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Titel
Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert


Autor(en)
Imbusch, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
579 Seiten
Preis
€ 49,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Klaus Latzel FSU Jena, Historisches Institut

Peter Imbusch betrachtet in seiner überarbeiteten Habilitationsschrift das Verhältnis von Moderne und Gewalt, von Zivilisation und Barbarei. Er schließt damit zum einen an das Projekt einer Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts an, das Anfang der 90er Jahre vom Hamburger Institut für Sozialforschung auf den Weg gebracht worden war. Zum anderen bezieht sich sein Buch auf die Diskussion, die Mitte der 90er Jahre in der Soziologie über die Gewalt einsetzte, als die „Innovateure“ der Gewaltforschung beklagten, dass der „Mainstream“ alle nur erdenklichen Bedingungen und Ursachen von Gewalt erforsche, nicht aber die Gewalt selbst 1. Imbusch geht es freilich nicht um die seinerzeit geforderte „Phänomenologie der Gewalt“, sondern er tritt von dieser mittlerweile abklingenden Diskussion einen Schritt zurück und entwirft sein Thema in weit ausholender Perspektive. Den Leitfaden bildet die These, dass das Verhältnis von Moderne und Gewalt als grundlegend ambivalentes im Sinne von Zygmunt Bauman zu fassen sei. Die Konsequenz: Die „Makroverbrechen“ des 20. Jahrhunderts, gemeint sind der deutsche Völkermord an den Juden, der stalinistische Terror und die beiden Weltkriege, „fallen nicht aus dem Rahmen der Moderne heraus“, wie manche fortschrittsoptimistische Sozialtheorien glauben machen wollten, sondern müssen als „die wohl fatalsten Entwicklungsmöglicheiten der Moderne“ [Vorwort] angesehen werden.

Imbusch nähert sich dem Verhältnis von Moderne und Gewalt im Lichte dieser These auf unterschiedliche Weise. Den für die Untersuchung zentralen Begriffen Gewalt, Zivilisation, Kultur und Moderne ist gemein, dass darunter jeweils höchst unterschiedliches verstanden werden kann. Imbusch stellt darum zwei Kapitel zur Klärung dieser Konzepte voran. Zunächst (Teil I) unterscheidet er u.a. zwischen „Mikro“- und „Makrogewalt“, gibt einen Aufriss über einander widerstreitende Versuche, das Verhältnis von Moderne und Gewalt zu begreifen, beklagt die konzeptionellen Defizite der Soziologie in dieser Hinsicht und kritisiert speziell den mangelnden Beitrag des Faches zur Untersuchung der Fälle von „Makrogewalt“ des 20. Jahrhunderts, die man gern an die Geschichtswissenschaft weitergereicht habe. Sodann (Teil II) legt er auf teils ideen-, teils begriffsgeschichtlichem Wege und wiederum unter dem Aspekt des Verhältnisses zur Gewalt die semantische Vielfalt von „Zivilisation“, „Kultur“ und „Moderne“ dar. Im weitaus größten Teil der Arbeit (III) rekonstruiert und diskutiert Imbusch, wie fünf „klassische“ Zivilisations- resp. Kulturtheoretiker ehedem dieses Verhältnis konzipiert haben: Sigmund Freud, Alfred Weber, Norbert Elias sowie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Er stellt deren zivilisations- oder kulturtheoretische Entwürfe dar, fragt nach der Bedeutung, die der Gewalt darin beigemessen wurde, und nach dem Einfluß, den speziell die genannten „Makroverbrechen“ für die Perspektiven dieser Autoren auf die Moderne hatten, und nach der theoretischen Anschlussfähigkeit ihrer Konzepte heute. Den vierten und letzten Teil bildet der Versuch, mit Hilfe Zygmunt Baumans eine „angemessene soziologische Sichtweise“ (S. 19) auf die unterschiedlichen Formen der „Makrogewalt“ (NS-Völkermord, stalinistisches Terrorsystem, Erster und Zweiter Weltkrieg) zu gewinnen und empirisch gestützt deren je genuinen Zusammenhang mit der modernen Zivilisation als „Teil und nicht Gegenteil der Moderne“ (S. 19) zu entwickeln.

Voilà: Wer seine früheren Beiträge zur soziologischen Gewaltdiskussion kennt, wird sich nicht wundern, dass Imbusch hier ein höchst kenntnisreiches und reflektiertes Werk vorlegt. Auf 537 großformatigen Textseiten (plus gut 40 Seiten Bibliographie mit grob geschätzt über 1500 Titeln) versammelt es, neben den konzisen konzeptuellen Darlegungen in den ersten beiden Teilen, im Teil III profunde, manchmal überbordende und von Wiederholungen nicht immer freie Betrachtungen über Freud, A. Weber, Elias sowie Horkheimer/Adorno, die zum Teil weit über das selbstgestellte Programm hinausgehen und fast schon als veritable Einführungen in deren Werk gelten können, immer auch unter Rückbindung ihrer theoretischen Entwicklungen an ihre politisch-existentiellen Erfahrungen mit dem „Jahrhundert der Gewalt“ (die bei Freud freilich nicht mehr den Zweitem Weltkrieg und den NS-Völkermord umfaßten). Die vorgestellten Zivilisationstheorien unterzieht Imbusch einer immer gut begründeten Kritik an ihren epistemologischen, methodischen und empirischen Defiziten; seine Schlussbilanz über sie verweist, nicht minder begründet, auf ihre stärker (Elias, Horkheimer/Adorno) oder schwächer (Freud, A. Weber) ausgeprägte, insgesamt jedenfalls „defizitäre Fassung der Ambivalenzproblematik der Moderne in bezug zur Gewalt“ (S. 450). Dieser wie auch die beiden ersten Teile der Arbeit sind alle schon unter der von Imbusch favorisierten Perspektive eines ambivalenten Verhältnisses von Moderne und Gewalt geschrieben, die er allerdings erst im Teil IV am historischen Material explizieren und begründen will. Dieser Teil muß also die eigentliche Last der „Beweisführung“ tragen; hier ist der Ort, an dem sich die „angemessene soziologische Sichtweise“ auf die Problematik empirisch zu bewähren hat.

Mir scheint dieser Teil der Untersuchung, gemessen sowohl am Umfang der vorangehenden Teile wie auch an seiner Bedeutung für die Begründung der zentralen These, eigentümlich kurz geraten. Auf gut 80 Seiten wird zunächst die seit den neunziger Jahren häufig rezipierte Perspektive Zygmunt Baumans auf die Moderne vorgestellt. In dieser Perspektive waren die „Makroverbrechen“ des 20. Jahrhunderts „legitime Kinder des modernen Geistes, jenes Dranges, den Fortschritt der Menschheit zur Vollkommenheit zu unterstützen und zu beschleunigen, der durchweg das hervorstechendste Merkmal der Moderne war – jener ‘optimistischen Ansicht, dass wissenschaftlicher und industrieller Fortschritt im Prinzip alle Beschränkungen der möglichen Anwendung von Planung, Erziehung und Sozialreform im Alltagsleben beseitigt habe’, jenes Glaubens, ‘dass soziale Probleme endgültig gelöst werden konnten’.“ [Bauman, zit. S. 461] Für Bauman sind die perfektionierten Ordnungsvorstellungen des modernen Staates, im Verein mit Wissenschaft, Technik, hochentwickelter Arbeitsteilung, bürokratischer Rationalität und daraus resultierender Anonymisierung von Verantwortlichkeit sowie ethischer Blindheit, befeuert durch den Wahn unbegrenzter Machbarkeit, nicht hinreichende, aber doch notwendige Bedingungen sowohl des NS-Völkermords als auch des stalinistischen Terrorsystems.

Imbusch unternimmt es nun, diese Aussagen auch empirisch untermauert zu entfalten. Angesichts der von ihm beklagten Enthaltsamkeit der Soziologie auf diesem Gebiet ist er dabei im wesentlichen auf die einschlägigen Ergebnisse der historischen Forschung angewiesen, die er gewohnt kenntnisreich verarbeitet. Dabei erweist sich freilich bald: Die These von der engen Verbindung zwischen Moderne und „Makrogewalt“ gehört, zumindest was den Holocaust angeht, seit langem zum Erkenntnisrepertoire historischer Standardwerke (angefangen mit Detlev Peukerts Formulierung aus dem Jahre 1982, der Nationalsozialismus sei „wohl die fatalste Entwicklungsmöglichkeit der Moderne“); und auch in der jüngeren historischen Forschung zum Stalinismus findet sich die komplementäre Perspektive, in der dieser als genuin modernes „Projekt“ angesehen wird (etwa bei Jörg Baberowski oder Stefan Plaggenborg).

Was dagegen einen spezifisch soziologischen Erkenntnisgewinn dieser Abschnitte bei Imbusch ausmacht, will sich mir nicht recht erschließen. Ich vermute einen Grund dafür darin, dass Imbusch, entgegen seinem Plädoyer, sich nicht nur auf die „systemischen Zusammenhänge ‘im Großen’ [zu] konzentrieren“, sondern auch „nach den konkreten Handlungsvollzügen ‘im Kleinen’ zu fragen“ (S. 401f.), den Blick zu wenig auf die Ebene der sozialen Praxen, der konkreten Handlungen und Erfahrungen richtet. Diese eher großflächige Betrachtungsweise führt dann zu mittlerweile weit verbreiteten Analogien wie: „Dass Auschwitz keinen Bruch mit den Prinzipien der modernen Industriegesellschaft bedeutet..., zeigt sich nicht zuletzt in den erstaunlichen Parallelen zwischen modernen Fabriksystemen und dem System der Menschenausrottung: Der einzige Unterschied besteht darin, dass das Endprodukt der letzteren Tote waren...“ (S. 478).

Man sollte länger über diesen Satz nachdenken. Diese abstrakte Analogie scheint mir weniger analytisch ergiebig als, entgegen der Intention des Autors, verharmlosend, oder anders formuliert: Was haben wir von der „Menschenausrottung“ begriffen, wenn wir von ihr nur das benennen, was sich als zivile Einrichtung als harmlos und gewöhnlich darstellen läßt wie die „moderne Fabrik“, wenn wir aber den „Unterschied“, auf den es Erkenntnis gerade ankommen müßte, hinter dem Wörtchen „einzig“ verschwinden lassen? Was bedeutet dieser „Unterschied“ in der Mordpraxis und -erfahrung? Wie weit soll diese Analogie vorangetrieben werden? Wären dann die SS-Schergen in den Lagern „ganz normale Fabrikarbeiter“, mit nur einem „einzigen Unterschied“? 2
Die Analogie mag auf der funktionalen Ebene greifen („Ansonsten funktionierte Auschwitz wie eine Fabrik...“, S. 478), aber sie verfehlt meines Erachtens die Ebene von Praxis und Erfahrung. Dabei hätte gerade auf dieser Ebene ein lohnender Ansatzpunkt für einen spezifisch soziologischen Zugriff gelegen, ich denke etwa an die in der jüngeren Forschung sowohl zum Nationalsozalismus als auch zum Stalinismus akzentuierten partizipativen Elemente dieser Herrschafts- und Gewaltformen, Befunde, auf die sich eine in Konstellationen denkende, spezifische Figurationen und Beziehungsdynamiken analysierende Soziologie der Gewalt doch mit Eifer stürzen müßte.
Gleichwohl: Auf der Ebene der gesellschaftssanitären oder sozialtechnologischen Utopien stellt Imbusch die Verbindung zwischen NS-Völkermord resp. stalinistischem Terror und Moderne überzeugend her. Sehr viel stärker als in diesen Abschnitten nähert sich Imbusch dann im letzten Abschnitt über die Gewalt der Weltkriege der Ebene der Handlungen und Erfahrungen an, wiederum im Rückgriff auf die historische Forschung. Dennoch scheint mir dieser Abschnitt vergleichsweise wenig gelungen.

Der Zweite Weltkrieg kann wohl kaum nur als „katastrophalere Wiederholung“ und „ungeheure Potenzierung“ der Gewalt des Ersten (S. 531) angesehen werden. Zumindest was seine osteuropäischen Schauplätze angeht, war er als Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung aufs engste mit dem NS-Völkermord verwoben. Dass solche Elemente, wie Imbusch in einer Fußnote versteckt (S. 519), 1918 im Osten und Südosten bereits angelegt waren, ändert nichts an dem qualitativen Unterschied. Insofern wäre die Darstellung des Zweiten besser deutlich von der des Ersten Weltkrieges getrennt worden, der bei Imbusch als paradigmatischer moderner Krieg eindeutig in den Vordergrund gerückt wird.

Dabei entsteht freilich die Schwierigkeit, das Moderne dieses Krieges anders als auf der Ebene der im Zusammenhang mit „Auschwitz“ schon angesprochenenen Analogien von moderner Produktions- und Destruktionsarbeit (S. 520) herauszuarbeiten. Auf der Ebene der sozialtechnologischen Ordnungsentwürfe kann die Verbindung zwischen Kriegsgewalt und Moderne für den Ersten Weltkrieg kaum hergestellt werden. Dass dieser „der erste durch und durch moderne Krieg“ (S. 530) war, scheint mir darum selbst in Imbuschs Perspektive nur zur Hälfte stimmig, nämlich auf der Ebene der eingesetzten Technologien, Organsiationsformen usw. Der moderne Geist aber, der eine perfekte Gesellschaft hervorzwingen will, manifestierte sich als Kriegsgewalt erst im Zweiten Weltkrieg, als die gewaltsame Umgestaltung nicht nur erneut die eigene Gesellschaft für die zwischenstaatliche Gewalt mobilisierte, sondern zudem als genozidale Kriegführung und Besatzungspolitik gegen andere Gesellschaften (hier vor allem Polen und die Sowjetunion) gerichtet wurde, um im Dienste der eigenen rassistischen Herrschafts- und Gesellschaftsbildung diese durch Massenmord oder Unterjochung in ihrer Fähigkeit, als Gesellschaft zu leben oder zu überleben, zu zerstören – um sie zu „entgesellschaften“, wie Michael Geyer gesagt hat 3.

Fazit: Imbusch hat ein in seinem inhaltlichen Reichtum beeindruckendes, in seinen Proportionen vielleicht etwas unausgewogenes, in seiner Argumentation weitgehend überzeugendes, in seinem wichtigsten Teil auch stellenweise problematisches, kurz: sehr lesenswertes Buch vorgelegt.

1 Einer der besten Überblicke über diese Diskussion stammt von Imbusch selbst: Peter Imbusch, Gewalt – Stochern in unübersichtlichem Gelände, in: Mittelweg 36, 9 (2000), H. 2, S. 24 40.
2 Vgl. zu dieser Problematik auch Alf Lüdtke, Der Bann der Wörter: „Todesfabriken“. Vom Reden über den Völkermord – das auch ein Verschweigen ist, in: WerkstattGeschichte 13 (1996), S. 5-18.
3 Michael Geyer, Krieg als Gesellschaftspolitik. Anmerkungen zu neueren Arbeiten über das Dritte Reich im Zweiten Weltkrieg, in: AfS 26 (1986), S. 557 601, hier S. 590.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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