C. Wick (Hg.): Lucanus, Bellum civile

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Titel
M. Annaeus Lucanus, Bellum civile, Liber IX. Bd. 1: Einleitung, Text und Übersetzung; Bd. 2: Kommentar


Autor(en)
Wick, Claudia
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 201-202
Erschienen
München 2004: K.G. Saur
Anzahl Seiten
Bd. 1: XV, 155 S.; Bd. 2: 448 S.
Preis
€ 82,00 u. 96,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Dante war sich seines Urteils sicher. Die Begeisterung spricht Bände, mit der er im achten Höllenkreis (Inferno 24,82ff.; 25,94ff.) an Lukans neuntes Buch anknüpft, an die berühmt-berüchtigte Schlangenepisode - um das große Vorbild sogleich zu übertrumpfen. Solche Wertschätzung war dem hispanischen Epiker freilich nicht zu allen Zeiten gewiss. Über die Jahrhunderte zeigten viele Stimmen sich hochgradig irritiert von dieser "abscheulichen Abschweifung" (P. Burman, 1740) - bis in unsere Tage, wo ein so hellhöriger Interpret wie F. Ahl die Passage zum "Fehlschlag" erklärt.

Inzwischen darf man getrost von einer Renaissance Lukans sprechen (genauer: der Lukanstudien), die mit einiger Verspätung auch den letzten Part seines Werkes erreicht hat. Ausgerechnet das lange vernachlässigte neunte Buch, das umfangreichste der Pharsalia, fesselte in den vergangenen Jahren in unseren Breiten die Energien dreier Kommentatoren: Christian Raschle traktierte die Schlangenepisode (9,587-949), Martin Seewald die erste Hälfte des Buchs bis zur Orakelszene.1 Claudia Wick schließlich hat in ihrer überarbeiteten Genfer Dissertation alle 1.108 Verse in Angriff genommen.

Um das Entscheidende gleich vorweg zu nehmen: die Aufgabe, in die fünf Jahre entsagungsvoller Arbeit geflossen sind, hat Wick mit Bravour gelöst. Entstanden ist ein überzeugendes Vademecum zum neunten Buch, das so gut wie keine Wünsche offen lässt und das in der Qualität des philologischen Handwerks (Wicks Zeit am Münchner Thesaurus hat sich bezahlt gemacht), der durchdachten Präsentation des Materials, aber auch in der Sicherheit des Urteils Maßstäbe setzt. Abgehandelt werden Lukans Lexikon, seine Grammatik, seine Sprache und sein Stil, die teilweise höchst disparaten Realien, das Repertoire der literarischen, besonders der epischen Technik (u.a. Leitmotive, rhetorische und deklamatorische Elemente), die historischen Quellen und - essentiell - die literarischen Vorbilder. Eine Erkenntnis, die sich in den Lukanstudien erst allmählich durchgesetzt hat, wurde von Wick konsequent zum Angelpunkt ihrer Arbeit erhoben: dass Lukan nicht als Historiker zu lesen ist, sondern als Poet. Der "Nahtstelle zwischen geschichtlicher Faktizität und dichterischer Fiktion" (Bd. 1, S. VI) gilt ihr besonderes Augenmerk.

Band 1 bietet neben der Einleitung, einer "Auswahlbibliographie" und stattlichen Registern einen aus den maßgeblichen Ausgaben (vor allem Housman und Shackleton Bailey) kompilierten Lesetext samt einer nüchternen Prosaübersetzung, die sich unerwartet angenehm liest und den Vergleich mit Ehlers oder Ebener nicht zu scheuen braucht; als Segen erweist sich dabei die Aufteilung des Werks in zwei Bände, die es erlaubt, Text/Übersetzung und Kommentar bequem nebeneinander zulegen. Die Einleitung widmet sich vor allem der bereits oben erwähnten Frage nach historischen Quellen und literarischen Vorbildern (unter denen Apollonios von Rhodos einen Ehrenplatz einnimmt), aber auch dem heiß umstrittenen Problem der Porträtkunst Lukans. Mit Vergnügen liest man die mit spannenden Seitenblicken auf Prudentius' Peristephanon gewürzte Absage an neue angelsächsische Exegesen, die einen schizophrenen Widerspruch zwischen Wort und Tat im Porträt Catos konstruieren und damit Lukan doch arg gegen den Strich bürsten (Bd. 1, S. 32).

Das Ganze ist flüssig geschrieben und glänzt mit manch glücklicher Formulierung. So spricht Wick bei der Beschreibung von Lukans intertextueller Technik einmal treffend von "Rückkopplungseffekten" (Bd. 1, S. 10). Bei der Erörterung der Sturmepisode heißt es "diese poetica tempestas ist sehr wahrscheinlich ein Ausläufer des libyschen Sturmtiefs 'Cornelia'" (Bd. 1, S. 8) - eine im Kontext erheiternd einleuchtende meteorologische Metapher. Nur eines vermisst man schmerzlich: eine Diskussion des ersten Rezeptionszeugnisses, das wir zu den Pharsalia besitzen, Petrons Satyrica, Kap. 118. In diesem aufregenden Monolog über die Kunst, ein modernes historisches Epos zu schreiben, hätte Wick reichlich Material für ihre Positionen gefunden.

Den eigentlichen Reichtum des Werkes macht aber Band 2 aus, der erschöpfende Zeilenkommentar, mit substantiellen Einleitungen zu den einzelnen Sinnabschnitten. Mit Bienenfleiß und wachem Blick hat Wick hier quasi alles zusammengetragen, was der Leser zum Verständnis dieser Verse benötigt. Drei Beispiele mögen stellvertretend dieses Urteil begründen: (1) Zu den Syrten, den gefürchteten Untiefen vor den Küsten Libyens und Tunesiens, bietet Wick einen auf die essentiellen maritimen Daten konzentrierten Abriss, der weit hinter sich lässt, was man zu diesem Thema in Kommentaren oder Handbüchern für gewöhnlich zu lesen bekommt. Ausblicke auf die poetische Nutzwendung der Syrten bei anderen Autoren und auf Lukans metaphorischen Einsatz der Naturgewalten runden das Bild ab (Bd. 2, S. 111ff.).

(2) Caesars Ausflug zu den Ruinen Trojas leitet ein reicher Exkurs zum antiken Troja-Tourismus ein, zum Topos historischer Ruinen in der antiken Literatur, zum vergilischen Vorbild dieser Szene (Aeneas' Rundgang durch das künftige Rom, Aen. 8,306-361), sogar zur Rezeption der Lukan-Passage in Coripps Iohannis (Bd. 2, S. 401ff.); ein Füllhorn willkommener Informationen. Nur der Kontrast zwischen Vergil und Lukan hätte sich eine Idee schärfer herausarbeiten lassen: Aeneas' Ausflug in eine Landschaft, in die Roms Zukunft eingeschrieben ist, und Caesars Tour durch Troja als palimpsesthafte Vergangenheit.

(3) Schlagend ist Wicks Auslegung einer lange umstrittenen Stelle, 9,729f. ducitis altum | aëra cum pinnis ("tief saugt ihr die Luft samt den Gefiederten ein"). Mit überzeugenden Parallelen aus Literatur und bildender Kunst kann sie die kuriose Vorstellung der Alten belegen, gerade Riesenschlangen hätten sich gerne ein gefiedertes Zubrot aus dem Luftraum geangelt (Bd. 2, S. 308f.).

Wo einem so viel Gutes widerfährt, ist man unweigerlich gespannt auf Wicks Umgang mit dem Filetstück des neunten Buchs, der Schlangenepisode. Bei der Lektüre von Catos Marsch durch die libysche Schlangenhölle dürfte sich schon manch naturbegeisterter Leser schaudernd gefragt haben, wieviel herpetologische Wahrheit in Lukans geringelte Monster geflossen ist. Gerade in diesem Punkt lässt die (oben zitierte) Arbeit von Raschle zu viele Wünsche offen. Wicks umsichtige Erörterungen bedeuten hier einen spürbaren Fortschritt - der um so mehr Anerkennung verdient, als auch Wick sich für die Bestimmung der einzelnen Tiere wie Raschle auf die Studie von Christian Leitz beruft 2 und ansonsten für die herpetologischen Daten Grzimeks Tierleben zu Rate zieht, ein Werk, das bei allen Verdiensten doch merklich in die Jahre gekommen ist (gerade bei den Reptilien repräsentiert es wissenschaftlich den Stand der 1950er-Jahre). Exempli gratia ein paar harmlose Schnitzer auf diesen Seiten: die Uräusschlange heißt Naja haje, nicht N. haie (so Bd. 2, S. 285). Für den 'Schild' der Kobras hat sich inzwischen der Terminus technicus 'Haube' durchgesetzt. Die "auch heute noch angewendete" Methode, die Wunde eines Schlangenbisses auszusagen, sollte Wick weniger positivistisch referieren (Bd. 2, S. 393); ihr medizinischer Nutzwert ist in höchstem Maße umstritten.

Es wäre schön gewesen, hätte Wick hier das wunderbare Buch von Harry W. Greene in Händen gehabt, Herpetologe an der University of California in Berkeley.3 Es gibt derzeit kein Buch zu dem Thema, das die aktuellen Erkenntnisse zu dieser fesselnden Fauna besser und vor allem plastischer zu vermitteln wüsste. Die substantiellen Fortschritte in Systematik, Ökologie und Verhalten der Schlangen, die Greene beschreibt, hätten Wicks Porträts der von Lukan heraufbeschworenen Arten den Odem eingehaucht, der sie lebendig hätte werden lassen - frei nach Ovid: veros dracones putares.

Doch genug der Abschweifung. Wicks rundum gelungene Arbeit (schon der Satzspiegel der Übersetzung ist ein typografischer Genuss) verdient allerhöchstes Lob. Ihre beiden Bände haben das Zeug zum Klassiker.

Anmerkungen:
1 Raschle, Christian R., Pestes harenae. Die Schlangenepisode in Lucans Pharsalia (IX 587-949). Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, Frankfurt a.M. u.a. 2001; Seewald, Martin, Lucan. 9,1-604. Ein Kommentar, Göttingen 2002 (Online-Publiktion: http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2002/seewald/seewald.pdf).
2 Leitz, Christian, Die Schlangennamen in den ägyptischen und griechischen Giftbüchern, Stuttgart 1997.
3 In deutscher Fassung: Greene, Harry W., Schlangen. Faszination einer unbekannten Welt, Basel 1999.

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