung Anteil hatten. Aber die kommunale Einbindung brachte auch Nachteile mit sich, wenn Verwaltungsauflagen die Museumsbemühungen hemmten, Entscheidungswege zu lang oder die Ankaufsetats zu eng begrenzt waren. Eine Möglichkeit, trotz dieser Beschränkungen günstige Ankaufsgelegenheiten nicht zu verpassen oder Gefahr zu laufen, nur Mittelmäßiges zu erwerben, auf die der Hamburger Museumsdirektor Justus Brinckmann seine Kollegen hinwies, bot das private Mäzenatentum, das neue Handlungsspielräume eröffnete.

Die Veränderung der Sammlungsstrategie gehört ebenfalls zur Museumsentwicklung des 19. Jahrhunderts. Wurde zu anfangs nach dem Zufallsprinzip und mit enzyklopädischem Anspruch gesammelt, so unternahmen gegen Ende des Jahrhunderts die Verantwortlichen gezielt Erwerbungsreisen, wurden Objekte aus dem Antiquitätenhandel oder bei Auktionen angekauft und weniger wertvolle Sammlungsgegenstände oder Dubletten getauscht oder verkauft. Es ging nun nicht mehr um die enzyklopädische, sondern die repräsentative Vollständigkeit, weshalb Sammlungslücken gezielt geschlossen wurden.

Von Anfang an wurden Museen als Bildungsstätten begriffen, mit denen sich neben dem Öffentlichkeitsanspruch ein Bildungsauftrag verband, der sich aus der Eigenschaft des Museums als bürgerliche Institution ableitete. Inwieweit die westfälischen Museen diesem Auftrag nachkamen, beleuchtet Weiß im dritten Kapitel anhand der Öffnungszeiten und Eintrittspreise, den relativ spärlich überlieferten Besucherzahlen und den ausgestellten Inhalten. Es gelingt Weiß aufzuzeigen, dass die öffentliche Trägerschaft nicht automatisch mit großzügigen Öffnungszeiten gleichzusetzen war und dass die Erhebung von Eintrittsgeldern u.a. dazu diente, „müßige Personen“ (S. 239) fernzuhalten. Infolge der wachsenden Kulturkritik Ende des 19. Jahrhunderts wurde dann die Forderung laut, die Museen für weitere Bevölkerungskreise zu öffnen und zu Volksbildungsstätten zu machen. Damit rücken Fragen der Museumsdidaktik, der Inszenierung von Ausstellungsinhalten und der Zusammenarbeit zwischen Museen und Schulen in den Blickpunkt der Analyse. Als Zielgruppe wurde ab der Jahrhundertwende verstärkt ein Laienpublikum angesprochen. Schließlich entwickelten sich die ersten Museen im frühen 20. Jahrhundert zu Kulturzentren bzw. erweiterten ihren Aktionsradius beispielsweise durch Musikaufführungen oder die Hinzunahme einer Volksbibliothek.

Das letzte Großkapitel beschäftigt sich mit der Konstruktion und Vermittlung nationaler, regionaler und lokaler Identitäten durch Museen im 19. Jahrhundert, da diese „historische Leitbilder (konstruierten), um Orientierung für die Gegenwart zu geben“ (S. 281). Dabei zeigt sich am deutlichsten im Dortmunder Fall, dass es hier um die Vermittlung städtischen Selbstbewusstseins ging und ganz konkret eine lokale Identität konstruiert wurde. Bielefeld und Witten als Städte in altpreußischen Gebieten betonten die Kontinuität der Hohenzollern als Landesherrn und bemühten sich - mangels Exponaten von nationaler Bedeutung - über lokale und regionale Sammlungsgegenstände diesen Inhalt zu vermitteln. Münster wird schließlich als Beispiel angeführt, in dem die in allen untersuchten Museen nach der Jahrhundertwende erfolgte Hinwendung zur zeitgenössischen Kunst besonders eklatant zutage trat und damit das Ende der kollektiven Sinnstiftung eingeläutet wurde. Die zugrunde liegende Idee des Rettens und Bewahrens rückte zugunsten der individualisierten Rezeption von Kunst in den Hintergrund.

Die im Wesentlichen gut lesbare, detailreiche Darstellung endet mit einer Zusammenfassung, in der Gisela Weiß die bereits in der Einleitung skizzierten Ergebnisse noch einmal zusammenfasst. Am wichtigsten ist dabei die Modifizierung der Lübbeschen These: Die Intention der Museumsgründungen war zwar die „Verwahrung, Rettung und Konservierung von Zeugnissen eigener Vergangenheit, die zugunsten des Fortschritts preisgegeben wird“ (S. 29), doch war nicht die tatsächliche Industrialisierung für die Museumsgründungen ausschlaggebend, sondern das Bewusstsein, in einer Zeit des schnellen Wandels zu leben. Daneben zeigte sich, dass Museen „Phänomene der Moderne“ waren, aber auch „Objekte der Modernisierung“ (S. 26), indem sie nicht nur historisches Erbe weiterreichten und einen Kompensationsbedarf erfüllten, sondern sich als Fortschrittsträger erwiesen und damit Anteil an der für die Moderne charakteristischen Ambivalenz hatten.

Abschließend sei noch auf den umfassenden Anhang zu der Studie verwiesen, der sicherlich für weiter gehende Forschungen zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet.

Anmerkungen
1 Vgl. Joachimides, Alexis, Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880-1914, Dresden 2001, S. 31.