S. Schinz: Sitte, Moral, Anstand und das Phänomen öffentliche Meinung

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Titel
Sitte, Moral, Anstand und das Phänomen öffentliche Meinung im England des 18. Jahrhunderts.


Autor(en)
Schinz, Simone
Reihe
Publizistik im Gardez! 5
Erschienen
Remscheid 2004: Gardez! Verlag
Anzahl Seiten
428 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Wirsching, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg

An Arbeiten zum Thema „Öffentlichkeit“ und „öffentliche Meinung“ im England des 18. Jahrhunderts herrscht kein Mangel. Der von Jürgen Habermas einst reklamierte historische „Modellfall“ einer neuen Kategorie bürgerlicher Öffentlichkeit ist inzwischen eingehend erforscht worden, woran sich neben angelsächsischen auch deutsche Historiker maßgeblich beteiligt haben. So vielgestaltig das dabei entstandene Bild auch ist, so herrscht doch Einigkeit darüber, dass der Öffentlichkeit im England des 18. Jahrhunderts auch dann eine herausragende Rolle zukam, wenn ihre Struktur und Ergebnisse längst nicht immer einen „rationalen Diskurs“ abbildeten.

Gegenstand und Fragestellung der hier besprochenen Studie, einer Mainzer sozialwissenschaftlichen Dissertation, können also nicht in jeglicher Hinsicht Originalität beanspruchen. Ein gewisses Interesse gewinnt die Arbeit aber durch den Versuch, eine kohärente Theorie zur Entstehung und Funktion von Öffentlichkeit zu entwickeln und sie am Beispiel Englands im 18. Jahrhundert auf ihre Validität hin zu prüfen. Dabei setzt sich die Verfasserin dezidiert von dem als „Elitekonzept“ bezeichneten Modell bürgerlicher Öffentlichkeit ab und stellt ihm ein „sozialpsychologisches Integrationskonzept“ entgegen. Unter Rückgriff auf Locke und Durkheim sowie angeregt durch Elisabeth Noelle-Neumann 1 versteht die Verfasserin darunter eine gleichsam anthropologische Grundkonstante und zugleich die Folgen ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Entscheidend ist einerseits das menschliche Grundbedürfnis, in seiner sozialen Umgebung nicht negativ „aufzufallen“; eben dies aber erzwingt andererseits soziale Kontrolle durch die stets mögliche Sanktion, nicht normkonformes Verhalten publik zu machen und an das Licht der „Öffentlichkeit“ zu zerren. Dieser Mechanismus sei es, so die Verfasserin, der die öffentliche Meinung überhaupt erst entstehen lasse und sie sowohl zur Kontrolle wie zur Tradierung allgemeiner moralischer Standards und Verhaltenskodizes befähige. Die Öffentlichkeit und die in ihr dominierende Meinung transportieren mithin Normen und Werte, an denen sich die Gesellschaft orientiert. „Der enorme Druck, den die Öffentliche Meinung auf die Individuen ausübt, um sie zu normkonformem, moralischem Verhalten zu bewegen, sichert die Gesellschaft. Moral stabilisiert die gesellschaftlichen Institutionen und ihre sozialen Strukturen. So wird menschliches Zusammenleben überhaupt möglich.“ (S. 53) Nur die systematische Einbeziehung von Sitte, Moral und Traditionen erlaube demzufolge auch eine adäquate Definition und Untersuchung des Phänomens „öffentliche Meinung“. In durchaus erwägenswerter Weise werden damit ältere Modelle, die – wie bei Habermas – von einer dem englischen Fall eben nicht wirklich angemessenen, neuzeitlichen Trennung von Staat und Gesellschaft ausgehen, kritisch befragt. Die Grenzen von „öffentlich“ und „privat“ lassen sich neu reflektieren und gegebenenfalls auch neu vermessen.

In mehreren Durchgängen sucht Simone Schinz diesen Theorieansatz empirisch zu untermauern und zu verifizieren. Sie findet ihn zunächst ganz grundsätzlich bestätigt in der bestimmenden Rolle, die Ehre und Reputation als „symbolisches Kapital“ im England des 18. Jahrhunderts spielten; der enge Zusammenhang zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, den das zugrunde liegende Modell nahe legt, wird etwa anhand der Erziehung des „Gentleman“ oder der ebenso rollenmäßig festgelegten „Ehre der Frau“ exemplifiziert.

Ein zweiter Durchgang dient der Funktion der öffentlichen Meinung im politischen Raum. An bestehende Forschungen anknüpfend und die einschlägigen Quellen (William Temple, Bolingbroke, Cato’s Letters u.a.) erneut resümierend, legt sie die hohe Bedeutung dar, welche der Öffentlichkeit im Gefolge der Revolution von 1688 beigemessen wurde. Die Öffentlichkeit galt als Quelle politischer Legitimation und war Schauplatz eines beständigen Ringens der politischen Kräfte um die Kontrolle der Medien und den entsprechenden Einfluss. Ihrem Modell entsprechend betont die Verfasserin dabei den stets engen Konnex zwischen Politik und Moral, den sie in ihrem Untersuchungszeitraum beobachtet. Auch im politischen Bereich diente die öffentliche Meinung daher vornehmlich der sozialen Kontrolle, die das Handeln des Einzelnen legitimierte, aber auch begrenzte.

Ein dritter Gedankengang ist schließlich der Reflexion der Kategorie der Öffentlichkeit in der britischen (eher schottischen als englischen) Moralphilosophie gewidmet. Im Zentrum stehen die Schriften der Klassiker Shaftesbury, Francis Hutcheson, David Hume, Adam Ferguson und Adam Smith. Ganz im Sinne des „sozialpsychologischen Integrationskonzepts“ wird der Mensch schon hier, wie die Verfasserin darlegt, als soziales und doch zugleich von „egoistischen“ Interessen geleitetes Wesen betrachtet. Die Balance zwischen beidem ermöglicht soziale Steuerung und gesellschaftliche Integration. Diese Lesart der schottischen Moralphilosophen ist nun allerdings wahrlich keine Überraschung, sondern bereits vielfältig beschrieben worden. Gleiches gilt für die ebenfalls längst bekannte Erkenntnis, dass die untersuchten Sozialphilosophen die öffentliche Meinung als eine zentrale und gesellschaftlich maßgebliche Instanz betrachteten. Für das Konzept der Autorin ist der Durchgang durch die schottische Moralphilosophie freilich wichtig, weil sie mit ihm zeigen kann, dass auch hier der Gedanke der sozialen Kontrolle durch öffentliche Meinung „explizit“ genannt ist (S. 319). Ihre Funktionsbeschreibung der öffentlichen Meinung erfährt somit eine zeitgenössische Bestätigung.

Von der ausschließlich auf gedruckten Quellen beruhenden Arbeit sollte man keine für sich genommen neuen empirischen Kenntnisse erwarten. Untersuchungsgegenstand und -zeitraum sind hierfür ohnehin zu umfangreich. Und vielleicht wäre dies auch nicht das Entscheidende für eine sozialwissenschaftliche Dissertation, die einen expliziten Theorieansatz historisch zu entfalten und zu untermauern sucht. Allerdings stellen sich auch in dieser Beziehung Fragen, und zwar nicht nur, weil die Substanz des „sozialpsychologischen Integrationskonzepts“ keineswegs so innovativ ist, wie in dieser Arbeit beansprucht.2 Probleme wirft vor allem die Einseitigkeit auf, mit der sie das komplexe Thema der Öffentlichkeit ihrem Theorieansatz unterwirft. Entscheidende Forschungsfragen zur Geschichte des 18. Jahrhunderts in England, werden somit gar nicht thematisiert und aus der Theoriebildung eliminiert. Dies gilt zum Beispiel für die große, von John Brewer und anderen eingehend geführte Auseinandersetzung mit Lewis Namiers Leugnung der Wirksamkeit einer öffentlichen, ideologisch und moralisch aufgeladenen Sphäre in der englischen Politik des 18. Jahrhunderts.3 Dies gilt auch für die von der Verfasserin beiläufig erwähnte Frage (S. 112) nach einer „plebejischen Öffentlichkeit“, die ihren eigenen, sozio-kulturell vermittelten Logiken und Sinnsystemen folgte, gegen Ende des 18. Jahrhunderts aber dem Einfluss spezifischer politischer „Aufklärung“ unterlag.4 Und dies gilt weiterhin für das Problem, wie das unreformierte Wahlsystem des 18. Jahrhunderts zu beurteilen sei. Die Feststellung der Verfasserin: „Wahlen waren ein Ausdruck Öffentlicher Meinung“ (S. 253), bedürfte angesichts der grotesken Wahlarithmetik zumindest eines Kommentars. Und schließlich lässt sich auch die Konzeption von Öffentlichkeit durch die schottische Moralphilosophie wohl kaum auf den Aspekt der sozialen Kontrolle beschränken. Unter den Tisch fällt hier insbesondere der bei fast allen Autoren, von David Hume bis Dugald Stewart, anzutreffende Entwicklungsgedanke, der die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung als bürgerliche Fortschrittsgeschichte und in diesem Kontext die Öffentlichkeit sehr wohl auch als kritisch-emanzipatives Organ der „commercial society“ begriff.

Mithin vertritt die Arbeit doch eine allzu eindimensionale Sicht der englischen Gesellschaft und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Dies nützt zwar der Theorie, schadet aber dem empirischen Gegenstand, indem seine Komplexität über Gebühr reduziert wird.

Anmerkungen:
1 Die Verfasserin ist entscheidend beeinflusst von Elisabeth Noelle-Neumanns Schriften, insbesondere über: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München 2001.
2 Nicht weniges, was die Autorin über die öffentliche Meinung als sozial normierender und Werte generierender Instanz schreibt, lässt sich z.B. bereits nachlesen bei: Quinlan, Maurice J., Victorian Prelude. A History of English Manners 1700-1830, New York 1941.
3 Brewer, John, Party ideology and popular politics at the accession of George III, Cambridge 1976.
4 Lottes, Günther, Politische Aufklärung und plebejische Öffentlichkeit. Zur Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert, München 1979.

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