Titel
Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft


Herausgeber
Gause, Ute; Lissner, Cordula
Reihe
Historisch-theologische Genderforschung 1
Erschienen
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Relinde Meiwes, Berlin

Im Zeitalter zunehmender Individualisierung insbesondere in den westlichen Gesellschaften sehen sich hierarchisch strukturierte, religiöse Gemeinschaften - sofern sie von der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen werden - einem Legitimationsdruck ausgesetzt. Damit müssen sich besonders die im 19. Jahrhundert entstandenen katholischen und protestantischen Frauengemeinschaften schon seit ihrer Gründungsphase auseinandersetzen. Protestantinnen konnten allerdings im Unterschied zu den Katholikinnen nicht auf eine jahrhundertealte Tradition monastischen Frauenlebens zurückgreifen und diese den aktuellen Verhältnissen anpassen. Der Status der aus religiöser Motivation gemeinschaftlich lebenden und sozial tätigen Diakonisse etablierte sich im 19. Jahrhundert in mitunter heftigen innerprotestantischen Auseinandersetzungen - hatte doch Luther den Ehestand als die für Frauen und Männer einzig akzeptable Lebensform betrachtet.

Das hier anzuzeigende Buch gewährt Einblick in Geschichte und die Aktivitäten von Diakonissen als "eines mittlerweile fast unbekannten protestantischen Frauenberufs" - wie es im Klappentext heißt. Unter dem Titel "Kosmos Diakonissenmutterhaus" publizieren die Siegener Theologin und Kirchenhistorikerin Ute Gause und die Historikerin Cordula Lissner Ergebnisse eines breit angelegten Oral-History-Projekts mit Schwestern der Kaiserswerther Diakonie. In der Einleitung heben die Herausgeberinnen die Interdisziplinarität und die sich daraus ergebende Methodenvielfalt hervor. Ziel des Projektes sei es, einen Perspektivenwechsel einzuleiten, der die "individuelle Selbstkonstruktion einer Diakonisse" (S. 17) in die Analyse einbezieht und die handelnden Personen nicht hinter der Institutionengeschichte verschwinden lässt. Die Wissenschaftlerinnen ergriffen gemeinsam mit der früheren Vorsteherin der Kaiserswerther Diakonie, Cornelia Coenen-Marx, die Initiative zu diesem ambitionierten Projekt. Mit Hilfe der Oral-History-Methode - so Gause und Lissner - sollen "neue Wege für die Frauengeschichte im protestantischen Raum" beschritten werden (S. 23).

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Unter dem Titel "Lebensgeschichten" kann man im ersten Teil die Interviews mit fünf Diakonissen nachlesen. Ausgewählt wurden sie aus einem Korpus von insgesamt 40 lebensgeschichtlichen Interviews, die Cordula Lissner und Birgit Funke zwischen 2001 und 2004 durchführten. Sie stehen auf Tonträgern und als Transskripte in anonymisierter Form im Archiv der Fliedner-Kulturstiftung in Kaiserswerth der Forschung zur weiteren Bearbeitung zur Verfügung. Hinzu kommen weitere 130 biografische Daten von Diakonissen, die in einer Datenbank erschlossen sind, sowie weitere 108 rudimentäre Daten sogenannter diakonischer Schwestern. Schließlich entstanden in diesem Rahmen themenbezogene Gruppengespräche mit den Schwerpunkten Zwangsarbeit, Migration und Arbeitsfelder im Ausland. Bei den fünf präsentierten Lebensgeschichten handelt es sich um Frauen, die zwischen 1907 und 1950 geboren sind und zwischen 1932 und 1977 Mitglied im Diakonissenmutterhaus in Kaiserswerth wurden. Sie sind ausgebildete Krankenschwestern mit Zusatzqualifikationen. Der Erfahrungszeitraum reicht vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart, drei Frauen haben im Ausland gearbeitet, vier arbeiteten in Führungspositionen.

Der zweite Teil, der mit "Kontexte" überschrieben ist, umfasst sechs Aufsätze und verfolgt das Ziel - so die Herausgeberinnen -, aus unterschiedlichen Perspektiven und unter Hinzuziehung weiterer Quellen die Interviews zu analysieren. Gause untersucht auf der Basis des erhobenen biografischen Materials und der Hausordnungen von 1940 und 1967 die "Diakonissengemeinschaft als spirituelle Gemeinschaft." Sie vertritt die These, dass die von der Gemeinschaft vorgegebene Glaubenspraxis den Rahmen für die individuelle Glaubenspraxis darstelle. Dieser enge Konnex würde durch eine "vermeintliche Modernisierung", etwa durch das Tragen von Zivilkleidung oder das Wohnen in einer eigenen Wohnung, beeinträchtigt und trüge zum "Niedergang des Modells" bei (S. 146f.). Identitätsstiftend sei gewesen, dass sich die Diakonissen als "Glaubens, Lebens- und Dienstgemeinschaft" (S. 148) verstanden hätten. Die Integration der Diakonissen in diese Gemeinschaft habe daher die Glaubenspraxis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Bereits in den 1960er-Jahren kehrte sich dieser Trend zugunsten einer stärker individualisierten Frömmigkeit um, und damit - so Gause - "zerfiel der Gemeinschaftsgedanke" (S. 159). Die Konsequenzen, die sich hieraus für den "Kosmos Diakonissenmutterhaus" ergeben, berühren den Kern des Diakonissenlebens und können in dem vorliegenden Buch nur gestreift werden. Religiöse Motive waren und sind dennoch handlungsleitend für diejenigen, die sich für den Beruf der Diakonisse entscheiden, wie dies die lebensgeschichtlichen Interviews im ersten Teil belegen. Implizit lässt sich jedoch aus dem Beitrag von Gause herauslesen, als herrsche bei vielen Frauen ein eher instrumenteller Umgang mit dem Religiösen vor. So merkt sie an, dass die "Betonung des Berufungserlebnisses" auch eine "Stilisierung" sei oder dass der Beruf der Gemeindeschwester mit sozialer Anerkennung verbunden sei und überdies noch "religiös ‚legitimiert' werden" könne (S. 172). Dessen ungeachtet ist der Autorin zuzustimmen, dass Frauen religiöse Kontexte nutzen, um ihre individuellen Handlungsräume zu erweitern.

Das Verhalten der Diakonissen im Nationalsozialismus steht im Mittelpunkt der Überlegungen des Historikers Uwe Kaminski, der seine Studie unter anderem auf zwei im ersten Teil vorgestellte Interviews und Gruppeninterviews stützt. Zunächst gibt er einen Überblick über die Diakonissenanstalt und die Pflegesituation nach 1933. Er konstatiert einen Pflegekräftemangel und einen massiven Rückgang der Eintritte, die von 1933 bis 1937 um 50 Prozent sank; die Lücke wurde durch vermehrte Einstellung von weltlichem Personal geschlossen. Der Autor vertritt die These, dass Kaiserswerth sich nach "anfänglicher Zustimmung zum ‚nationalen Aufbruch'" reserviert gegenüber den "politischen Zumutungen des Regimes" gezeigt habe und sich dennoch an der Umsetzung rassistischer und erbbiologischer Gesetze, z.B. der Zwangssterilisierung beteiligt habe. Insgesamt - so Kaminski - nimmt die NS-Zeit in den Interviews "keine exponierte Stellung" (S. 241) ein. Zwangssterilisation oder Zwangsarbeit seien hingenommen worden, auf Widerspruch sei allenfalls die nationalsozialistische Einflussnahme auf religiöser Belange der Diakonissengemeinschaft gestoßen.

Auf der Basis von 14 Einzelinterviews und zwei Gruppengesprächen fragt Cordula Lissner nach den Arbeitsbedingungen und den Erinnerungsmustern der Diakonissen im Ausland. Sie vertritt die These, dass es sich bei den Niederlassungen im Ausland praktisch um deutsche Dependancen gehandelt habe. Ohne Vorbereitungszeit und Sprachkenntnisse sowie mit wenig Gepäck reisten Diakonissen ins Ausland und fanden an ihrem Einsatzort nahezu dieselben Regeln und Gegebenheiten vor wie an inländischen Standorten. Wesentliches Ziel der Arbeit war nicht etwa die Mission oder soziale Arbeit, sondern die "Versorgung von deutschen Staatsangehörigen und deutschen Kolonien" und die "Betreuung einer begüterten einheimischen wie internationalen Klientel" (S. 254). Dies hatte zur Folge, dass der Kontakt "zur Bevölkerung wohl sehr selektiv und reglementiert" war (S. 256). Wie bereits Gertrud Hüwelmeier 1 in Bezug auf katholischen Frauenorden feststellte, hat sich für die Form des Arbeitens und Lebens im Ausland mit der Absicht der Rückkehr der Begriff der Transmigration etabliert. Gegenwärtige Globalisierungsdebatten sollten jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass kultureller, sozialer oder religiöser Austausch zu allen Zeiten stattfand, selbst im Zeitalter der entstehenden Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts und keineswegs nur unter Männern, wie die Aktivitäten der konfessionellen Frauengemeinschaften zeigen. Erstaunlich nur, dass derartige Erfahrungen in Kaiserswerth offenbar nicht gefragt waren, mehr noch, so resümiert Lissner, man habe sie ausgegrenzt, auch "um sich nicht zu verändern" (S. 274).

Norbert Friedrich - Leiter der Fliedner-Kulturstiftung - beleuchtet das Verhältnis der Diakonissen zur Institution Diakonissenanstalt. Der Autor skizziert die Organisationsform der Kaiserswerther Diakonissenanstalt und weist auf den umfangreichen Restrukturierungsprozess in den 1960er-Jahren hin, in dessen Folge es 1964 zur Umbenennung der Diakonissenanstalt in Diakoniewerk kam. Ein aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive bemerkenswerter Vorgang, wurde doch durch die neue neutrale Formulierung weibliche Partizipation und Gestaltungskraft unsichtbar gemacht. Anders als in den katholischen Frauenorden sahen sich die Diakonissen aber auch schon vor der Umbenennung einer gemischt-geschlechtlichen Hierarchie gegenüber. Bis in die jüngste Zeit hinein gab es in Kaiserswerth "einen Pfarrer als Vorsteher für die Gesamteinrichtung und eine Diakonisse als Vorsteherin für die Schwesternschaft" (S. 280). Was als Bevormundung interpretiert werden kann, muss im synchronen Vergleich differenzierter betrachtet werden. So weist Friedrich darauf hin, dass die Schwestern aus "Respekt und Identifikation mit dem Mutterhaus" (S. 284) gehorsam waren, beide hätten in einem "nahezu dialektischen Verhältnis" zueinander gestanden.

Wie ein roter Faden durchzieht das Buch die Suche nach der Balance von Gemeinschaft und Individualität, so auch die beiden letzten Beiträge, die hier noch kurz genannt werden sollen. Aus religionspädagogischer Sicht analysiert die Theologin Birgit Funke das biografische Material. Ihr Hauptinteresse gilt der Frage, in welcher Weise sich diejenigen Schwestern, die im Arbeitsfeld "Erziehung und Bildung" - einem im Vergleich zur Krankenpflege kleinen Tätigkeitsbereich - tätig waren, sich den kollektiven Orientierungen, die das Mutterhaus vorgab, fügten oder ob sie eigene Vorstellung zum Tragen bringen konnten. Die Pflegewissenschaftlerin Margot Sieger beschäftigt sich in einem ersten Schritt mit dem Einfluss der Kaiserswerther Krankenschwestern auf die Geschichte der Krankenpflege im 20. Jahrhundert und analysiert im zweiten Schritt die individuellen Sichtweisen von vier Schwestern.

Die Kaiserswerther Diakonissen wissen die Anstrengungen der ForscherInnen zu schätzen und sehen, dass sie von diesem engagierten Blick von außen profitieren können, wie das Nachwort von Ruth Felgentreff - selbst Diakonisse und zugleich Historikerin - zeigt. Angesprochen ist damit zugleich der herausragende Wert des hier vorgestellten Projektes, nämlich die Sicherung der Erinnerungen gleich mehrerer Schwesterngenerationen, die zudem jetzt für weitgehende Forschungen zur Verfügung stehen. Das Buch gibt instruktive Einblick in die Erinnerungskultur einer Frauengemeinschaft, die auf der Suche nach einer neuen Legitimation ist. 2 Dessen ungeachtet müssen jedoch einige Einwände erhoben werden. So spannend die im ersten Teil vorgestellten Lebensläufe der Diakonissen auch sind, so unbefriedigend bleibt es doch, dass es den Lesenden überlassen bleibt, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen und sich Kontexte zu erschließen. Irritierend ist zudem, dass keine Kriterien für die Auswahl der Interviews genannt werden, man muss sich mit dem lapidaren Hinweis auf die "Bandbreite verschiedener Schwesternbiographien" zufrieden geben. Die Aufsätze des zweiten Teils beziehen sich teilweise nur wenig auf die abgedruckten Interviews, sodass Zusammenhänge über die Lebensläufe der Schwestern beim Blättern leicht verloren gehen.

Für weibliche Biografien und die Partizipation von Frauen am kirchlichen Geschehen hat sich die Kirchengeschichte bislang nur wenig interessiert, trotz stetig anschwellender Literatur zur Sozialgeschichte des Religiösen und der Kirchen im 19. und 20. Jahrhundert. Umso erfreulicher ist es daher, dass in der Evangelischen Verlagsanstalt mit dem besprochenen Band eine neue konfessionsübergreifend angelegte Reihe mit dem Titel "Historisch-theologische Genderforschung" begründet wird. Auf deren weitere Ergebnisse darf man sehr gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hüwelmeier, Gertrud, Global Players - Global Prayers. Gender und Migration in transnationalen Räumen, in: Zeitschrift für Volkskunde 100 (2004), S. 161-175.
2 Zu ähnlichen Debatten vgl. Hüwelmeier, Gertrud, Närrinnen Gottes. Lebenswelten von Ordensfrauen, Münster 2004; Schoenauer, Hermann u.a. (Hgg.), Tradition und Innovation. Diakonische Entwicklungen am Beispiel der Diakonie Neuendettelsau, Stuttgart 2004.

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