M. Klundt (Hg.): Ein Untergang als Befreiung

Cover
Titel
Ein Untergang als Befreiung. Der 8. Mai 1945 und die Folgen


Herausgeber
Klundt, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut König, Institut für Politische Wissenschaft, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Der anzuzeigende Sammelband will in die Auseinandersetzungen um die Bewertung und Benennung des 8. Mai eingreifen; er ist in drei Teile gegliedert. In der ersten Abteilung mit dem Titel „Untergang“ berichtet Günter Judick aus der Perspektive der kommunistischen Arbeiterbewegung und im Stile einer Geschichtserzählung, wie es zum Untergang der Weimarer Republik kam und wie das NS-Regime 1945 besiegt wurde. Der wirkliche Untergang hat sich nach Judick 1933 mit der Niederlage der Arbeiterbewegung und der Zerschlagung der Weimarer Republik zugetragen. Der Herausgeber Michael Klundt referiert diese These zustimmend in seiner Einleitung. Warum das Buch dann aber doch „Ein Untergang als Befreiung“ heißt und diese Begriffe auf den 8. Mai 1945 bezogen werden, bleibt sein Geheimnis.

Die zweite Abteilung unter dem Titel „Befreiung“ enthält acht Beiträge; sieben davon sind Erinnerungsberichte (von Peter Gingold, Gerhard Leo, Werner Knapp, Stefan Doernberg, Hanna Podymachina, Esther Bejarano und Hermann Kant). Die Zeitzeugen berichten über ihre Tätigkeit und Erfahrungen unter anderem in der französischen Résistance, in der tschechoslowakischen Brigade der britischen Streitkräfte und in der Roten Armee. Diese Texte sind in meinen Augen die beeindruckendsten Beiträge des ganzen Buches. Man liest sie nicht ohne Bewunderung für die Radikalität, für die Konsequenz in den Haltungen und Handlungen, für die Bereitschaft dieser Männer und Frauen, ihr Leben im Kampf gegen den Nationalsozialismus einzusetzen. Im einzigen analytischen Beitrag dieser Abteilung setzt sich Kurt Pätzold mit den Feierlichkeiten des Jahres 2004 zur Erinnerung an den D-Day auseinander. Er vertritt die These, dass in ihnen eine Geschichtsverbiegung „auf russische Kosten“ (S. 53) stattgefunden habe. Generell ist für ihn die deutsche Gedenkkultur auf den Hund gekommen.

Die dritte Abteilung unter dem Titel „Und danach“ versammelt Beiträge von Michael Klundt, Gerhard Stuby, Jörg Wollenberg und Hanna Behrend. Der Herausgeber Klundt setzt sich insbesondere mit der Totalitarismusdoktrin auseinander und bemüht sich redlich, wenn auch wenig überzeugend, dem Konzept des Antifaschismus neues Leben einzuhauchen. Mit dem Totalitarismusansatz müsse es zwangsläufig „zur Einebnung des Gedenkens an die faschistischen Verbrechen, zu deren Relativierung und Verharmlosung kommen“ (S. 153). Stuby beschäftigt sich in seinem Beitrag aus der Perspektive des Völkerrechts mit dem 8. Mai 1945 und unterzieht das jüngere Verhalten der Bundesrepublik in einigen außenpolitischen Feldern der Kritik. Unter dem Titel „Der Mythos von der Stunde Null“ beklagt Wollenberg nicht anders als seine Mitautoren die angeblich drohende Nivellierung, Relativierung und Verdrängung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik. Die Beschäftigung mit dem Stalinismus habe in der neuen Bundesrepublik eine solche Dominanz gewonnen, dass die Verbrechen des NS-Staates dahinter verschwunden seien. Wollenberg lässt auch die Beiträge und Diskussionen aus der Zeit unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 Revue passieren und beklagt, dass die Gnade der Stunde Null nicht genutzt worden sei.

Behrend schließlich meint in ihrem Vergleich der „Vergangenheitsbewältigung“ von Bundesrepublik und DDR, dass in den 40 Jahren der DDR ein „beachtliches genuin antifaschistisches Potential“ entstanden sei (S. 236), während sich der Antifaschismus im Westen in Wiedergutmachung und political correctness gegenüber Israel erschöpft habe. Die DDR sei rigoros gegen NS-Verbrecher vorgegangen, die Bundesrepublik habe Weißwäscherei betrieben. Kurz: Behrend schreibt noch einmal eine Skandalgeschichte der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung, die wahrlich zu viel Empörung Anlass geben kann. Nur vergisst sie die simple Frage zu stellen, wieso die Bundesrepublik dann doch keine Neuauflage des NS-Staats und die DDR trotz soviel angeblicher Radikalität gegenüber der NS-Vergangenheit eine Diktatur wurde. Voller Missbilligung spricht sie ferner von dem Aufwand, den die Bundesrepublik bei der Delegitimierung der DDR nach 1989 getrieben habe. Diesen Aufwand hält sie für ganz und gar überflüssig. So schlimm sei es in der DDR doch nicht gewesen; die Bespitzelung der eigenen Bevölkerung sei eigentlich ganz gut gemeint gewesen. Die in der Bundesrepublik praktizierte Kriminalisierung der Bespitzelungspraxis verschleiere, „dass alle Staatsapparate in der DDR, allen voran der SED-Parteiapparat, alles daransetzten, den selbstverschuldet nicht vorhandenen zivilgesellschaftlichen Konsens durch Bespitzelung möglichst vieler Bürger auszugleichen“ (S. 252). Ein Tor, wer solch redliches Bemühen um das „Ausgleichen“ ernsthaft kritisieren wollte!

Der gemeinsame Nenner aller Beiträge besteht in der These, dass die Erinnerungskultur der Bundesrepublik dabei sei, alle Deutschen in Opfer zu verwandeln und damit zu exkulpieren.1 Über diese Sicht kann man diskutieren, und die Indikatoren, die für die These sprechen sollen, werden wiederholt aufgezählt: die geschichtsvernichtenden Sendungen von Guido Knopp, die einschlägigen Bücher von Günter Grass und Jörg Friedrich, Bernd Eichingers „Untergang“, Martin Walsers Paulskirchenrede usw. Das Dumme ist nur, dass kein Beitrag des vorliegenden Bandes in der Lage ist, aus der Behauptung mehr als eine Behauptung zu machen. Dazu müsste man zumindest die aufgezählten und inkriminierten Teile der Erinnerungskultur auf das Ganze beziehen, also fragen, ob man hier wirklich pars pro toto nehmen kann. Und es wäre nicht schwer, gegen misslungene und hoch fragwürdige Elemente der Erinnerungskultur ganz andere Ereignisse ins Feld zu führen, die das in diesem Band gezeichnete Bild erheblich korrigieren könnten.

Zudem wäre es nicht schlecht, wenn gelegentlich über die Kriterien der Beurteilung und über den Ort, von dem aus beobachtet und verurteilt wird, nachgedacht und Rechenschaft abgelegt würde. In den Beiträgen dieses Buches werden stattdessen die ermüdenden Schlachten des Kalten Krieges noch einmal geschlagen. Sämtliche Autoren wissen immer ganz genau, wie Gut und Böse verteilt sind. Sie diskutieren nicht, sondern dekretieren. Das ist steril und lohnt die Lektüre nicht.

Das alles ist umso bedauerlicher, weil ein weiterer Gedanke, der die Autoren dieses Buches eint, wirklich bedenkenswert ist und hohe Aufmerksamkeit verdiente. Ich meine damit die Frage nach der Rolle, die die Sowjetunion und ihr Beitrag bei der Bekämpfung und Besiegung des Nationalsozialismus in der deutschen Erinnerungskultur einnehmen. Denn natürlich gibt es blinde Flecken im vorherrschenden deutschen Geschichtsbewusstsein – und das Verhältnis zum Osten, zur Sowjetunion, zu Russland gehört mit Sicherheit dazu. Die Deutschen werden es den Russen nie verzeihen, dass diese sie vom Joch der Nazi-Barbarei befreit haben. Und sie sind ihnen überaus dankbar dafür, dass sie ganz schnell eine diktatorische Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa errichtet haben – so brauchte eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Verhältnis zum Osten hierzulande gar nicht erst in Gang zu kommen.

Aber um diese Ambivalenzen und Logiken der deutschen Gedenkkultur zu erhellen, bedürfte es ganz anderer Blicke und Analysen als der dogmatischen Begriffsstutzigkeiten, die in diesem Buch über weite Strecken vorherrschen. Die Lücken, Blindheiten und Asymmetrien des kollektiven Gedächtnisses in Ost und West und im neuen Europa lohnen eine differenzierte Analyse. Wer sie mit Aussicht auf Erfolg beginnen will, muss vorher die heiligen Kühe des Sozialismus schlachten, die im vorliegenden Band noch einmal durch die Buchseiten getrieben werden. Die Freunde der verblichenen DDR, die in diesem Buch das Gros der Autoren stellen, sind meilenweit davon entfernt, derartige Sakrilege zu begehen. Sie sind zu sehr mit sich und ihrem Schmerz über den ungerechten Gang der Weltgeschichte beschäftigt, der die DDR, die Sowjetunion und den ganzen Sozialismus untergehen ließ. Das hat sie offenkundig auch daran gehindert, die gedächtnistheoretischen Diskussionen zur Kenntnis zu nehmen, die seit gut 20 Jahren im Gange sind und ohne die es kaum möglich sein dürfte, die deutsche Erinnerungskultur und die Debatten über die Bedeutung des 8. Mai zu analysieren.

Anmerkung:
1 Siehe zuvor bereits Klundt, Michael (Hg.), Heldenmythos und Opfertaumel. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen im deutschen Geschichtsdiskurs, Köln 2004 (rezensiert von Nina Leonhard: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-063>).

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