M. Reichel (Hg.): Antike Autobiographien

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Titel
Antike Autobiographien. Werke - Epochen - Gattungen


Herausgeber
Reichel, Michael
Reihe
Europäische Geschichtsdarstellungen 5
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 277 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Walter, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Bei der Beschäftigung mit autobiografischen Texten sind Historiker mittlerweile in einer unkomfortablen Position. Sie wissen zwar seit langem, dass man solchen Zeugnissen mit besonderer Vorsicht und Skepsis gegenübertreten muss. Aber den Luxus, sie als bloße Bewusstseinsinhalte aufzufassen, als Konstruktionen oder Produkte von Diskursen, die das Sagbare und die Modi des Sagens festlegen, aber kaum Hilfe bei der Rekonstruktion faktischer Tatsachen und Zusammenhänge bieten, können sich Erforscher älterer Epochen meist nicht leisten. Althistoriker etwa kommen dabei oft nicht über die mehr oder minder begründete Entscheidung hinaus, ob eine Passage bei Plutarch aus einem autobiografischen Text oder einer historiografischen Darstellung stammt. Vielleicht stellen sie die falschen Fragen, weil für die richtigen der Mut, in erster Linie aber das Material nicht ausreicht. Aus den vereinten Bemühungen einer Literaturwissenschaft, welche die Postmoderne zwar zu überwinden sich anschickt, sie aber natürlich nicht ungeschehen machen kann, und einer Kognitionspsychologie, die uns lehrt, dass wir gar nicht anders können, als unsere Erinnerungen und damit auch uns selbst ohne Unterlass neu zu erfinden, hat sich eine Art Gedächtnisanthropologie herausgebildet. Die Verstörungen, die Johannes Frieds Auslieferung der Geschichts- an die Neurowissenschaft jüngst verursacht hat 1, werden gewiss noch lange nachwirken, aber die Erfahrung, dass manche Erinnerungen unveränderlich ins Gedächtnis gebrannt sind, werden durch seine Befunde ebensowenig aus der Welt zu schaffen sein wie das Urbedürfnis des Historikers, doch wenigstens wissen zu wollen, wie es eigentlich gewesen ist - und sei es aus dem Mund eines Akteurs.

Die Komposition des vorliegenden Sammelbandes - er dokumentiert ein Symposion, das vom Seminar für Klassische Philologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ausgerichtet worden ist - verrät diese missliche Schieflage; nach der Lektüre des theoretischen Trommelfeuers, das die beiden ersten Beiträge entfesseln, sind die Ohren, die antiken autobiografischen Texten etwa äußere Wirklichkeiten ablauschen wollen, vollständig ertaubt. Zu hören ist nur noch das Rauschen im eigenen Kopf, wie es die immanente und die intertextuelle Lektüre der antiken Zeugnisse vermittelt.

Günther Niggl skizziert in einem Überblick "Zur Theorie der Autobiographie" noch einmal die - vergleichsweise kurze - Geschichte des Gattungsbegriffs (S. 1-13). Seine formale Definition, wonach eine Autobiografie das ganze Leben des jeweiligen Verfassers oder zumindest einen wesentlichen Teil davon zur Darstellung bringt, und seine Unterscheidung zwischen der Autobiografie als Gattung und Ego-Dokumenten in anderen Textsorten erlauben es überhaupt erst, hier eine Brücke von der Antike zur modernen literaturwissenschaftlichen Diskussion zu schlagen. Für die Autobiografie vor dem 20. Jahrhundert erscheint es auch konstitutiv, dass ihr Verfasser eine kontinuierliche und vor allem gedanklich kohärente Geschichte erzählt, die er dann für sein Leben hält und die Bezug zu einer äußeren Welt hat. Wer sich als Historiker auf die von vielen Literaturwissenschaftlern eingeräumte Fiktionalität, Referenzlosigkeit und beständige kaleidoskopische Neufigurierung autobiografischer Rede einließe, müsste die Quellenkritik gegen Resignation eintauschen. Diese fundamentale Differenz der Perspektiven und Erwartungen benennt Niggl in gebotener Deutlichkeit (S. 12).

Carl Pietzcker betont in "Die Autobiographie in psychoanalytischer Sicht" (S. 15-27) den Konstruktcharakter von Erinnerung; die Wahrheit einer Erinnerung sei "nicht die einer Tatsachenfeststellung, sondern die eines Versuchs, erzählend einen stimmigen Zusammenhang aller Feststellungen zu schaffen, die uns im angesprochenen Kontext wichtig erscheinen" (S. 18). Mit Recht lässt er die von Fried zu stark betonten neurologischen Bedingungen von Erinnerung beiseite und verweist stattdessen auf die sozialen Parameter: Im Individuum in jedem Moment fluide Erinnerungen werden in verfestigter Form konstituiert und konstruiert, indem sie erzählt werden; die Erzählung aber bedarf eines Gegenübers, dem sie mitgeteilt wird, und sie entsteht nach Regeln - Sprache, Bilder, Szenen, Muster -, die sie kommunizierbar machen, aber selbstverständlich zugleich auch prägen.2 Hayden Whites Tropenlehre gilt auch für die autobiografische Rede, und genau von diesem Punkt aus, von der Gattungstradition als dem "festeste[n] Moment autobiographischen Inszenierens" (S. 24), lässt sich die Brücke zu den Fallstudien schlagen, die in dem Band zusammengetragen sind. Ihre Lektüre bestätigt allerdings eine Annahme, die sich schon bei oberflächlicher Materialkenntnis aufdrängt, dass es nämlich "die" antike Autobiografie als von einer Gattungstradition halbwegs umrissene Form nicht gibt, anders als etwa das Epos, die Geschichtsschreibung oder sogar die Biografie.

In Auseinandersetzung mit dem Grundlagenwerk von Georg Misch 3 erörtert Wolfgang Rösler "Ansätze von Autobiographie in früher griechischer Dichtung" an den Erzählungen des Odysseus bei Homer sowie an Hesiod und Solon (S. 29-43); auf die sozialgeschichtlich sehr aufschlussreichen fiktiven Lebensgeschichten, die Odysseus als Kreter erzählt und die als Berichte über ein ganzes Leben ein wesentliches Kriterium für Autobiografie eher erfüllen als die angesprochenen Texte, geht der Autor leider nicht ein.4 - Der Herausgeber stellt Xenophons "Anabasis" als ein autobiografisches Werk vor, das in der vorliegenden Form entstand, weil dem Athener die in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v.Chr. bereits vorliegenden Formen der Selbstrechtfertigung, darunter die tatsächliche oder fiktive Rede, wie sie etwa Demosthenes' "Kranzrede", die "Antidosis" des Isokrates sowie natürlich die platonische "Apologie des Sokrates" repräsentieren, nicht zur Verfügung standen oder nicht ausreichend erschienen (S. 45-73). - Eine andere Form apologetischen Sprechens findet sich im berühmten 7. Brief des Corpus Platonicum, den Michael Erler behandelt (S. 75-92). Autobiografische Aussagen über Lebensweg und Lebensführung, philosophische Überzeugungen und politische Konzepte bilden Bestandteile einer besonderen philosophischen Lebensform, die Platon - Erler tritt für seine Autorschaft ein - in diesem Brief verteidigt; dabei sind die autobiografischen Mitteilungen, wie auch in anderen Texten dieser Zeit, dem apologetischen Zweck untergeordnet. In einigen Passagen des "Phaidon" schildert Sokrates hingegen seinen geistigen Werdegang keineswegs als Erfolgsstory; hier seien "Irrungen und Konversionen, Wankelmut und Wandel 'autobiographiefähig' gemacht" worden - lange vor den "Confessiones" des Augustin. - Dass in der hochelaborierten poetischen Kunstwelt der Lyrik eines Theokrit Ich-Aussagen nicht auf den Autor bezogen werden dürfen, überrascht nicht und wird von Bernd Effe am 7. Idyll vorgeführt (S. 93-107). Spannender wäre die Frage gewesen, wie viel sozialgeschichtlichen Quellenwert eine zunehmend text-autistische Philologie einem sehr viel stärker weltbezogenen Dichter wie Martial noch zuzubilligen bereit ist. - Außerordentlich wirklichkeitshaltig sind ohne Zweifel die aus Ägypten stammenden Ego-Dokumente auf Papyrus; mit deren Hilfe entfaltet Peter Kuhlmann ein kultur- und alltagsgeschichtliches Panorama (S. 109-121), bietet dabei freilich außer einigen eher oberflächlichen Parallelisierungen mit der Gegenwart wenig Neues.

Schriften römischer Politiker, die der Selbstrechtfertigung und -rühmung dienten, erörtert Thomas Baier am Beispiel von Cato, Cicero und Q. Lutatius Catulus (S. 123-142); die Feststellung, dass diese Texte ganz dezidiert nur die Schauseite in bisweilen geradezu enkomiastischer Manier zeigen, hätte durch eine stärker historisch ausgerichtete, den Kontext aristokratischer Politik und ihre Repräsenationsformen ausleuchtende Analyse vertieft werden können.5 - Dass die Autobiografien römischer Kaiser die republikanische Tradition fortführten, indem sie die Herkunft des Ego in ein besseres Licht zu rücken und seine Handlungen gegen Vorwürfe zu verteidigen suchten, zeigt Anthony R. Birley am Beispiel der Autobiografie "De vita sua" Hadrians (S. 223-235); hinter die voraussetzungsreiche Interpretation der einzelnen Zeugnisse treten die Hauptlinien leider etwas zurück.6 Aufschlussreicher wäre hier vielleicht ein Beitrag über die Selbstäußerungen des Augustus gewesen. - Eine interessante Überlieferungskonstellation stellt Martina Hirschberger in ihrem Beitrag über Iosephos Flavios vor (S. 143-183), hat doch dieser Quergänger zwischen Juden und Römern, jüdischer Geschichtstheologie und griechischer historiografischer Gattungstradition seine eigene Rolle während des Jüdischen Aufstandes in allen seinen Schriften aus verschiedenen Perspektiven geschildert und gerechtfertigt. Der Aufsatz konzentriert sich auf das "Bellum Iudaicum", während die "Autobiografie" nur kurz behandelt wird.

Claudia Klodt ("Ad uxorem in eigener Sache", S. 185-222) rückt das Abschlussstück der Exilgedichte Ovids (trist. 4,10), "die erste poetische Autobiographie der Literatur", das heißt eine Darstellung des ganzen Lebens bis zum antizipierten Tod "aus der retrospektiven Position eines Ich, das die Ereignisse in Hinblick auf ein persönliches Telos einordnet und wertet oder aber in das Zeitgeschehen eingliedert", neben den Brief des Dichters Statius an seine Frau (silv. 5,5). - Mit Grund gelten Augustinus' "Confessiones" als Meilenstein in der Entwicklung autobiografischen Schreibens, weil der Verfasser sich gegenüber seinem Gott nicht rechtfertigen kann und will, sondern rückhaltlose Offenheit und Selbsterforschung übt. Bernard Zimmermann arbeitet in seinem Beitrag (S. 237-249) demgegenüber die protreptische Funktion dieses Textes heraus: Augustinus ging es nicht darum, dem Allwissenden sein Leben zu entdecken, sondern in der Selbstanalyse, die auch die eigenen Mängel benennt, Gottes Größe zu begreifen und das ganze Streben auf ihn auszurichten. Endziel sowohl des autobiografischen wie des exegetischen Teils ist der Lobpreis Gottes. - Joachim Küppers schließlich untersucht "Autobiographisches in den Briefen des Apollinaris Sidonius" (S. 251-277) und will über "die autobiographische Konnotation jeglicher Art von Epistolographie" hinaus in der überlegten Vielfalt des 1. Buches der "Epistulae" das Produkt einer großen Passion sehen, die um die Brennpunkte Bildung und Rom kreist.

So anregend viele der Beiträge auch sind, der Band insgesamt muss leider als reine Buchbindersynthese gelten. Keine Einleitung entwickelt die diskussionswürdigen Probleme 7 und skizziert die Forschung seit Misch, keine Bilanz fasst die Erträge zusammen. Auch die nicht behandelten Werke, zu denen immerhin die wenigstens in einigen Konturen erkennbaren autobiografischen Schriften von Sulla und Augustus gehören, hätten hier erwähnt und zumindest bibliografisch erschlossen werden können; das gilt auch für die ebenfalls nicht gesondert thematisierten attischen Redner des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. Der Bezug der einleitenden, eher theoretischen Aufsätze zu den Fallstudien ist mehr als locker. Zum Eindruck der Lieblosigkeit passt das Fehlen eines Registers; auch über die Autoren der Beiträge erfährt der Leser nichts, und es hat offenbar nicht gestört, dass einige Beiträge am Ende Literaturverzeichnisse haben, andere die Dokumentation ausschließlich in den Anmerkungen bieten, und dass die Zitationsweise antiker Texte (Original, Übersetzung oder beides) uneinheitlich ist. Zeitdruck kann nicht der Grund gewesen sein, denn zwischen dem Symposion und der Publikation sind mehr als drei Jahre verstrichen. Insgesamt gesehen ist dies eine in Teilen interessante Tagungsdokumentation, aber kein Buch; damit leider eine vertane Chance.

Anmerkungen:
1 Fried, Johannes, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004; vgl. Depkat, Volker, H-Soz-u-Kult, 11.02.2005 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-113); Müllenburg, Marcel, H-Soz-u-Kult, 16.03.2005 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-194).
2 Treffend S. 23f.: "Aus der Feder dessen, der autobiographisch schreibt und erinnert, sprudelt kein Quell unmittelbarer Erfahrungen und Gefühle. Er bewegt sich in kollektiven Konstruktionen, in Traditionen [...] der Art zu schreiben und sich zu erinnern; diese geben vor, was dazu gehört und was auszuschließen ist. Autobiographien folgen kulturspezifischen, sich historisch ausbildenden und verändernden Gattungsschemata literarischer Kommunikation mit deren Wahrheitskonventionen [...]."
3 Misch, Georg, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1: Das Altertum, Frankfurt am Main 1949/50.
4 Hom. Od. 14,199-251. Ausführliche Interpretation in: Stahl, Michael, Gesellschaft und Staat bei den Griechen: Archaische Zeit, Paderborn 2003, S. 144ff.
5 In der Bibliografie fehlt Scholz, Peter, Sullas commentarii - eine literarische Rechtfertigung. Zu Wesen und Funktion der autobiographischen Schriften in der späten Römischen Republik, in: Eigler, Ulrich u.a. (Hgg.), Formen römischer Geschichtsschreibung, Darmstadt 2003, S. 172-195. Während Baier diesen Aufsatz kennen musste, ist Chassignet, Martine, La naissance de l'autobiographie à Rome, REL 81 (2003), S. 65-78 möglicherweise zu spät erschienen, um noch berücksichtigt zu werden. Für eine knappe Erstorientierung vgl. Walter, Uwe, "natam me consule Romam". Historisch-politische Autobiographien in republikanischer Zeit - ein Überblick, in: Der Altsprachliche Unterricht Latein Griechisch 46 (2003), Heft 2, S. 36-43; die einschlägigen Texte (ohne Cicero) sind jetzt neu ediert in: Chassignet, Martine (Hg.), L'annalistique romaine, Bd. 3: L'annalistique récente. L'autobiographie politique, Paris 2004, S. 160-184.
6 Vgl. jetzt auch Pausch, Dennis, Formen literarischer Selbstdarstellung in der Kaiserzeit. Die von römischen Herrschern verfaßten autobiographischen Schriften und ihr literarisches Umfeld, in: Rheinisches Museum für Philologie 147 (2004), S. 303-336.
7 Sie hätte auch die in den Beiträgen unterschiedlich definierten Begriffe aufzugreifen gehabt; vgl. S. 4 und 61 für "Memoiren".

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