W. Schluchter u.a. (Hgg.): Asketischer Protestantismus

Titel
Asketischer Protestantismus und 'Geist' des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch


Herausgeber
Schluchter, Wolfgang; Graf, Friedrich Wilhelm
Erschienen
Tübingen 2005: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Laube, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek Hannover

Beeindruckt vom diesjährigen Papst-Hype und seiner massenmedialen Inszenierung äußerte im Gespräch mit der ‚taz’ der Münchner Soziologe Armin Nassehi die Vermutung, dass der Katholizismus im Vergleich zum Protestantismus ein Modell anbiete, das besser zur Selbstbeschreibung der Moderne passe. Während der Katholizismus seine Zustimmung in der nachbürgerlichen Gesellschaft aus der offerierten Unterscheidung von religiöser und alltagsrelevanter Plausibilität beziehe, ziele der Protestantismus auf eine einheitsstiftende Lebensführung. Während der Katholizismus also mit dem anderen seiner selbst in der Welt rechne, verzweifeln die Nachfolger der protestantischen Prediger an ihrer zunehmend unzureichenden Annahme, dass „die ganze Welt“ ihren „Argumenten zugänglich sein müsste“. Vor diesem Hintergrund erscheine Max Webers Verdikt über den vormodernen Katholizismus, der durch den rituellen Gegenwartsbezug moralisch „von der Hand in Mund“ lebe, in ganz neuem, sprich modernem Licht.1 Ist die kulturprotestantische Selbstbeschreibung der bürgerlichen Gesellschaft mitsamt ihrer historischen Rekonstruktion in der Protestantischen Ethik Max Webers ein Anachronismus, der im Schatten des bürgerlichen 19. Jahrhunderts einen Mythos fortschreibt, in dem protestantische Titanen die Kultur der Gesellschaft zu deuten und zu steuern beabsichtigen? Ist die massenmediale Inszenierung und Passgenauigkeit der katholischen Liturgie ein Zeichen dafür, dass nun doch ‚alle Wege des Protestantismus letztlich nach Rom führen’ werden (Erik Peterson), dorthin also, wo auch der erste Teil der Protestantischen Ethik konzipiert wurde? 2

Eine gute Gelegenheit zur Prüfung dieser Fragen ist die hundertste Wiederkehr des Publikationstermins von Max Webers ‚Protestantischer Ethik’, die in zwei Teilen in den Jahren 1904 und 1905 erschien. Die kalendarischen Daten erinnern an eine klassische Problembeschreibung des Zusammenhanges von Protestantismus und Moderne. Aus diesem Anlass hatten Friedrich Wilhelm Graf und Wolfgang Schluchter zu einer Tagung über Max Webers berühmter Studie in das Heidelberger Wissenschaftsforum eingeladen, die im April 2004 stattfand und deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Den Veranstaltern ging es darum, nicht nur den Text, sondern vor allem auch den Kontext zu berücksichtigen und damit sowohl die ‚Fachmenschenfreundschaft’ bzw. ‚Fachmenschenkonkurrenz’ zwischen Troeltsch und Weber als auch das Heidelberger Milieu zu beleuchten. Sachlich sollte es dabei um das Profil der These und ihre wissenschaftstheoretischen Implikationen, sozial um den persönlichen und intellektuellen Kontext und zeitlich um einen Hinweis auf die bleibende Bedeutung der Studie, ihrer Rezeption und der mit ihr verbundenen Diskussionen gehen. Der vorliegende Band vereinigt das Fachwissen von ausgewiesenen Experten der Weber- und Troeltsch-Forschung, die dem Leser den neuesten Stand der Forschung und den Ertrag der voranschreitenden Max-Weber- und Ernst-Troeltsch-Gesamtausgabe vermitteln.

Eine Gruppe von Beiträgen widmet sich vor allem dem persönlichen und milieubedingten Hintergrund der religionssoziologischen Forschungsimpulse in Heidelberg. Guenther Roth wirft einen Blick auf die Amerikareise der Webers von 1904, als zeitgleich der erste Teil über ‚Das Problem’ der Protestanischen Ethik im Druck erschien und Weber vor allem in Briefen an seine Mutter über die Religiosität in der Neuen Welt berichtete („Europäisierung, Amerikanisierung und Yankeetum. Zum New Yorker Besuch von Max und Marianne Weber 1904“; S. 9-31). Roth präsentiert ein deutschamerikanisches und deutschjüdisches Netzwerk mit Sozialisationen in familiären und freundschaftlichen Fragestellungen, die Webers Beobachtungen in den USA bestimmen. Es ist ein Vergnügen, mit Roth aus den Quellen nachzuvollziehen, wie New Yorker Gesprächseindrücke in später publizierten Berichten zu allgemeinen Aussagen generalisiert werden. So wird aus einer notierten Bemerkung am Tisch der Familie Lichtenstein in Brooklyn die grundsätzliche Aussage über religiöse Traditionen in der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft. Roth macht plausibel, dass die scheinbar zu Beginn eines amerikanischen Gesprächs gängige Frage „To which church do you belong?“ weniger ein Zeichen für religiöse Traditionalität als vielmehr Indiz religiöser Pluralität ist (S. 14). Hartmut Lehmanns Beitrag zu „Max Webers Weg vom Kulturprotestantismus zum asketischen Protestantismus“ (S. 33-47) verortet dessen Forschungen zum asketischen Protestantismus in Nähe und Distanz zum Kulturprotestantismus, hatte Weber doch mit seinen Studien „das Biotop des kulturprotestantischen Milieus verlassen und war hinausgestiegen auf die Klippen des asketischen Protestantismus“ (S. 37). Lehmann unterstreicht die prägende Bedeutung der kulturprotestantischen „Wertewelt“ für Weber und dessen Abstand zum asketischen Protestantismus. Befreiend sei jedoch die Entdeckung eines neuen Forschungsfeldes gewesen, das nach 1903 zugleich Teil eines neuen Selbstentwurfs werde: Befreit vom ‚bürokratischen Gehäuse’ des deutschen Luthertums werde der Puritanismus zum Sinnbild einer einheitsstiftenden Lebensführung. Max Webers Einsicht in die weitreichenden Folgen der puritanischen Askese spiegle sich nicht zuletzt in der Veränderung seiner Erscheinung vom dynamischen „Jungordinarius“ zum „hageren, streng blickenden Gelehrten der späteren Zeit“ (S. 43).

Den sozialen Rahmen, in dem Weber einen Teil seiner neuen Studien diskutierte, erörtert Hubert Treiber beispielhaft am Heidelberger Eranos-Kreis, der 1904 von dem Theologen Adolf Deissmann und dem Altphilologen Albrecht Dieterich gegründet wurde: „Der ‚Eranos’ – Das Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?“ (S. 75-137). Karl Mannheim hatte in Heidelberg beobachtet, wie in solchen Kreisen Attitüden und Sichtweisen vermittelt werden und vieles „in der Luft“ liege, was „gemeinsames Eigentum und gemeinsam geschaffener kultureller Schatz“ sei. 3 Treiber beschreibt in seiner fulminanten Analyse den Eranos-Kreis als eine religionswissenschaftlich interessierte Gruppe, die wesentlich durch Schüler Hermann Useners geprägt war. Auf diese Weise bietet er eine wissenssoziologische Fallstudie zu den interdisziplinären Kommunikationsformen dieser Gruppe und den ihr zugrunde liegenden Voraussetzungen und Fragestellungen. Troeltsch und Weber hätten dort zwar vorgetragen, ihren zentralen Austausch jedoch auf andere Weise gepflegt. Hier setzen auch die Überlegungen von Friedrich Wilhelm Graf an, der in seiner Eigenschaft als Herausgeber der Ernst-Troeltsch-Gesamtausgabe eine „klaffende Überlieferungslücke in der Gelehrtenkorrespondenz“ (S. 259) zwischen Troeltsch und Weber beklagt. Entscheidend ist sein Nachweis, dass beide gleichzeitig zum Verhältnis von Protestantismus und Moderne gearbeitet hätten und damit lange vorherrschende „Abhängigkeitserklärungen und Prioritätsvermutungen“ (S. 265) überflüssig seien. Die unterschiedlichen Konzeptionen von Moderne fasst Graf in die titelgebende Alternative von „Wertkonflikt oder Kultursynthese?“ (S. 257-279).

Weitere Beiträge konzentrieren sich auf prominente Themen- und Problemfelder, die den weiteren religionssoziologischen Horizont der Protestantismusstudien von Troeltsch und Weber betreffen: Dazu zählt die herausragende Abhandlung des Münchner Alttestamentlers Eckart Otto über „Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese“ (S. 201-255). Ausgehend von Webers Interpretation der hebräischen Prophetie demonstriert Otto eindrucksvoll, wie dieser unter Hinzuziehung einer Fülle von zeitgenössischer Forschungsliteratur und ausgehend vom modernen Polytheismus der Werte seine Fragestellung in immer weitere historische Bezüge einzuordnen versuchte. Den roten Faden bildet auch hier das Vorhaben, „die innerweltlichen Folgen auf außerweltliche Ziele gerichteter Religion in Gestalt der hebräischen Prophetie aufzeigen“ zu wollen (S. 206). Die von Weber beschriebenen Phänomene wie die Theodizee bei Deuterojesaja und die „rein religiösen“ Beweggründe der Propheten sind demnach immer zugleich auf die Diskussionen um eine angemessene Theorie der Moderne bezogen und finden wie die Diskussion mit Werner Sombart über den so genannte ‚jüdischen Paria-Kapitalismus’ Eingang in die Buchfassung der Protestantischen Ethik von 1920. Die verschiedenen Ansätze zur Erfassung der hebräischen Prophetie stehen bei Weber, Troeltsch und Cohen für verschiedene Auffassungen der Moderne und ihres kulturellen Gedächtnisses: Im Gegensatz zu Weber löst Troeltsch das „Ethos der hebräischen Prophetie“ aus den „politisch-ökonomischen Kontexten“ (S. 220), um es dem von ihm favorisierten Modell eines kulturellen Gedächtnisses einzuverleiben. Cohens Universalisierung der prophetischen Weissagungen waren sowohl Troeltsch als auch Weber fremd, was im Fall des letzteren besonders an der abgrenzenden Auseinandersetzung mit Jesaja 21,11 in ‚Wissenschaft als Beruf’ anschaulich wird (S. 230). Friedemann Voigt untersucht „Vorbilder und Gegenbilder. Zur Konzeptualisierung der Kulturbedeutung der Religion bei Eberhard Gothein, Werner Sombart, Georg Simmel, Georg Jellinek, Max Weber und Ernst Troeltsch“ (S. 155-184). Ausgehend von der These, dass die „Diskussion um die Kulturbedeutung der Religion in der Moderne“ mit Max Webers ‚Protestantischer Ethik’ und Ernst Troeltschs Stuttgarter Vortrag über ‚Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt’ 1906 einen „vorläufigen Abschluß“ gefunden habe (S. 158), zeichnet Voigt das differenzierte Bild einer vielfältigen Diskussionslage, in deren Rezeption die unterschiedlichen Positionen nicht selten eingeebnet zu werden drohen. Gut kulturprotestantisch bindet Voigt abschließend die kulturwissenschaftliche Satisfaktionsfähigkeit der Theologie an „eine differenzierte Kulturdeutung“ im Anschluss und auf dem Niveau der Heidelberger Vordenker (S. 179). Jean-Pierre Grossein vermag in seinem Beitrag über „Die protestantische Ethik und der ‚Geist’ des Kapitalismus. Elemente zur Geschichte ihrer Rezeption in Frankreich“ (S. 281-296) zu zeigen, welche Rezeptionsbarrieren und Missverständnisse, aber auch unerwartete Inspirationen und Allianzen entstehen, wenn die Hintergrundüberzeugungen eines Milieus nicht vorausgesetzt werden können und eine konfessionell, politisch und methodologisch verschieden geprägte Wissenschaftskultur andere Relevanzstrukturen ausbildet.

In seiner Abhandlung über „Troeltschs Heidelberger Historik“ (S. 185-197) verknüpft Gangolf Hübinger eine Rekonstruktion Troeltscher Historiken mit Problembeständen, welche auch im Hintergrund aktueller Forschungen zu „kollektiven Erinnerungsorten“ und „Prozessen kultureller Vergesellschaftung“ stehen (S. 197). Gemessen an Droysens Historik habe Troeltsch im Anschluss an Weber eine kantianisch geprägte Heidelberger und seit 1915 eine entsprechend antikantianisch gefasste Berliner Historik vertreten. So einleuchtend dabei auch Hübingers Darstellung der wechselseitig inspirierenden Kooperation zwischen Weber und Troeltsch in Heidelberg ist, so wirft die These zweier Historiken Troeltschs ebenso viele Fragen auf wie die damit behauptete Gegenwartsbedeutung: Es war doch gerade der Zeitabstand zu Droysen, der Troeltsch von der ‚Krise des Historismus’ sprechen ließ und diese mit der Einsicht verband, dass auf der Höhe der Zeit eine Historik als Einheit von Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie problematisch geworden sei – wozu ihn nicht zuletzt seine religionssoziologischen Studien geführt hatten. Auch der Historismus des Heidelberger Troeltsch lässt sich antikantianisch bzw. antiweberianisch deuten, und zwar unter Berücksichtigung der Absolutheitsschrift in den Auflagen von 1902 und 1912. Ob es wirklich ein „bleibender Kulturwertbezug“ ist, wenn die „Individualisierungsgeschichte des abendländischen Bürgertums einer orientierungslosen Gegenwart präsent“ gehalten wird, scheint eher offen (S. 197). Wolfgang Schluchter bearbeitet die zentrale Frage Max Webers in der Protestantischen Ethik: „’Wie Ideen in der Geschichte wirken’: Exemplarisches in der Studie über den asketischen Protestantismus“ (S. 49-73). Er verortet Webers Protestantismusstudie und den dazugehörigen Objektivitätsaufsatz in den wissenschaftlichen Problemkonstellationen seiner Zeit und bietet damit einen überaus dichten und informativen Überblick über die Debatten. Dieser Beitrag weist ebenfalls ausdrücklich auf die bleibende Bedeutung Webers in den Theoriedebatten der Gegenwart hin. Sie ist vor allem dann nachvollziehbar, wenn man den zugrunde gelegten handlungstheoretischen Ansatz teilt.

Gerade Max Webers Einsicht in die „unbeabsichtigte Folge absichtsvollen religiösen Handelns“ (S. 65), die er in diesem Zusammenhang auch als „Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen“ beschreibt, gehört tatsächlich zu den Beobachtungen, die für eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft unhintergehbar sind und die Kulturwissenschaften vor überzogenen Orientierungsansprüchen zu warnen vermag. Damit sollen nicht die Orientierungsangebote der kulturprotestantisch geprägten Kulturwissenschaften desavouiert werden, vielmehr geht es darum, an das in ihren Debatten gewonnene Problembewusstsein zu erinnern. Möglicherweise mag die protestantische Text- und Problemorientierung über die mediale Passgenauigkeit des gegenwärtigen Papsttums hinwegtrösten.

Anmerkungen:
1 Die Tageszeitung, Nr. 7652 vom 29.04.2005, S. 12.
2 Oexle, Otto Gerhard, Max Weber und das Mönchtum, in: Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, hg. v. Lehmann, Hartmut; Quédraogo, Jean Martin ,Göttingen 2003, S. 311-334, 317f.
3 Mannheim, Karl, Heidelbergi levelek (Heidelberger Briefe) (1921/22). Deutsche Übersetzung in: Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, hg. v. Karádi, Éva; Vezér, Erzsébet, Frankfurt am Main 1985, S. 73-91, 78.