M. Jucker: Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen

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Titel
Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen im Spätmittelalter


Autor(en)
Jucker, Michael
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 38,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Würgler, Historisches Institut, Universität Bern

Die Eidgenossenschaft entwickelte sich im Spätmittelalter zu einem zwar locker geknüpften und komplexen, aber deutlich abgegrenzten Netz von Friedens- und Hilfsbündnissen zwischen Reichsstädten und reichsfreien Länderorten. Der ausgeprägte Föderalismus der Mitglieder setzte der Zusammenarbeit enge Grenzen. Ausgehandelt wurden die Kooperationsspielräume vor allem an den eidgenössischen Tagsatzungen, derer sich Michael Jucker in seiner Zürcher Dissertation für den Zeitraum von 1350 bis 1526 angenommen hat. Wiewohl die Tagsatzungen als wichtigstes Gremium der alten Eidgenossenschaft gelten 1, stammt die letzte historische Monografie dazu aus dem Jahr 1948, widmete sich aber dem 17. Jahrhundert. So willkommen daher die neuerliche Beschäftigung mit dem Thema ist, so zwiespältig fällt das Resultat aus.

In Abgrenzung zu den älteren, meist verfassungsgeschichtlichen, staatsrechtlichen oder rechtshistorischen Arbeiten wählt Jucker neuere kulturgeschichtliche Ansätze, von denen er insbesondere die Schriftlichkeitsforschung, die historische Kommunikationsforschung, die historische Anthropologie sowie praxeologische, perzeptionsgeschichtliche und vergleichende Ansätze erwähnt. Nach der Problemstellung in der Einleitung (Kapitel 1) steigt er mit einer Skizze der Forschungslage zur Schriftlichkeit ein (Kapitel 2) und führt über eine Quellen-, Editions- und Literaturkritik (Kapitel 3) zu den Akteuren am „Kommunikationsort Tagsatzung“ (Kapitel 4) und zu der Produktion und dem Gebrauch von Akten durch und an Tagsatzungen (Kapitel 5). Ein weiteres Feld eröffnet die Analyse der politischen Korrespondenzen zwischen den Orten (Kapitel 6), bevor die Untersuchung wieder zu den Tagsatzungen zurückkehrt und nach deren Produktion von Verwaltungsschriftgut fragt (Kapitel 7). Ein Exkurs wendet sich den diplomatischen Mitteln der Kommunikation zu (Kapitel 8), die Zusammenfassung bündelt die Ergebnisse (Kapitel 9).

Entsprechend seinem Erkenntnisinteresse steht bei Jucker der Umgang mit Schriftlichkeit, den die Akteure an diesen Versammlungen praktizierten, im Zentrum. Dabei geht es nicht nur um die Inhalte von „Verschriftungen“, sondern um die Umstände und Logiken von deren Produktion (making), Aufbewahrung (keeping) und Gebrauch (using und re-using) (Kapitel 2).

Aus dieser interessanten Perspektive kritisiert er zunächst (Kapitel 3) die wichtigste Quellenedition zu den Tagsatzungen, die so genannte „Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede“, die 1839/56-1886 in insgesamt 22 grossformatigen Teilen erschien. In diesem gelungensten Teil der Arbeit zeigt er auf, dass die vom 1848 gerade entstandenen schweizerischen Nationalstaat organisierte Edition zur Legitimation der Nation diente (S. 43). Im Bestreben, die Wurzeln des jungen Bundesstaates möglichst weit – bis zum ältesten der eidgenössischen Bündnisse von 1291 – in die Vergangenheit zurückzuverlegen, konstruierten die Herausgeber auch dort noch Abschiede von Tagsatzungen, wo es sie noch gar nicht gegeben hat – ähnlich wie Peter Moraw dies für den Reichstag gezeigt hat (S. 33). Bei den von den Herausgebern als „Tagungsprotokolle“ edierten Quellen handelt es sich vor 1450 mit wenigen Ausnahmen nicht um Akten der Versammlungen, sondern um Urkunden oder Missiven, die höchstens sehr indirekt auf reale Versammlungen schliessen lassen. Denn die regelmässige Produktion und Aufbewahrung von Abschieden setzte – ebenso wie die Verschriftlichung der Verwaltungspraxis in den seit 1415 von mehreren Orten regierten „Gemeinen Herrschaften“ (Kapitel 7) – erst in den 1470er-Jahren ein (Kapitel 5).

Anschaulich schildert Jucker die Akteure auf den Tagsatzungen (Kapitel 4). Die Vertreter der Orte, die ihre Vollmachten präsentierten, und besonders die Rolle der Schreiber nicht nur bei der Verschriftung, sondern im kommunikativen Prozess während den Tagungen. So etwa beim Zusammenspiel mündlicher und schriftlicher Anweisungen (Instruktionen) an die Teilnehmer der Sitzungen. Explizit ausgeblendet bleibt die Aussenpolitik und der Umgang mit Gesandten fremder Mächte.

Viel versprechend ist die erste Untersuchung der brieflichen Kommunikation der Tagsatzungen mit den Orten und der Orte untereinander (Kapitel 6). So korreliert beispielsweise die Dichte der Missivenüberlieferung auffällig mit den Amtszeiten der Stadtschreiber (S. 203). Aus den Korrespondenzströmen ergibt sich eine relativ schwache Zentrumsfunktion der Tagsatzungen (S. 208) und die Vermutung, dass Briefe meist nur zusammen mit den mündlichen Erläuterungen des Überbringers verstanden werden konnten (S. 222).

Einen äusserst ambivalenten Eindruck hinterlässt dagegen Juckers scharfe Kritik am Forschungsstand (Kapitel 3). Wie schon Generationen von Zürcher Mediävisten rennt er gegen den Mythos an, die Eidgenossenschaft sei mit dem ersten überlieferten Bündnis von 1291 bereits ein voll ausgebildeter „Staat“, getragen von einem eidgenössischen Bewusstsein und einer teleologischen Entwicklung hin zum Bundesstaat von 1848. Diesen Mythos, den er im 1849 erstmals publizierten Werk von Johann Caspar Bluntschli 2 findet, und der auch in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Rolle spielt, jagt Jucker auch dort, wo er längst ausgestorben ist: in der aktuellen Geschichtswissenschaft. Ihr unterstellt er, dass sie die Tagsatzung als „egalitäres Parlament“ abfeiert und das “Bild der bäuerlichen und bürgerlichen Freiheit weitertradiert […] und den Gesandtschaftstreffen demokratische, parlamentarische Funktionen zuschreibt”. 3 Im Aufsatz, auf den die Anmerkungen verweisen, kommen aber die Begriffe „Gleichheit“, „Freiheit“, „demokratisch“ oder „parlamentarisch“ gar nicht vor. Zudem übersieht er einige, auch neuere Beiträge zu den Tagsatzungen 4 und blendet Hinweise aus, die seine Ergebnisse teilweise vorwegnehmen. 5 Im insgesamt wenig mit dem übrigen Text vermittelten Exkurs (Kapitel 8) versucht Jucker, die Forschungstrends zu Rang, Distinktion und Körper als Medium auf sein Material anzuwenden. Das Buch, dem ein Register fehlt, ist mit vier hübschen farbigen Illustrationen aus dem Luzerner Schilling (1513) dekoriert, die allerdings quellenkritisch und interpretatorisch nicht ausgereizt werden.

Wer an Fragen der Schriftlichkeit und der Aktenproduktion der Tagsatzung interessiert ist, wird erst für die Jahre ab 1470 richtig fündig. Von da an ist, das zeigt Jucker klar, eine hinreichende Aktenproduktion der Tagsatzungen überliefert. Auch wäre hier der von Jucker aus unerfindlichen Gründen verpönte serielle Ansatz praktikabel. Nur dieser würde es allerdings erlauben, quantifizierende Aussagen der Art „die Sitzungszahlen pro Konflikt nahmen dadurch rasant zu“ (S. 250) nicht nur hinzuschreiben, sondern auch zu belegen.6

In der Bilanz bleibt negativ die vollmundige Forschungskritik, die sich über weite Strecken als Projektion erweist. Einen sehr positiven Eindruck hinterlassen dagegen die wertvolle Aufarbeitung der Entstehung und der Schwächen der Abschiedeedition sowie die sorgfältige Analyse der kommunikativen Komplementarität von Mündlichkeit und „Verschriftungen“.

Anmerkungen:
1 Vgl. Peyer, Hans Conrad, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 104.
2 Allerdings kann Jucker den behaupteten grossen Einfluss von Bluntschli, Johann Caspar, Geschichte des schweizerischen Bundesrechts von den ersten ewigen Bünden bis auf die Gegenwart, Stuttgart 1875 (zuerst 1849) auf die Konzeption der Edition nicht belegen (S. 63-67).
3 Vgl. S. 72, wo er unter dem Stichwort „Ungenauigkeiten“ der neueren Forschung (v.a. Würgler, Andreas, Die Tagsatzung der Eidgenossen, in: Blickle, Peter (Hg.), Landschaften und Landstände in Oberschwaben, Tübingen 2000, S. 99-117) seine eigenen Lesefehler ankreidet. Ähnlich S. 254 mit Anm. 6, S. 338.
4 So zum Beispiel Rappard, William E., Du renouvellement des pactes confédéraux (1351-1798), Zürich 1944; Rappard, William E., Cinq siècles de sécurité collective (1291-1798). Les expériences de la Suisse sous le régime des pactes de secours mutuel, Paris 1945; Stucki, Guido, Zürichs Stellung in der Eidgenossenschaft vor der Reformation, Aarau 1970; Walder, Ernst, Das Stanser Verkommnis, Stans 1994; Würgler, Andreas, Art. Tagsatzung, in: Historisches Lexikon der Schweiz, elektronische Version vom 1.9.2004, http://www.hls.ch [30.6.2005].
5 So S. 132, wo er der neueren Forschung unterstellt, sie behaupte den „verbindlichen Charakter“ der Entscheidungen der Tagsatzung, was er auf S. 325, Anm. 285 wieder zurücknimmt. Dabei steht schon im 1978 erschienen, „kanonischen“ Text von Peyer (wie Anm. 1), S. 105: „Tagsatzungsbeschlüsse waren nicht bindend.“ Oder S. 254, wo Jucker übersieht, dass aktuelle Arbeiten zum Beispiel das Spannungsverhältnis von rechtlicher Gleichheit und sozialer Rangfolge diskutieren. Dass Schiedstage und Tagsatzungen nicht gleichgesetzt werden dürfen, ist der neuen Forschung durchaus bekannt (S. 68, 272).
6 Vgl. Würgler, Andreas, Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution in europäischer Perspektive (1470-1798), Habil.schrift masch. Bern 2004.

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