W. Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus

Titel
Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus.


Autor(en)
Kraushaar, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Vowinckel, Kulturwissenschaftliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin

Dieter Kunzelmann war eine Schlüsselfigur der Außerparlamentarischen Linken. Mitte der 1960er-Jahre zog er aus, den Staat und manch anderen das Gruseln zu lehren; zu diesem Zweck betätigte er sich in der Münchener Künstlergruppe SPUR, dann in der „Subversiven Aktion“, zog schließlich nach Berlin in die Kommune I, von wo aus er als Haschrebell umherschweifte und sich als Mitbegründer der „Tupamaros Westberlin“ hervortat. Diese kurzlebige Gruppe machte durch einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus von sich reden, der am 9. November 1969 stattfand und kaum Schaden anrichtete, da der Sprengsatz defekt war. Ein Bekennerschreiben der Tupamaros wurde vom Berliner Szeneblatt „Agit 883“ gedruckt, und kurze Zeit später schrieb der angeblich in Amman sich aufhaltende Kunzelmann einen offenen Brief, den „Agit 883“ ebenfalls abdruckte. Darin forderte Kunzelmann seine Mitstreiter auf, ihren „Judenknax“ zu überwinden und mit der Waffe in der Hand gegen die Zionisten zu kämpfen.

Dass Kunzelmann eine Schlüsselfigur der Tupamaros war, ist der Justiz und der interessierten Öffentlichkeit seit langem bekannt. Eine Beteiligung an dem Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus konnte man ihm indes nicht nachweisen. Die Aktion, deren antisemitischer Charakter die Linke seinerzeit nicht störte, galt deshalb bis vor kurzem als unaufgeklärt. Gemunkelt wurde, dass Kunzelmann der geistige Urheber der Tat gewesen sei; gemunkelt wurde auch, dass die Bombe vom Verfassungsschutzspitzel Peter Urbach geliefert worden sei. Genaues wusste man nicht – bis vor wenigen Wochen der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar mit einer Lösung aufwartete.

Um es kurz zu machen: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus wurde von Albert Fichter gelegt, der neben Ina Siepmann, Georg von Rauch, Lena Conradt und eben Kunzelmann zum inneren Kreis der Tupamaros gehörte. Diese Information hat Kraushaar ursprünglich von Michael („Bommi“) Baumann, der sie der Staatssicherheit ausgeplaudert hatte; von Fichter selbst, den Kraushaar im Sommer 2004 zur Sache befragt hat, wurde Baumanns Aussage bestätigt. Den Täter ausfindig gemacht und zum Sprechen gebracht zu haben ist Kraushaars großes Verdienst. Pünktlich zum Sommerloch erschien das Buch in schriller Aufmachung in der Hamburger Edition und wurde bald von allen großen Zeitungen besprochen. Einhelliger Tenor: Eine schockierende Tat ist endlich aufgeklärt. Doch wie viel von dem, was hier auf knapp 300 Seiten ausgebreitet wird, ist neu? Und was will uns der Autor eigentlich mitteilen?

Bisher nicht veröffentlicht sind einige Dokumente, die Kraushaar in den Stasiunterlagen gefunden hat, wie die schriftlichen Aussagen von Bommi Baumann. Neu sind auch einige Aussagen von Annekatrin Bruhn, einer Randfigur der Tupamaros, die Kraushaar ebenfalls im Sommer 2004 zum Tathergang befragt hat. Sie klärte auf, dass ein anonym im Republikanischen Club eingegangenes Tonband mit einer Erklärung zum Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus nicht (wie bisher angenommen) von der später im Libanon zu Tode gekommenen Ina Siepmann besprochen wurde, sondern von der ebenfalls verstorbenen Lena Conradt. Ansonsten bestätigte Annekatrin Bruhn weitgehend, was sie bereits zu Beginn der 1970er-Jahre in verschiedenen polizeilichen Vernehmungen ausgesagt hatte.

Neu ist auch die Information, dass Albert Fichters älterer Bruder Tilman (einer der wenigen, die sich bereits früh mit dem Antisemitismus der Linken kritisch auseinandersetzten) dem Attentäter zur Flucht verhalf – unter der Bedingung, dass Albert keine militanten Aktionen mehr plane. Während in anderen Kapiteln mitunter Porträts von Randfiguren im Stil eines Bewerbungslebenslaufs den Lesefluss unterbrechen, hätte man sich hier eine detailliertere Beschreibung der Beziehung zwischen den ähnlichen und doch so ungleichen Brüdern gewünscht. Stattdessen zitiert Kraushaar im Kapitel über „den Bombenleger“ auf 20 Seiten die im Interview gemachten Aussagen Albert Fichters, die sich zwar spannender lesen als der übrige Text, die man aber gut auf 5 Seiten hätte paraphrasieren können.

Das einzige Kapitel, in dem Kraushaar eine bisher gänzlich unbeantwortete Frage ins Visier nimmt, ist ein kurzer Abschnitt mit dem Titel „Dies ist keine Bombe“. Darin verweist der Autor auf diverse Gutachten, die so prominente Personen wie Jacob Taubes und Karl Heinz Bohrer im Rahmen von Gerichtsprozessen der 1970er-Jahre zur Verteidigung terroristischer Delinquenten verfassten. Diese Autoren argumentierten zwecks Entlastung der Angeklagten, militante Aktionen von Personen wie Kunzelmann seien weniger aus einem politischen-kriminellen als aus einem künstlerisch-avantgardistischen Selbstverständnis heraus geplant worden. Hier scheint, wie unterdessen auch Aribert Reimann angemerkt hat1, der eigentliche Schlüssel zum Verständnis eines nur vermeintlich durchgeknallten Spinners wie Kunzelmann zu liegen. Die Geschichte, die in diesem Kontext noch zu schreiben ist, ist eine Kulturgeschichte des politischen Attentäters, dem die Performance an sich wichtiger ist als alle politischen Botschaften, die er damit zu transportieren vorgibt.

Davon abgesehen lässt schon das Inhaltsverzeichnis ahnen, dass hier eine Synthese von Enthüllungswissenschaft und Hintergrundjournalismus versucht wurde, die dann doch auf reichlich Altbackenes zurückgreifen musste. Längst bekannt ist, dass die außerparlamentarische Linke in der Bundesrepublik ein massives Antisemitismusproblem hatte (als Standardwerk zum Thema darf man nach wie vor Martin Klokes einschlägige und von Kraushaar auch erwähnte Magisterarbeit empfehlen2). Bekannt und an prominenter Stelle reproduziert sind auch das Flugblatt zum Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus und Kunzelmanns Brief aus Amman.3

Wenn Kraushaar im Vorwort schreibt, es bedürfe „einer nicht ganz unerheblichen Bereitschaft, vielleicht sogar eines gewissen Durchhaltevermögens, den hier angedeuteten, ganz unterschiedlichen Linienführungen zu folgen“ (S. 17), so fragt sich die Rezensentin: Wozu? Wird hier nicht ein interessantes Detail künstlich zu Buchformat aufgeblasen? Zweifellos hätte man die im Kern durch zwei Interviews hinzugewonnenen Fakten samt des Rätsels Lösung – auch unter Berücksichtigung des historischen Kontexts – in einem Aufsatz von durchschnittlicher Länge gut unterbringen können.

Oder ist das Rätsel gar nicht gelöst? Unterdessen hat mit Gerd Koenen ein weiterer Kenner der Materie darauf hingewiesen, dass auch nach Kraushaars Buch nicht geklärt ist, welche Rolle der Verfassungsschutz (der mit Peter Urbach immerhin den Sprengstofflieferanten in Lohn und Brot hatte) bei der Planung des Anschlags spielte.4 Kraushaar deutet an, dass die Staatsanwaltschaft den der Tat verdächtigen Kunzelmann möglicherweise deshalb mit Samthandschuhen anfasste, weil man keine unliebsamen Details über den Ursprung der Bombe enthüllen mochte. An anderer Stelle erklärt er hingegen, als Auftraggeber des Anschlags kämen eher diejenigen Palästinenser in Frage, die Kunzelmann & Co. im Rahmen ihrer Nahostreise beherbergt hatten (S. 262f.).

Ärgerlich ist, dass weder eine solche inhaltliche Unstimmigkeit noch mancher sprachliche Lapsus durch ein sorgfältiges Lektorat bereinigt wurde. Einen „insgeheimen Magneten“ (S. 9) gibt es ebenso wenig, wie man „ins jene Halbdunkel“ (S. 260) geht. Den ermüdenden Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Indikativ und Konjunktiv hätte man dem Leser ersparen können, auch die seitenlange indirekte Rede. Allzu viele Informationen sind in den Fußnoten untergebracht. Nicht nachvollziehbar ist, warum manche Namen nur als Kürzel erscheinen; eine kurze Anmerkung zur Handhabung wäre hier angebracht gewesen, ebenso wie die Beigabe eines Quellen-, Literatur- und Abkürzungsverzeichnisses. Unwillkürlich kommt der Eindruck auf, dass hier ein Buch mit heißer, vielleicht mit allzu heißer Feder geschrieben wurde, damit die Enthüllung dem Autor nicht von anderen vor der Nase weggeschnappt wird.

Anmerkungen:
1 Reimann, Aribert, Avantgardistisches Cross-Over, in: Frankfurter Rundschau, 28.7.2005, S. 15.
2 Kloke, Martin W., Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt am Main 1994.
3 Z.B. in: Kunzelmann, Dieter, Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin 1998.
4 Koenen, Gerd, Rainer, wenn du wüsstest!, in: Berliner Zeitung, 6.7.2005, S. 27.

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