U. Schmidt: Die Deutschen aus Bessarabien

Titel
Die Deutschen aus Bessarabien. Eine Minderheit aus Südosteuropa (1814 bis heute)


Autor(en)
Schmidt, Ute
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
572 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Sachse, Berlin

Bessarabien wird im Brockhaus von 2004 als „historische Landschaft“ bezeichnet. Dieser Begriff findet in diesem Lexikon Anwendung auf weltweit 14 geografische Gebiete, unter ihnen Palästina, Franken, Livland, Gondwana und Thrakien. Oft mit einer „großen“ Geschichte ausgestattet, lässt sich keines dieser mitunter gar nicht so kleinen Gebiete mit dem Territorium eines heutigen Staates zur Deckung bringen. Die Gemeinsamkeiten gehen aber noch weiter. Auf diesen Gebieten stoßen sehr alte regionale oder sogar kontinentale Kulturströme aufeinander. Der stete Wechsel von Durchmischung und Konflikt, von Privilegierung und Diskriminierung – bisweilen im Jahresrhythmus – musste wohl bei den Bewohnern ein Identitätsbewusstsein schaffen, das von der formalen Zugehörigkeit zu einer (meist fremden) Nation unabhängig ist. An der Peripherie der jeweiligen politischen Einflusssphäre lebend, gerieten sie in ruhigen Zeiten schnell in Vergessenheit, gehörten aber in Zeiten von Konflikten oder Kriegen zu den ersten Betroffenen.

Ute Schmidt wendet sich in ihrer Untersuchung über die Deutschen aus Bessarabien nicht – wie es zunächst erscheinen mag – der Lokalgeschichte einer kleinen deutschen Auswanderergruppe zu. Der wirtschaftlich zwar prosperierende, im politischen Sinne jedoch abgelegene Landstrich am Schwarzen Meer wurde im 20. Jahrhundert zu einem Ort, an dem die europäischen Interessengegensätze wie seismische Wellen bis in das Alltagsleben hinein zu spüren waren. Aus den von Katharina II. ins Land gerufenen und bis weit in das 19. Jahrhundert protegierten deutschen Kolonisten wurden nach dem 1. Weltkrieg die ungeliebten Deutschen rumänischer Nation. Die drakonische Rumänisierung der bessarabischen Volksgruppen, die von den Regierungen in Berlin, London und Paris sorgfältig beobachtet wurde, hatte Gründe: Bessarabien war zum potenziellen Frontgebiet in einem erwartbaren Krieg mit dem bolschewistischen Nachbarn geworden. Nachdem Rumänien dort alle Unabhängigkeitsbestrebungen durch Annexion beseitigt hatte, sollte der Landstrich möglichst rasch in den Zentralstaat eingegliedert werden. Umgekehrt nahmen die meisten Bessarabiendeutschen die Rumänisierung gegenüber der drohenden Sowjetisierung als das kleinere Übel in Kauf.

Der Status der Deutschen changierte in dem Maße, wie sich das in seinem Inneren gegen faschistische Strömungen kämpfende Rumänien eher Deutschland oder den Westmächten annäherte. Dieser Schlingerkurs Rumäniens hatte seinen Grund in den sich immer weiter destabilisierenden außenpolitischen Verhältnissen in Europa. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 änderte sich die Situation für die Deutschen in Bessarabien noch einmal schlagartig. Natürlich kannte man auch in Bessarabien die geheimen Vereinbarungen nicht, doch war man unmittelbar mit deren Auswirkungen konfrontiert: Grenzscharmützel, Mobilmachung, Truppenverlegungen. Im Juni 1940 forderte die Sowjetunion mit diplomatischer Rückendeckung des Deutschen Reiches von Rumänien ultimativ die Übergabe Bessarabiens (und der Nordbukowina). Nur wenige Tage später marschierte die Rote Armee in die beanspruchten Gebiete ein. In diesem Moment offenbarte sich, dass die beiden befreundeten Todfeinde, das faschistische Deutschland und die sozialistische Sowjetunion zu konstruktiver Zusammenarbeit en detail fähig waren, wenn gemeinsame politische Interessen dies geboten.

Während die zugleich mit der Roten Armee eingerückte sowjetische Geheimpolizei damit begann, die Bevölkerung auf vermutete und wirkliche Gegner hin zu durchforsten, diese teils umbrachte, teils deportierte, Kolchosen einrichtete und Betriebe enteignete, blieben die Deutschen absprachegemäß – bis auf wenige Übergriffe – von derartigen Repressionen verschont. Verantwortlich für die Aktion zeichnete übrigens u.a. Iwan Alexandrowitsch Serow, der auch für die „Integration“ ostpolnischer Gebiete in die Sowjetunion zuständig war und 1945 Bevollmächtigter für die Geheimdienste in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands wurde. Wenige Wochen nach der Besetzung taxierte eine sowjetisch-deutsche Kommission das Eigentum der Deutschen, deren Ausreise sich Hitler ausbedungen hatte. Vor die Wahl gestellt, enteignet und repressiert zu werden oder wenigstens mit der Hoffnung auf Ersatz in eine ungewisse Zukunft zu gehen, entschieden sich die allermeisten dafür, ihre Heimat aufzugeben. Eine Rolle spielte auch die Illusion, im Deutschen Reich der Minderheitensituation zu entkommen bzw. neue berufliche Chancen wahrnehmen zu können.

Spätestens in den Umsiedlungslagern, in denen manche mehrere Jahre zubrachten, wurden die Bessarabiendeutschen von der Realität eingeholt. Hier begegneten sie dem nationalsozialistischen Deutschland, das sie zu „richtigen Deutsche“ formen wollte und an „rassenpolitisch“ wertvollem „Erbgut“ interessiert war. Danach wurden sie überwiegend als menschliche Verschiebemasse für die ethnokratischen Experimente Hitlers und Himmlers, die dort einen „neuen deutschen Volkskörper“ formen wollten, in den „Warthegau“ verschickt. Dort sahen sie zumeist widerspruchslos zu, wie die polnischen Besitzer von ihren Bauernhöfen vertrieben wurden, um dann wenig später von dem Eigentum, das ihnen gar nicht gehörte, selbst vertrieben zu werden. Schließlich siedelten sie sich in Deutschland an, das ihnen nur langsam zu einer Heimat wurde. Auf eine bittere Ironie dieser Verschiebungs-Geschichte hat die Autorin in einem separaten Kapitel hingewiesen. In Mecklenburg siedelnde Bessarabiendeutsche, die auf Grund der Bodenreform nun zum dritten Male innerhalb von zwanzig Jahren über eigene Bauernwirtschaften verfügten, holte Ende der 1950er-Jahre die Kollektivierung der Landwirtschaft ein, vor der sie 1940 geflohen waren. Die Frage nach den Bessarabiendeutschen in der DDR ist deshalb so wichtig, weil es lange dauern wird, deren fünfundvierzig Jahre währende von oben befohlene Geschichtslosigkeit aufzubrechen.

Um diese historischen Vorgänge zu rekonstruieren, verbieten sich jegliche Fragestellungen, die in eine Metaerzählung mit dem Titel „Die Täter“ oder „Die Opfer“ münden. Schließlich waren die Bessarabiendeutschen zumindest formal freiwillig ins Reich „heimgekehrt“. Viele hatten auch ihre Ansiedelung im besetzten Polen (Wartheland) aktiv befördert. Andererseits waren sie Objekte politischer Kräfte, deren Intentionen sie nicht einmal ansatzweise durchschauen konnten (die meisten besaßen nicht einmal ein Radio). Drittens ist die Bandbreite der Verhaltensweisen, die die Bessarabiendeutschen als „Täter“ in der kaum voraussehbaren Situation in Polen entwickelten, überaus groß. Ute Schmidt entgeht solchen generalisierenden Fragestellungen dadurch, dass sie zwei Methoden miteinander kombiniert, die oftmals als unvereinbar gelten: den an Institutionen orientierten, politisch-strukturellen Ansatz und den narrativen, lebensgeschichtlichen Ansatz. Diese Kombination erweist sich als überaus produktiv.

In einem ersten Teil der Untersuchung wird die Geschichte der Bessarabiendeutschen im europäischen Kontext vorgeführt. Ihre jeweilige rechtliche Stellung, die Selbstverwaltungsorgane, Organisation der Kommunen, Wirtschaftsweise, kulturelle Institutionen (Schulsystem, Kirche), das Verhältnis zu den anderen Minderheiten bzw. zur dominanten Nation werden in die Untersuchung einbezogen. Dieses Verfahren wird für alle geschichtlichen Etappen angewandt (die russische, die rumänische, die polnische, die deutsche). Dazu wertete die Autorin neben der einschlägigen Sekundärliteratur Aktenbestände von Staats-, Landes-, Stadt- und Kirchenarchiven überwiegend deutscher Herkunft aus. Als Quellen dienten weiterhin Unterlagen der Landsmannschaft der Bessarabiendeutschen und Archivalien des Hilfskomitees der ev.-luth. Kirche Bessarabiens sowie Privatarchive.

In einem zweiten Teil wird untersucht, welche Verhaltensweisen und Einstellungen die Zeitzeugen innerhalb der so beschreibbaren Rahmenbedingungen entwickelt hatten. Da jede dieser Etappen eigene sozialisatorische Wirkungen oder auch traumatische Erfahrungen mit sich brachte, unterscheidet Ute Schmidt zwischen drei Generationen, deren bewusstes Erleben zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzte, die aber durch die früheren Etappen sekundär sozialisiert waren. Auf diese Weise ist für jede Aussage der interviewten Zeitzeugen ein Koordinatensystem aus dem ersten Teil des Buches verfügbar, in das Erinnerungen und nachträgliche Bewertungen eingetragen werden können.

Die Items der 90 Zeitzeugenbefragungen sind erkennbar in einem iterativen Verfahren am Material selbst entwickelt worden. Mit diesem Material werden eine Fülle von Einzelthemen aus Alltag, Berufsleben, Familienleben und kulturellen Hintergründen belegt. Ein zweiter großer Fragenkreis bezieht sich auf biografische Ereignisse (z.B. Aussiedelung, Durchgangslager, polnische Ansiedelung, Vertreibung, Neuansiedelung), ein dritter auf Werte, Einstellungen (protestantische Arbeitsethik) und rückblickende Bewertungen.

An verschiedenen Stellen wirft das Buch allerdings auch mehr Fragen auf, als es beantworten kann. Dadurch, dass Ute Schmidt ausschließlich Bessarabiendeutsche befragte und überwiegend deutsche Quellen verwandte, konnte sie nur die Binnensicht untersuchen. Alles andere wäre angesichts der 570 Seiten umfassenden Untersuchung allerdings auch eine Überforderung gewesen. Dennoch drängen sich Fragen nach der Außensicht auf: Die Überzahl der Befragten erklärte z.B. in der Rückschau, die von ihren Höfen vertriebenen polnischen Bauernfamilien menschlich gut behandelt zu haben, das fremde Eigentum nur mit schlechtem Gewissen und nur auf Zeit angenommen zu haben. Dies wird mit Beispielen der Dankbarkeit und den zum Teil bis heute gepflegten freundschaftlichen Kontakten unterlegt. Nun kann es wirklich so gewesen sein. Andererseits klingen hier auch die üblichen Motive von Legitimationsstrategien an, die verifiziert werden müssten. Zur Beantwortung dieser Fragen werden ja vielleicht bald polnische oder moldauische Kolleginnen und Kollegen etwas beitragen.

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