G. Keiderling: Der Umgang mit der Hauptstadt

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Titel
Der Umgang mit der Hauptstadt. Berlin 1945 bis 2000


Autor(en)
Keiderling, Gerhard
Erschienen
Berlin 2003: verlag am park
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Ribbe, Berlin

„Warum dieses Buch?“ Diese Frage stellt der Autor in seiner Einleitung und verbindet sie mit weiteren Fragestellungen, die sich aus dem Ende Berlins als Reichshauptstadt infolge des Ausganges des Zweiten Weltkrieges ergaben: „[W]arum ging die Hauptstadt ‘verloren’, wer hatte daran ein Interesse, welche ‘Ersatzlösungen’ wurden gefunden und was geschah zwischenzeitlich mit der geteilten Ex-Hauptstadt? Und vor allem: wieso nicht wieder Berlin?“ (S. 7). Nachdem die Hauptstadtfrage im Zuge der deutschen Einheit abgeschlossen beantwortet worden sei, sieht der Autor die Zeit für einen kritischen Rückblick gekommen, denn „den Jüngeren muss vieles erklärt werden“ (S. 7). In neun Kapiteln „blockt“ Keiderling seine Nachkriegsgeschichte Berlins, zu der er bereits als führender DDR-Spezialist für die Zeitgeschichte Berlins nach 1945 erhebliche Vorarbeiten leisten konnte. Allerdings bleibt auch hier die kommunale Entwicklung der Stadt weitgehend ausgeklammert.

Ausgangspunkt der Betrachtung ist die militärische Lage bei Kriegsende mit der Eroberung der Stadt durch die „Rote Armee“ und die dadurch entstandene politische Situation. Natürlich lobt Keiderling Eisenhowers Entscheidung (und rechtfertigt sie nach militärischen Gesichtspunkten), die Einnahme Berlins den Sowjets zu überlassen (S. 34ff.), um zugleich die Einschätzung Churchills zu entkräften, „wenn ein von der Koalition geführter Krieg seinem Ende zugeht, gewinnen die politischen Aspekte mehr und mehr die Oberhand“ (S. 31), sowie dessen weitsichtige Feststellung anzuprangern, „dass Sowjetrussland zu einer tödlichen Gefahr für die freie Welt geworden war und dem entschieden, auch militärisch, entgegengewirkt“ werden müsse (S. 32).

Der Dreh- und Angelpunkt und somit die Grundlage jeder weiteren Argumentation Keiderlings bei der weiteren politischen Entwicklung im Nachkriegs-Berlin ist seine Behauptung, Berlin habe von Beginn an zur sowjetischen Besatzungszone gehört: „In der EAC [European Advisory Commission] gingen alle Seiten von der Zugehörigkeit Berlins zur sowjetischen Besatzungszone aus.“ Dies (wie auch manch anderes, das noch folgt) steht bereits (S. 29) in Keiderlings umfassender Schrift von 1982 „Die Berliner Krise 1948/49. Zur imperialistischen Strategie des kalten Krieges gegen den Sozialismus und der Spaltung Deutschlands“. Hier wie dort vertritt er unbeirrt den sowjetischen Standpunkt (der in der DDR offiziell geteilt wurde), der aber nach Wort und Sinn dem Londoner Protokoll vom 12.09.1944 widerspricht, wo es unter Ziffer 1 heißt: „Germany, within her frontiers as they were on the 31st December, 1937, will, for the purposes of occupation, be divided into three zones, one of which will be allotted to each of the three powers, and a special Berlin area, which will be under joint occupation by the three powers.“ Danach war Berlin eindeutig ein separates Besatzungsterritorium, das zu keiner der anderen Besatzungszonen, also auch nicht zur sowjetischen, gehörte und damit auch später nicht zur DDR. Bei Keiderling aber steht geschrieben: „Der Oststaat richtete sich [im Jahr 1945] im Ostteil Berlins ein, das schon vorher Zentrum der sowjetischen Besatzungszone war.“ (S. 8)

Natürlich vertritt der Verfasser auch bei der Auslegung des Potsdamer Abkommens die sowjetische Auffassung, indem er u.a. behauptet, die Einheit Deutschlands sei durch den „Kuhhandel in der Reparationsfrage“ zerstört worden, denn die Amerikaner hätten darauf bestanden, dass jede Besatzungszone ihre Reparationsansprüche aus der eigenen Besatzungszone decken sollte: „Ein Vierzonen-Deutschland, das nicht mehr wirtschaftliche Einheit war, konnte auch nicht länger als politische Einheit behandelt werden.“ (S. 92) Auch der Exodus der Berliner Industrie, der, wie Keiderling richtig erkennt, bereits vor dem Kriegsende einsetzte, fand nicht nur wegen der Standortnachteile in West-Berlin eine Fortsetzung. Ursache hierfür ist – neben den sowjetischen Demontagen – ganz sicher auch in den Enteignungen zu sehen, die im Ostteil der Stadt die Wirtschaft lähmten und gerade Großbetriebe, die in beiden Teilen Berlins Standorte hatten (z. B. Siemens), so schwächten, dass sie sich gezwungen sahen, große Teile der Fertigung und schließlich auch ihren Firmensitz in den Westen zu verlegen, wofür sicher auch noch andere Argumente sprachen (S. 292).

Es geht dem Autor im Wesentlichen darum, den „Westen“ (Deutsche und Alliierte) als verantwortlich für die politische Spaltung und die Teilung des Landes (und der Stadt Berlin) in zwei separate Staaten zu denunzieren. Die Alternative, vor die sich die beteiligten Politiker gestellt sahen, war aber, die Umwandlung des gesamten Landes in einen sozialistischen Staat stalinistischer Prägung durch die UdSSR mit tatkräftiger Unterstützung der deutschen Kommunisten hinzunehmen bzw. daran mitzuwirken oder eine freiheitliche Demokratie westlicher Prägung mit einer entsprechenden Wirtschaftsordnung als Voraussetzung aufzubauen, was aber die zuvor Genannten für das ganze Land nicht zulassen wollten.

Wer Keiderlings Argumentation folgt, muss glauben, nur die Unzufriedenheit mit den materiellen Verhältnissen im Staats-Sozialismus der DDR habe die Bevölkerung in das Lager des „imperialistisch-kapitalistischen Klassenfeinds“ getrieben. Von den Drangsalierungen durch eine pervertierte Rechtsordnung, wie sie jeder Diktatur – und leider auch der des real existierenden Sozialismus in der DDR – eigen war, ist in dem hier anzuzeigenden Band an keiner Stelle die Rede. Aber die „Abstimmung mit den Füßen“ vor dem 17. Juni 1953 und dann auch vor dem Mauerbau hat darin ebenso ihren Grund wie beim Ende des „ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden“, als die Drangsalierten ihren Peinigern zuriefen: „Wir sind das Volk!“ Auch hier werden wieder nur ökonomische Beweggründe genannt. Ob dies auch die Intentionen der von Keiderling erwähnten Bürger- und Menschenrechtsorganisationen waren, die gegen Wahlfälschung und für demokratische Freiheit demonstrierten, um dabei vom Staatssicherheitsdienst und von der „Volks“polizei verhaftet zu werden?

Den Nachweis zu führen, allein Berlin habe nach dem Ende der DDR einen Anspruch darauf gehabt, gesamtdeutsche Hauptstadt zu werden, ist ein Hauptanliegen des Autors. Wunderbar klar herausgearbeitet wird die Haltung der Westmächte und der westdeutschen Politik sowie der West-Berliner Politiker hinsichtlich der Einbeziehung Berlins in das Grundgesetz. Leider fehlt auch hier das östliche Pendant, wofür doch ausreichend Quellen zur Verfügung stehen. Seinem konsequent durchgehaltenen Pro-Berlin-Votum ist die durchaus verdienstvolle Erinnerung an die Schmiergeld-Affäre zu danken, die der „Spiegel“ publik gemacht hatte und die ein Untersuchungsausschuss nur unbefriedigend aufklären konnte (S. 212ff.). Keiderling zitiert in diesem Zusammenhang Karl Mommer (SPD), der 1965 „eingestand“, 1949 einen Fehler gemacht zu haben, als beschlossen wurde, in Bonn zu bleiben und nicht dem Antrag der Kommunisten im Bundestag gefolgt zu sein, das Parlament und die Regierung in Berlin anzusiedeln: „Die [Kommunisten] hatten andere Gedanken dazu, als sie das vorschlugen.“ (S. 210) Leider teilt uns Keiderling nicht mit, welche anderen Gedanken das waren, die Mommer hier im Visier hatte, wie überhaupt eine eingehende Würdigung der politischen Gefahren, die bei einer Ansiedlung der zentralen Bundesorgane in Berlin in jener Zeit für diese bestanden, fehlt.

Unser Autor erweist sich als ein Meister des „Weglassens“, des „Verschweigens“, wenn es nicht in sein Konzept passt. Ein Beispiel aus dem Kuriositätenkabinett: Einen ganzen Absatz widmet er der „amtlichen Schreibweise“ der Teilstadt West-Berlin. Danach „entschied eine Sonderkommission beim Senat, es sei grundsätzlich die Bezeichnung „Berlin“ oder „Land Berlin“ zu verwenden. Nur dann, wenn es im Interesse der Deutlichkeit z.B. bei einem Vergleich mit Ostberlin notwendig sei, solle auf die Schreibweise „West-Berlin“ oder „Berlin (West)“ zurückgegriffen werden“. Was der Leser nicht erfährt: In der DDR ist nach Erfindung der Drei-Staaten-Theorie für die „Selbständige politische Einheit“, dem dritten staatlichen Gebilde auf deutschem Boden, die Schreibweise „Westberlin“ (in einem Wort!) verordnet worden. Daran hält sich auch der Autor, der – zusammen mit Percy Stulz - bereits 1970 eine Berlin-Geschichte veröffentlicht hat mit dem Untertitel „Zur Geschichte der Hauptstadt der DDR und der selbständigen politischen Einheit Westberlin“. Keiderlings 1987 erschienene Teil-Stadtgeschichte heißt dann im Untertitel folgerichtig „Geschichte der Hauptstadt der DDR“. Und auch das sollte nicht vergessen werden: In der wissenschaftlichen Literatur stellte sich offenbar die Frage, wie der Verlagssitz in beiden Teilen der Stadt zu bezeichnen sei. Für die Verlage selbst war und blieb es schlicht „Berlin“. Autoren (in Ost und West) gingen aber – teilweise - dazu über, in ihren Literaturnachweisen „Westberlin“ von „Berlin (DDR)“ zu unterscheiden.

Obwohl die Darstellung mit dem „Ende der Reichshauptstadt“ beginnt und mit einem „Zurück im wieder vereinten Berlin“ endet, wird der Stoff nicht streng chronologisch geordnet. Das geht aus dem nicht sehr übersichtlich gestalteten Inhaltsverzeichnis noch nicht hervor, sondern wird erst bei der Lektüre deutlich, wenn die Geschichte der beiden Teilstädte getrennt im Rahmen der Deutschland- und Weltpolitik der ehemals Alliierten behandelt wird. Damit bildet auch der Bau der Mauer 1961 keinen Periodisierungseinschnitt, sondern wird unter „ferner liefen“ behandelt. Der wissenschaftlich interessierte Leser bedauert die Anordnung der „Fußnoten“, die gar keine sind, weil sie nicht am Fuße der Seiten, sondern jeweils am Ende eines Kapitels stehen, und er vermisst schmerzlich ein Quellen- und Literaturverzeichnis, das einen instruktiven Einblick in die Arbeitsweise des Verfassers gestattet hätte, der aber mit viel Mühe auch aus dem Anmerkungsapparat gewonnen werden kann.

Warum dieses Buch? Kommen wir zurück auf die vom Autor selbst gestellte und hier eingangs zitierte Frage. Er ist doch nach wie vor der Meinung, ganz Berlin hätte bei Kriegsende den Weg der Sowjetisierung gehen müssen, die Politik der kapitalistischen Demokratien westlicher Prägung sei Schuld an der Teilung von Stadt und Land und am Verlust der Hauptstadtfunktion Berlins für das ganze Deutschland. Keiderlings Vorstellung vom sozialistischen Staat auf deutschem Boden konnte sich nicht durchsetzen, „Groß-Berlin“ ist Hauptstadt und Regierungssitz des vereinigten Deutschland, der „BRD“. Was will er uns sagen, wenn er im Titel vom „Umgang mit der Hauptstadt“ spricht? Der Osten hat Berlin immer als Hauptstadt gewollt, nur der Westen (Adenauer) war dagegen? Selbst der Bundestagsentscheid für Berlin sei nur mit den Stimmen aus dem Beitrittsgebiet herbeigeführt worden? Stimmung gegen die Reichshauptstadt Berlin hat es fast überall und zu jeder Zeit im Reich gegeben, auch in Mitteldeutschland, und die Bevorzugung der Hauptstadt der DDR in vielen Lebensbereichen war der Bevölkerung in den Bezirken und Kreisen immer ein Dorn im Auge. Vor allem die Jüngeren, denen Keiderling vieles erklären will (s.o.), seien gewarnt: Der Autor versucht den Eindruck einer um Objektivität bemühten Geschichtsdarstellung zu erwecken, schreibt aber nach wie vor vom „parteilichen Standpunkt“ aus. Was dafür nützlich ist, wird verwendet, auch wenn es vom „Klassenfeind“ stammt, alles andere bleibt unerwähnt. Das gilt sogar für den Untertitel des Buches, der dem Titel eines anderen, ein Jahr zuvor erschienenen Werkes entlehnt ist, das aber ein ganz anderes Bild von der „Geschichte Berlins 1945-2000“ entwirft.

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