J. Kosta (Hg.): Tschechische/tschechoslowakische Wirtschaft im Wandel

Titel
Die tschechische/tschechoslowakische Wirtschaft im mehrfachen Wandel.


Herausgeber
Kosta, Jiř i
Reihe
Wirtschaft. Forschung und Wissenschaft 13
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans G. Nutzinger, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Fachgebiet: Theorie öffentlicher und privater Unternehmen, Universität Kassel

Zusammenfassende deutschsprachige, aber auch fremdsprachliche Darstellungen der „Wirtschaftsgeschichte“ der Tschechoslowakei seit ihrer Gründung Ende Oktober 1918 sind bisher äußerst rar. Der vorliegende, aus überarbeiteten Aufsätzen der Jahre 1973 bis 1999 des emeritierten Frankfurter Hochschullehrers der Wirtschaftswissenschaften, Jiří Kosta, hervorgegangen, bietet aber mit der vorliegenden gut gegliederten Textsammlung ein weitgehendes Substitut dafür, auch wenn der Autor selbst hervorhebt, „dass das Buch keinen konsistenten Lehrbuchtext ersetzen kann“ (S. 1). Das Buch kommt aber einer geschlossenen monografischen Darstellung schon erfreulich nahe und füllt damit gerade auch auf diesem bisher weitgehend vernachlässigten Gebiet eine bedeutende Lücke.

Die Zweiteilung der Darstellung in einen ersten Teil, der sich der wirtschaftlichen Entwicklung der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit und dann wieder nach 1945 in vorwiegend empirischer, aber keineswegs theorieloser Absicht widmet, und einen zweiten Teil, der grundlegende Konzepte und Alternativen diskutiert (dabei aber immer wieder auch die empirische Rückbindung sucht), erhöht zweifellos die Stringenz der Darstellung. Wie bedeutend die tschechoslowakische Wirtschaft bereits vor dem 2. Weltkrieg gewesen ist, das erfährt die Leserschaft vor allem in den beiden ersten Beiträgen von Teil I, die sich der sozioökonomischen Entwicklung der tschechoslowakischen Republik und dem Außenhandel bis 1938 bzw. 1937 widmen. Die enge wirtschaftliche Verflechtung der Tschechoslowakei mit Österreich und Deutschland und die erhebliche Bedeutung, die diese Verflechtung nicht nur für dieses Land selbst, sondern auch für seine beiden deutschsprachigen Nachbarländer gehabt hat, wird hier besonders deutlich. Die stufenweise Übernahme des unter ganz anderen historischen Bedingungen entstandenen sowjetischen Planungsmodells nach dem 2. Weltkrieg erwies sich, wie Kosta im dritten Beitrag „Veränderungen des tschechoslowakischen Systems nach 1945“ zeigt, für die hochentwickelte Ökonomie dieses mitteleuropäischen Landes als besonders schädlich, innovationshemmend und motivationsstörend, so dass der Schluss des Autors mittelbar einleuchtet: „Alles deutet darauf hin, dass die Übernahme des zentral-administrativen Planungssystems sowjetischen Typs in einem hochindustriellen Land, wie es die Tschechoslowakei darstellt, nicht angemessen war.“ (S. 87)

Kosta, zusammen mit Ota Šik selbst einer der führenden Ökonomen des „Prager Frühlings“ von 1968, erläutert im folgenden Kapitel zunächst die bis dahin etablierten institutionellen und konzeptionellen Strukturen, bevor er das von ihm und den anderen Reformern entworfene kombinierte Plan-Markt-Modell darstellt, das eine mikroökonomische Steuerung über marktmäßige Kriterien in Verbindung mit einer makroökonomischen staatlichen Planung vorsah, vor allem in den Bereichen Wachstum, branchenbezogene Investitionen, Bildungs- und Qualifikationsplanung und schließlich Entwicklung von Regionen und natürliche Umwelt. Die Verknüpfung beider Ebenen sollte vor allem durch ein abgestuftes Rätesystem, von den einzelnen Betrieben über die Regionen bis hin zum Gesamtstaat, bewerkstelligt werden. Bekanntlich hat dieser sicherlich der Kritik zugängliche und bedürftige, aber doch im Vergleich zu manchen vorausgegangenen Versuchen sehr viel besser durchdachte Reformvorschlag keine politische Chance der Umsetzung bekommen, obwohl er sich durchaus in Übereinstimmung mit einer verbreiteten Grundstimmung in der Bevölkerung befand.

Die politisch-militärische Unterdrückung des „Prager Frühlings“ im August 1968 führte zu einer weitgehenden Stagnation der tschechoslowakischen Wirtschaft. Auch bescheidene Versuche einer begrenzten Dezentralisierung und Ökonomisierung wirtschaftlicher Entscheidungen konnten hieran, wie Kapitel 4 zeigt, nichts Grundlegendes ändern. So wundert es nicht, dass viele der eingeschliffenen Denk- und Verhaltensweisen dann auch den marktwirtschaftlichen Transformationsprozess nach 1989 behindern und verzerren. Zusätzliche Probleme ergaben sich 1992/93 durch die Spaltung der Tschechoslowakei in zwei getrennte Staaten, die Tschechische und die Slowakische Republik, deren früherer Binnenhandel nun zum Außenhandel wurde (Kap. 6).

Die konzeptionellen Beiträge des zweiten Teils beginnen mit einer Reflexion über „Marx und die sozialistische Wirtschaft“, die an den emanzipatorischen Zielen von Marx festhält, jedoch eine undogmatische, an den konkreten wirtschaftlichen Bedingungen orientierte institutionelle Ausgestaltung fordert. Die besonderen Schwierigkeiten, denen sich die tschechoslowakische Wirtschaftswissenschaft nach der Nazi-Repression der Jahre 1939 bis 1945 und der anschließenden Sowjetisierung des Landes gegenüber sah, schildert der Autor aus eigenem Erleben ebenso wie die kurze Aufbruchsperiode des Prager Frühlings 1968 und die Neuorientierung tschechischer Wirtschaftswissenschaftler in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre im Hinblick auf eine zunächst nur erhoffte und in der „Samtenen Revolution“ vom November 1989 schließlich auch politisch durchgesetzte Ablösung des sowjetmarxistischen Plansystems durch eine primär marktwirtschaftliche Ordnung. In Kap. 9 „Sozialistische Werte und ökonomische Systeme“ plädiert Kosta für die Beibehaltung emanzipatorischer sozialistischer Werte, aber auch dafür, dass bei deren konkreter Umsetzung im ökonomischen System die Prinzipien einer offenen und effizienten Gestaltung gewahrt werden müssen. Entgegen einem damals verbreiteten Pessimismus hat Kosta in seiner Abschiedsvorlesung von 1987 (Kap. 11 des Buches), die im Rückblick richtige Erwartung geäußert, dass der Prager Reformimpuls von 1968 jetzt nicht beendet sei, sondern sich, wenn auch unter Schwierigkeiten, im gesamten Sowjetblock durchsetzen werde.

Einen interessanten Vergleich zwischen der ökonomischen Transformation in der Tschechoslowakei seit 1989 mit dem (west-)deutschen Wirtschaftswunder nach 1945 gibt der Verfasser in Kap. 12. Seine damaligen positiven Prognosen hinsichtlich einer baldigen Vollmitgliedschaft Tschechiens in der Europäischen Union sind inzwischen klar bestätigt worden. Ebenso richtig liegt Kosta mit seiner Einschätzung über „Das Aufbegehren der Menschen ‚im realen Sozialismus’“, wobei er einen zeitlichen Bogen vom Matrosenaufstand in Kronstadt 1921, über Ostberlin 1953, Budapest 1956, die polnischen Unruhen und Revolten seit 1956 sowie vor allem Prag 1968 hin zu den dramatischen Entwicklungen des Jahres 1989 schlägt, die Anfang Juni mit der gewaltsamen Niederschlagung des Studentenaufstandes in Peking begannen und mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks im Spätherbst desselben Jahres endeten. Jiří Kosta hofft für diese Länder unter nunmehr marktwirtschaftlichen Bedingungen darauf, dass die alten sozialistischen „Werte einer materiell abgesicherten, sozialgerechten, solidarischen sowie freiheitlich-demokratischen Gesellschaft“ (S. 298) auch die Zukunft dieser Länder, insbesondere Tschechiens, bestimmen werden.

Und es ist genau die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft gewesen, die es dem Verfasser dieses eindrücklichen Textes möglich gemacht hat, die Repression der Naziokkupation von 1939 bis 1945 und die sowjetische Unterdrückungspolitik nach 1945 und nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 zu überstehen und sich ein ganzes langes Wissenschaftlerleben für eine sozial gerechte und eine ökonomisch leistungsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einzusetzen – vor allem in seiner tschechischen Heimat, aber auch weit darüber hinaus. Insofern liefern die vorliegenden Texte nicht nur einen Abriss der wirtschaftlichen Entwicklung in der Tschechoslowakischen und später der Tschechischen Republik, sondern zugleich den persönlichen Bericht eines Zeitzeugen, der vor allem im Prager Frühling von 1968 an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformvorhaben maßgeblich beteiligt war, die ihren Gegner so gefährlich erschienen, das sie ihnen nicht mehr mit Argumenten, sondern nur noch mit der militärischen Gewalt von Panzern aus dem „befreundeten Ausland“ entgegenzutreten wagten.

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