G. Rosenfeld: Architektur und Gedächtnis

Cover
Titel
Architektur und Gedächtnis. München und Nationalsozialismus. Strategien des Vergessens


Autor(en)
Rosenfeld, Gavriel D.
Erschienen
Anzahl Seiten
612 S., 86 s/w Abb.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Fuhrmeister, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München

„Die Hakenkreuz-Zierform an so untergeordneter Stelle innerhalb eines schmiedeeisernen Gitters in der fast vernudelten Ausformung weist darauf hin, daß man damals auf ein altes menschliches Idol [...] zurückgriff.“ (S. 423 und Abb. 22) Mit dieser Argumentation rechtfertigte 1978 das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege, weshalb die Hakenkreuzmotive am Luftgaukommando in der Münchner Prinzregentenstraße (seit Mai 1945 Sitz des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft) im Rahmen von Restaurierungsmaßnahmen nicht beseitigt worden waren. Die Situation ist bizarr: Einerseits bedarf nicht nur die viel beschworene kulturelle Identität der Existenz konkreter Objekte, andererseits ist die Zurschaustellung von NS-Symbolen gesetzlich verboten. Einerseits wurden zahllose Bauten des Nationalsozialismus nach 1945 geschleift und damit jeder Auseinandersetzung entzogen, andererseits wurde hier – bei einem erhaltenen Bauwerk – eben diese Chance zur (kritischen) Beschäftigung mit der Vergangenheit von den Denkmalpflegern nicht nur nicht wahrgenommen, sondern das strittige Detail sogar bewusst bagatellisiert.

Diese Konstellation, so die These von Rosenfelds Buch, spiegelt in nuce eine spezifisch Münchnerische Haltung im Umgang mit den architektonischen Zeugnissen des Nationalsozialismus wider. Grundsätzlich überzeugt Rosenfelds Anliegen, den Umgang der bayerischen Landeshauptstadt nach 1945 mit ihrer Vergangenheit als „Hauptstadt der Deutschen Kunst“ (1933) und „Hauptstadt der Bewegung“ (1935) als eigentümliche Besonderheit im Spektrum westdeutscher Wiederaufbaumaßnahmen zu kennzeichnen. In der Tat ist die in München während mehrerer Dekaden aus unterschiedlichen Gründen praktizierte Verdrängung des Nationalsozialismus erklärungsbedürftig. Rosenfelds quellengesättigte Studie kann zahllose Beispiele liefern, die das gesamte Feld der Memorialarchitektur, der denkmalpflegerischen Positionen und der städtebaulichen Modernisierungsprogramme der Nachkriegszeit umfassen. Die deutsche Übersetzung der 1996 an der University of California (Los Angeles) eingereichten und 2000 auf Englisch erschienenen Dissertation ist insofern sehr zu begrüßen, denn gerade der Blick aus der Distanz vermag Strukturen scharf zu konturieren und Spezifika pointiert herauszustellen. Doch obwohl Rosenfeld überfällige Desiderate beherzt anpackt, ist seine Arbeit letztlich nicht auf allen Ebenen schlüssig. Er stellt, kurz gesagt, zwar die richtigen Fragen, aber seine aus den Quellen oder eigener Beobachtung in situ gewonnenen Erkenntnisse können nicht immer überzeugen. Worum geht es Rosenfeld, und weshalb hinterlässt das Buch einen ambivalenten Eindruck?

Rosenfeld will die „wechselseitige Beziehung zwischen der Erinnerung und dem urbanen Lebensraum“ dahingehend untersuchen, inwiefern „das gesamte städtische Erscheinungsbild die Erinnerungen an die Vergangenheit der Stadt repräsentiert“ (S. 11). Diese Fragestellung ist an sich nicht neu, doch die erinnerungspolitisch akzentuierte Kombination von Architektur-, Stadt(planungs)- und Zeitgeschichte in dieser Breite und Tiefe ist ein Novum, zumindest für München: Was besagt die Rezeption von Architektur über das Geschichtsbild einer Gesellschaft? Konkret geht es darum, in welchem Maß urbane Phänomene (von städtebaulichen Strukturen über Rekonstruktionen und Restaurierungen bis zu Details einzelner Denkmäler) Rückschlüsse auf mentale Dispositionen hinsichtlich der „Vergangenheitsbewältigung“ erlauben. Es gehört zu den Verdiensten von Rosenfelds Studie, den eminent dynamischen Charakter dieser Auseinandersetzungen zu veranschaulichen: Das von der nationalsozialistischen Vergangenheit entworfene Bild wird in jeder Generation neu ausgehandelt und den Bedürfnissen nach Traditionsbildung und Identitätsstiftung angepasst.

Leider neigt Rosenfeld zu Simplifizierungen. So teilt er die Münchner Nachkriegszeit kurzerhand in drei Phasen: 1. Restauration, 1945-1958, 2. Moderne, 1958-1975, und 3. Postmoderne, 1975-2000. Jede dieser drei „Epochen“ (S. 32) oder „Perioden“ (S. 459) behandelt Rosenfeld in drei bzw. vier Kapiteln, ohne dass die Periodisierungen indes nachvollziehbar begründet werden. So diagnostiziert Rosenfeld für das Jahr 1958 den Beginn einer „liberalen Politik“ (S. 33), ungeachtet absoluter konservativer Mehrheiten, und assoziiert die Zeit von 1958 bis 1975 ohne begriffsgeschichtliche Problematisierung mit dem ausgesprochen vielschichtigen Terminus „Moderne“. Sie sei „circa 1975“ in eine neue Phase übergegangen, welche „bis heute, dem Beginn des [sic!] Postmoderne, an[halte]“ (S. 33). Symptomatisch für Rosenfelds Streben nach plakativer Prägnanz ist auch seine Formulierung, dass „Hitlers Machtergreifung [...] das Ende der Moderne in Deutschland“ bedeutet habe (S. 95); die einschlägige, um Differenzierung bemühte Forschung1 wird zwar knapp diskutiert (S. 101), aber auf der Gliederungsebene des Buches wird der Klarheit suggerierende Frontverlauf zwischen „Traditionalisten“ und „Modernisten“ betont. Dies erstaunt umso mehr, als Rosenfelds Fallbeispiele die Komplexität und Widersprüchlichkeit vergangenheitspolitischer Positionen durchaus erkennbar werden lassen.

Anders als der zweite Untertitel „Strategien des Vergessens“ andeutet, sind Phänomene der Verdrängung und der selektiven Erinnerung keineswegs immer Resultate bewussten Kalküls. Ärgerlich ist zudem Rosenfelds gebetsmühlenhaft wiederholte Einschätzung, in diesem oder jenem Verhalten zeige sich eine „Unfähigkeit zu trauern“. Der berechtigte Furor des Autors lässt ihn mitunter über das Ziel hinausschießen – ein Beispiel: „Als Folge der beiden vorherrschenden Strategien der ‚Normalisierung’ oder des Abbruchs von Gebäuden ist zu verzeichnen, dass das Münchener Stadtbild heute weniger NS-Bauten aufweist als in der unmittelbaren Nachkriegszeit.“ (S. 509) Sollten es etwa mehr geworden sein?

Ein weiterer grundsätzlicher Kritikpunkt sind handwerkliche Schnitzer und terminologische Ungenauigkeiten. So ist die Rede von „transparenten Materialien wie Glas und Stahlbeton“ (S. 546, ähnlich S. 114) sowie von „dekorativen Wandbehängen aus Gobelin“ (S. 118). „Denkmal“, „Mahnmal“ und „Monument“ sind für Rosenfeld offenkundig synonym (S. 587). Das nationalsozialistische Hoheitszeichen ist kein „Reichsadler, der auf einem Lorbeerkranz mit Hakenkreuz sitzt“ (S. 138, vgl. Abb. 23), sondern der Adler hält einen Kranz aus Eichenblättern in seinen Fängen. Auf der Ludwigstraße steht keine „Siegessäule“ (S. 51), sondern das Siegestor. Bei Bronzetafeln mit erhabener Schrift kann man nicht von „eingravierten“ Texten sprechen (S. 83, 140, 159). Das Bismarckdenkmal am Deutschen Museum stammt nicht von nicht von Fritz Behm (S. 186), sondern Behn, und es ist nicht 75 m, sondern 7,5 m hoch. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Hinzu kommen Ungenauigkeiten, die nicht dem Autor anzulasten sind: Der Verlag hat die Übersetzung nicht lektoriert. So gibt es gar nicht übersetzte Passagen (S. 215, 588) neben unnötigen Anglizismen (etwa München als „nationales Hauptquartier der NSDAP“ [S. 29, 146], für „national headquarters“), unvollständige oder um mehrere Ziffern verrutschte Fußnoten (S. 369, 493ff.), falsche Abbildungsverweise (S. 417), zahllose Trennfehler und falsche Namen. Das „Dritte Reich“ wird mal mit Anführungsstrichen, mal ohne geschrieben, „Machtergreifung“ hingegen immer ohne. Die offenkundig automatisierte Textverarbeitung hat zudem zu Ungetümen wie „RekoNS-truktion“ und „HaNS-Jochen Vogel“ geführt.

Dennoch: Dieses Buch ist trotz seiner vielen konzeptionellen und editorischen Mängel nötig und wichtig. Indem es die ebenso hanebüchene wie starrköpfige Verleugnungshaltung der Nachkriegszeit in München in gebotener Deutlichkeit herausarbeitet, kann es helfen, das heutige Problembewusstsein für urbane Erinnerungsorte zu schärfen. Zum einen erscheint mir Rosenfelds Differenzierung von vier „Typen“ von Rekonstruktion2 sinnvoll für virulente Diskussionen etwa um den „Wiederaufbau“ des Berliner Stadtschlosses: Welches Bild der Vergangenheit soll warum festgeschrieben werden? Zum anderen ist die von ihm kritisierte Schieflage selten so ausführlich dokumentiert worden: Insgesamt wurden in München seit 1945 111 Mahnmale errichtet, davon nur eines, „das explizit an die Täterschaft der Deutschen erinnert. Die übergroße Mehrheit der Gedenkzeichen ist den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet. Rund die Hälfte aller Mahnmale, die in der Nachkriegszeit in München errichtet wurden, soll an den deutschen Widerstand erinnern [...]. Neun von zehn Mahnmalen wurden für [nichtjüdische] deutsche Opfer errichtet, eines von zehn Mahnmalen wurde für jüdische Opfer errichtet“ (S. 511). Nicht nur diese Bilanz erlaubt es, weiter Kritik zu üben am „Image einer Stadt ohne Täter, einer Stadt, in der es nur Opfer gibt“ (S. 202).

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Nerdinger, Winfried (Hg.), Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993.
2 Exakte Rekonstruktion (S. 284-294), „Revisionistische“ Rekonstruktion (S. 295-303), Ex-Nihilo-Rekonstruktion (S. 304-313) und „Rekonstruktion der Ruinen“ (S. 313-320). Letztere meint allerdings eben keine Wiederherstellung, sondern die Konservierung eines ruinösen Zustands, und ist insofern ein weiterer Beleg für Rosenfelds Tendenz, sprachliche Präzision einer plakativen begrifflichen Symmetrie zu opfern.

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