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Titel
Das Fegefeuer. Entstehung und Funktion einer Idee


Autor(en)
Merkt, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
130 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Eva Wannenmacher, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt- Universität zu Berlin

Genau genommen ist das Fegefeuer längst volljährig. Zumindest liegt die Geburt des Fegefeuers, von Jacques Le Goff 1981 bravourös beschrieben, nun schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. Dennoch hat das Thema nichts von seiner Brisanz und Faszination verloren, wie die nach wie vor andauernde Diskussion um Jacques Le Goffs Darstellung und Auffassung des Fegefeuers zeigt. Nach vielen anderen Autoren hat sich nun auch der junge Regensburger Ordinarius für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Universität Regensburg Andreas Merkt dem Fegefeuer verschrieben. In einem Forschungsprojekt, dessen Ergebnis nun publiziert wurde, unternahm er den Versuch, die Entstehung und Funktion des Fegefeuergedankens in der Lehre und kirchlichen Praxis der ersten christlichen Jahrhunderte zu untersuchen und zu beschreiben.

Nach einem einleitenden Kapitel, in dem die Fragestellung beschrieben, das Untersuchungsgebiet räumlich und zeitlich eingegrenzt und der Forschungsstand skizziert werden, widmet sich die Untersuchung in drei Hauptteilen zunächst dem Schicksal der Toten und den Vorstellungen von deren jenseitiger Befindlichkeit. Im zweiten Teil wird die Sorge der Lebenden für die Toten dargestellt, nämlich Gebet und Opfer für die Verstorbenen, während der dritte und letzte Teil theologische und historische Reflexionen über das Verhältnis der Lebenden und der Toten verspricht.

Begriff und Gegenstand des Fegefeuers selbst werden erst in diesem letzten Teil explizit thematisiert. Damit ist zugleich eine Schwäche des Buches angesprochen, denn obwohl der Titel eine Untersuchung der antiken Fegefeuervorstellungen verheißt, wird zwar in den ersten beiden Teilen der Gedanke an das Schicksal der Toten im Jenseits und das Gedenken der Lebenden im Diesseits, die die Situation der Toten zu verbessern suchen, thematisiert, nicht jedoch das Fegefeuer im eigentlichen Sinn. Auch die der Untersuchung zugrunde liegenden Quellentexte – die Visio Perpetuae sowie Texte aus den Werken des Tertullian und Cyprian – beschäftigen sich vornehmlich mit der Sorge der Lebenden um die Befindlichkeit der Toten und den Bemühungen der Gläubigen als Einzelpersonen und als Gemeinde, auf dieses Schicksal einzuwirken, und sind bemüht, dieser (vorfindlichen) kirchlichen Praxis den angemessenen dogmatischen Boden zu bereiten, auf dem fußend sie in der lateinischen Kirche Nordafrikas eine rechtmäßige Heimat finden konnte. Im Vordergrund steht dabei stets das religiöse Empfinden der Lebenden und die liturgisch-seelsorgerliche Praxis, die in der jungen christlichen Kirche nach ihrer normativen Gestalt sucht. Das seit dem Mittelalter bekannte Fegefeuer und die von Merkt beschriebenen Äußerungen der Fürsorge der Lebenden für die Toten scheinen geradezu auf zwei gegensätzlichen Konzepten zu beruhen, da nämlich das Fegefeuer im mittelalterlichen Verständnis seine zwar schmerzhafte, aber läuternde Wirkung selbsttätig und ohne notwendige Mitwirkung der Lebenden entfaltet, während die hier beschriebene Praxis nicht nur die Sorge und Fürbitte der Lebenden einschließt, sondern sogar allein von dieser ausgeht und ihr Ergebnis nur umso günstiger für die Toten sein kann, je heiligmäßiger und opferbereiter der lebende Fürsprecher ist. So bedingt bereits im ersten der untersuchten Quellentexte – der Dinokratesvision der Märtyrerin Perpetua – allein das Märtyrertum der fürbittenden Schwester die Verbesserung des Schicksals ihres toten Bruders, nicht jedoch eine irgendwie geartete Läuterung, die der Tote im Jenseits vollzieht. Alles Leiden, das dem Toten widerfährt, ist Strafe, nicht Läuterung; die heilspädagogische Wirkung als das wesentliche Charakteristikum des Fegefeuers fehlt. Das gilt auch für Tertullian: „Jeder Gläubige in der Unterwelt muss also so lange darin bleiben, wie er es im negativen Sinn verdient hat. Und jeder darf so früh auferstehen, wie er es sich im positiven Sinn verdient hat.“ (S. 37; Kursivierungen im Original). Ähnlich Cyprian. Der Autor resümiert, dass „es nach Cyprian keine postmortale Buße im Sinne der kirchlichen Bußdisziplin gibt“ (S. 48), keine Bußleistung und damit auch keine Reinigung möglich ist, sondern jeder nach seinem Tod eine bestimmte, unterschiedlich lange Zeit in der Unterwelt wie in einem Kerker verharren muss, bis seine Sünden abgebüßt sind. Die Kirche kann die Strafe eines Sünders sogar verstärken, indem sie ihm die Unterstützung durch Gebet und Fürbitte versagt und so den Aufstieg aus der Unterwelt verwehrt. Statt der heilspädagogischen Funktion des Fegefeuers spiegelt das Bild der Unterwelt als Kerker lediglich die starre Rechtsauffassung eines statischen Jenseitsbildes wider, in dem die Toten, unterstützt durch mögliche Hilfe der Lebenden, ihre ihnen zugemessene Strafe absitzen und das höchstinstanzliche Urteil beim Jüngsten Gericht abwarten: „Die im Jenseits leidende Seele vermag offenbar ihr Los nicht zu beeinflussen.“ (S. 51) Sie kann nicht bereuen, keine wirksame Buße tun. Merkt betont die Erwähnung der Feuermetapher und des Begriffs purgare durch Cyprian (ebd.); dass die Jenseitsvorstellung Cyprians, der er „alle wesentlichen Elemente, die ein Purgatorium im vollen Sinne konstituieren“ attributiert (S. 50), dem Fegefeuergedanken als postmortaler Buße, die ja doch gerade Einsicht und Wille zur Besserung voraussetzt, geradezu diametral entgegengesetzt sein muss, ist ihm merkwürdigerweise entgangen.

Um die Entstehung des Fegefeuers in der Antike zu untersuchen, beschränkt sich die Studie auf Quellen aus der römischen Provinz Nordafrika und auf die Zeit vor dem Tod Cyprians († 258) als eine mit Rücksicht auf „Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte als sinnvolle Fokussierung“. Doch der Verweis auf die als normativ für das spätere Christentum empfundene Funktion Nordafrikas erscheint im fraglichen Zusammenhang als problematisch, wenn man bedenkt, dass die Fegefeuervorstellungen des abendländischen Mittelalters in keiner Weise mit denen der von Merkt untersuchten Literatur in einem auch nur irgendwie bedeutsamen Abhängigkeitsverhältnis stehen. In die mittelalterlichen Vorstellungen von Tod und Jenseits haben die Jenseitsvorstellungen der frühchristlichen Märtyrer, Tertullians oder Cyprians keinen Eingang gefunden. Durch einen zwar zeitaufwändigen, aber simplen Vergleich der Jenseitsbeschreibungen in den Texten antiker und mittelalterlicher Autoren lässt sich dies unschwer belegen. Für die mittelalterliche Geburt des Fegefeuers kommt darum seinen antiken Eltern, als die Merkt Perpetua, Cyprian und Tertullian vorstellt, keinerlei tatsächliche Bedeutung zu. Die Veränderungen, denen das Welt- und Jenseitsbild der Christen im 12. Jahrhundert unterlag und die zum Geburtshelfer des mittelalterlichen Fegefeuers wurden, sind von diesen frühen Entwicklungen vollkommen verschieden und nicht schon durch sie erklärbar, so als lokalisiere Le Goff irrtümlich eine Neuentwicklung im Hochmittelalter, die jedoch tatsächlich bereits seit der Antike vorhanden sei. Doch genau dies wirft Merkt dem französischen Mediävisten vor. Die besondere Bedeutung des 12. Jahrhunderts für die Entwicklung des Fegefeuergedankens liegt – wie sowohl Jacques Le Goff als auch seinen zahlreichen, von Merkt fast ausnahmslos vernachlässigten Kritikern wohl bewusst ist – weniger in der Entdeckung dieses Ortes innerhalb der heilsgeschichtlichen Geografie als vielmehr darin, dass im Zusammenhang mit den inzwischen viel beschriebenen Neuerungen des 12. Jahrhunderts, für die der Begriff einer Renaissance nachgerade schon überstrapaziert erscheint, vor dem Hintergrund eines naturwissenschaftlichen Weltbilds und neuartiger philosophischer Tendenzen und dem Beginn der Individualisierung der Heilsgeschichte nunmehr die Frage nach dem konkreten Ort des Totenreiches, des Paradieses oder des Himmels ganz neu formuliert und auch – vor dem Hintergrund der veränderten Koordinaten der Welt des 12. Jahrhunderts – neu beantwortet wurde. Mit dem Betreten dieser neuen Dimensionen hatten die alten Bilder von den Orten des Jenseits und des Fegefeuers von Gregor bis Beda, die Le Goff und seinen Kritikern wohl vertraut waren, einen neuen Rahmen benötigt. Die Situation und das Weltbild der afrikanischen Christen des zweiten und dritten Jahrhunderts werden als Kontext der Jenseitsvorstellungen dieser Christen von Merkt wahrgenommen; die gänzlich veränderte Situation des Hochmittelalters und ihre Erfordernisse glaubt er außer Acht lassen zu können. Und doch könnte die mittelalterliche Fegefeuervorstellung ebenso wenig aus der antiken erklärt werden wie umgekehrt.

Doch nicht nur der Blick nach vorn, auch der Blick zurück hätte der Studie nicht geschadet: Ebenso wie die Einschätzung der Bedeutung der spätantiken Jenseitsvorstellungen für spätere Zeiten lässt auch die Untersuchung ihrer Ursprünge Fragen offen. So wird behauptet, der Fegefeuergedanke der antiken Christen sei ohne biblische Grundlage. Dies widerlegt schon die Vielzahl der verwendeten Belegstellen, in denen alt- oder neutestamentliche Texte von Höllen- und anderen Jenseitserfahrungen sprechen und die zumindest für die spätantike und jedenfalls mittelalterliche und frühneuzeitliche Fegefeuervorstellung als Quelle und Referenzmaterial gedient haben; eine systematische Untersuchung dieser Texte, ihrer Rezeption und Interpretation durch die nordafrikanischen Christen wären eine gute Grundlage für eine Untersuchung der Entstehung des Fegefeuergedankens gewesen.

Die Frage nach den Jenseitsvorstellungen in den frühen afrikanischen Schriften, die der Autor als ein Desiderat der Forschung beschrieb, kann mit der vorliegenden Studie im Wesentlichen als beantwortet gelten. Für den im Titel erhobenen Anspruch ist ein vergleichbares Fazit nicht möglich. Eine genauere Definition des Fegefeuerbegriffs, die möglicherweise im Fall der vorliegenden Untersuchung zu seiner Aufgabe geführt hätte, sowie der Verzicht auf den Anspruch einer Korrektur und Ergänzung Le Goffs, die die Studie nicht leisten konnte, wären wünschenswert gewesen.

Ein Register fehlt leider. Eine eingehendere Beschäftigung mit der Sekundärliteratur zum Paradies- und Fegefeuerbegriff hätte der Studie gut getan; das Überwiegen der Lexikonartikel und Übersichtswerke (Altaner/Stuiber, Enchiridion Symbolorum in deutscher Übersetzung etc.) im Literaturverzeichnis befremdet. Schließlich wäre dem Buch ein gründlicheres Lektorat zu wünschen gewesen, das die zahlreichen (Tipp-)Fehler des Literaturverzeichnisses hätte vermindern können.

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