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Titel
Die Xingu-Expedition (1898-1900). Ein Forschungstagebuch


Autor(en)
Koch-Grünberg, Theodor
Herausgeber
Kraus, Michael
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
507 S., 34 Abb., 68 Fotos
Preis
€ 79,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Ulrike Prinz, München

Theodor Koch-Grünberg ist einer der großen Pioniere der deutschen ethnologischen Amazonasforschung. Er hinterlässt ein beeindruckendes Werk, obwohl er bereits mit 54 Jahren an den Folgen einer Malariaerkrankung starb, die er sich 1924 auf seiner letzten Expedition ins Orinoko-Quellgebiet zugezogen hatte. Die Expedition, die unter der Leitung von Hermann Meyer 1898-1900 ins Xingu-Gebiet unternommen wurde und deren Forschungstagebuch nun ediert vorliegt, begleitete Koch-Grünberg in untergeordneter Stellung als Fotograf. Die Tagebuchaufzeichnungen dieser Reise, die meist als "zweite Schingu Expedition Herrmann Meyers" bezeichnet wird, wobei es sich genaugenommen um die vierte deutsche Forschungsreise in dieses Gebiet Zentralbrasiliens handelt 1, lesen sich in erster Linie als ein Dokument des Scheiterns. Gerade im Kontext seiner eigenen noch folgenden Forschungen im amazonischen Tiefland wirkt dieses Tagebuch wie das Berichtsheft von einer Lehrzeit und die ausgestandenen Qualen erscheinen als Initiationsritus. Koch-Grünberg lernt aus diesen Erfahrungen: Er wird künftig mit leichterem Gepäck und wenigen, aber ortskundigen - vornehmlich indianischen - Begleitern reisen. Und er wird schließlich der Ethnologe im Deutschen Kaiserreich sein, der am intensivsten Feldforschung betrieben hat und zwar sowohl in Hinblick auf die Dauer seiner Aufenthalte als auf die Vielzahl der besuchten Ethnien.2

Spätestens seit der Diskussion um die Tagebücher Bronislaw Malinowskis 3 wissen wir, dass der ethnologische Alltag, die so genannte "Felderfahrung" mit all ihren physischen und psychischen Belastungen das Bild des objektiven und über alle Niederungen der Menschheit erhabenen Forschers und seiner Theorien in einem anderen Licht erscheinen lässt. Die fünf Tagebücher Koch-Grünbergs sind Ereignisbericht, persönliche Reflexion und Ventil für Ärger und Enttäuschung. Neben Landschafts- und Routenbeschreibungen erfährt man viel über Dissonanzen unter den Expeditionsmitgliedern; die Lebensbedingungen der brasilianischen Siedler werden ebenso geschildert wie Tagesereignisse, Abenteuer mit Klapperschlangen, Malariadelirien, Heimweh, Streit, Verdächtigungen und Futterneid - eben all das, was Claude Lévi Strauss zu Beginn der "Traurigen Tropen" als "Schlacke" der Realität der Feldforschung bezeichnet.4 Diese oft bitteren Ereignisse werden von Koch-Grünberg akribisch aufgezeichnet und nicht von der Datengewinnung abgespalten.

Koch-Grünberg zeigt sich als besonnener und redlicher Schreiber, der die Probleme und den Streit der Expeditionsteilnehmer untereinander meist vorsichtig auswertet und der auch bereit ist, vorschnelle Urteile zu revidieren. Manchmal klingt aus seinen Aufzeichnungen eine leise Selbstironie, wenn er "verheißungsvoll" mit seinen Perlen "rasselt", um einer Indianerin ihre Bohnen-Halskette abzuhandeln (S. 320). Insgesamt spricht aus Koch-Grünbergs Tagebuch die für ihn so typische Wissbegierde und Aufgeschlossenheit gegenüber allem Neuen; es zeigt seine Sensibilität, Empathie und Nachdenklichkeit, zuweilen auch seine ironische Distanz und veranschaulicht den beständigen Kampf gegen Ungeziefer, Krankheit, Erschöpfung und Verzweiflung während der Reise. Zwar ist der Bericht - vor allem wenn es um Schwarze geht - von zeittypisch rassistischen Untertönen keineswegs frei. Dennoch unterscheidet sein wissenschaftlicher, hermeneutischer Ansatz die Beschreibung von manch anderem Reisebericht, etwa auch von dem des "Entdeckers" und "Eroberers", der Meyer sein wollte.5 Gerade durch dessen autoritäres und konkurrentes Verhalten wird Koch-Grünbergs Wissens- und Forscherdrang während dieser unglücklich verlaufenden Expedition ständig enttäuscht. So nimmt ihn etwa Meyer unter verschiedenen Vorwänden nicht mit auf eine Erkundungsexkursion zu den Cajabi. Bitter vermerkt Koch-Grünberg deshalb unter dem Datum vom 18. April 1899: "Und ich hatte mich so darauf gefreut, die Bekanntschaft dieses neuen und interessanten Stammes zu machen! - Manchmal will man auch an einer neuen Entdeckung einen Anderen nicht teilnehmen lassen! Na, Schwamm drüber!" (S. 136)

Die Erstausgabe der Tagebücher Theodor Koch-Grünbergs schließt eine Lücke in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Forschungsgeschichte des Oberen Xingu. Auch wenn die Ausbeute ethnologischer "Fakten" im Vergleich zu den späteren Werken Koch-Grünbergs eher gering ist, so ist das von Michael Kraus herausgegebene Tagebuch in mehrerlei Hinsicht ein wichtiges Dokument. Es zeigt die ersten Schritte im Umgang und im Austausch von Indianern und "caraibas" (Weißen) und präsentiert, zusammen mit den Veröffentlichungen Karl von den Steinens 6, eine wichtige Momentaufnahme der Siedlungsverhältnisse am Oberen Xingu. Vor allem aber eröffnet es, wie Kraus anmerkt, tiefe Einblicke in die "Sozialgeschichte des Expeditionswesens" und in die damaligen Forschungsmethoden.

Die puristische Haltung des Editors lässt die vertrauten Handreichungen und Erklärungen in Form von Fußnoten zunächst vermissen, belohnt jedoch mit einer gut durchdachten Auswahl an Texten im Anhang. Auf diese Weise sorgt Kraus für eine sorgfältige Einbettung des Originaltexts.

Anita Hermannstädter beschreibt die näheren Umstände der privat finanzierten Expedition, analysiert die Ambitionen des Expeditionsleiters Herrmann Meyer und sucht nach den Gründen für seine Erfolglosigkeit. Ihr zufolge strebte Meyer eher nach gesellschaftlicher Anerkennung und ökonomischen Erfolgen als nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Neben den ungünstigen äußeren Umständen scheiterte er auch aus mangelnder Liebe zum eigentlichen Untersuchungsobjekt (S. 429).

Mark Münzel, der den Oberen Xingu aus eigener Felderfahrung kennt, gibt einen Überblick über die Forschungsgeschichte in dieser Region und weist auf die archäologischen Forschungen Pierre Bequelins hin, der annimmt, dass die Blütezeit des Oberen Xingu zum Zeitpunkt des Eindringens der Europäer bereits vorüber war. Dem hinzuzufügen sind die Ergebnisse der neuesten Ausgrabungen Michael Heckenbergers, die im amerikanischen Diskurs als Entdeckung der "lost cities of the Amazon" kolportiert werden.7 Tatsächlich weisen sie auf eine stadtartige Besiedelung dieser Region in der Zeit von 1400-1600 hin, zumindest jedoch auf Siedlungen, die zehnmal so groß waren wie die heutigen.8 Ihre Konstrukteure waren vermutlich die Vorfahren der heutigen arawak-sprachigen Xiguanos. Beendet wurde diese Periode durch das Eindringen neuer Ethnien, Vorfahren der heutigen karib- und tupi-sprachigen Gruppen. Lange vor den Reisen der ersten Europäer in dieses Gebiet entstand das heute bekannte multiethnische System am Oberen-Xingu. Erst für die Zeit zwischen 1600 und 1750 lässt sich der indirekte Einfluss europäischer Expansion auf die BewohnerInnen des Alto Xingu feststellen. Das Wüten der "bandeirantes" endet 1884 mit dem ersten Besuch Karl von den Steinens. In dieser Periode integrieren sich die im Tagebuch öfters erwähnten Trumai und Bacairi. Wieder andere Gruppen halten sich abseits dieses Systems, wie etwa die Suyá oder die Ikpeng (txicãos).

Mit Sinn fürs Skurrile erwähnt Münzel das Schicksal des Colonel Fawcett, der sich 1926 auf der Suche nach der geheimnisvollen Dschungelstadt bei den Xinguanos niederließ, heiratete und schließlich von ihnen erschossen wurde "wegen seines Beharrens auf sinnlosem Herumlaufen im Wald".9 Glücklicherweise wurde nicht allen Erforschern des Oberen Xingu ein solches Schicksal zuteil. Doch macht Münzel auf die Inszenierungspraxis der Indianer im Verkehr mit den Weißen aufmerksam, den der Xingu-Kundige in den Beschreibungen Koch-Grünbergs wiedererkennt: Die Weißen, die sich ihrerseits als die Herren der Situation verstehen, bemerken nicht, wie die Indianer mit ihnen spielen. Als Wechselspiel von Krieg und Frieden kennzeichnet Münzel diese ersten Beziehungen, an deren impliziten Regeln sich in der Tat bis heute nicht viel geändert hat.

Seinen eigenen Ausführungen zufolge stellt der Herausgeber selbst "Daten zum persönlichen wie forschungsgeschichtlichen Kontext zur Verfügung […], die die Auseinandersetzung mit den hier vorgelegten Dokumenten vertiefen und eine Betrachtung erleichtern, bei der der Leser zwischen allgemeinen Phänomenen von Forschungsreisen und Spezifika der hier vorgelegten Expedition zu differenzieren vermag" (S. 454). Viel mehr als dies ist ihm gelungen. Denn Kraus ist nicht nur Kenner dieser missglückten "zweiten Meyer'schen Schingu-Expedition" und ihrer Vorläufer, sondern ein Spezialist für die Ethnologie in der Zeit des deutschen Kaiserreichs.10 Vor dem Hintergrund des aktuellen Wissens- und Forschungsstands urteilt er vorsichtig und vermeidet den dekonstruktivistischen Diskurs der 1980er-Jahre, der die Forscher jener Zeit gerne als Selbstdarsteller und ihre "Forschungsobjekte" als deren Erfindungen kennzeichnet. Immer im Bewusstsein, dass die Tropen zu durchreisen etwas anderes war "als über das Problem der Tropenreise in einem Buch nachzudenken" (S. 456), geht Kraus nicht nur sehr behutsam mit den Texten um, sondern reflektiert genau das wechselseitige Verhältnis von Forschenden und Beforschten. Ihre Begegnungen versteht er - ohne dabei bestehende Machverhältnisse auszublenden - als Teil der Geschichte interkultureller Beziehungen, die sich gelegentlich für beide als wenig schmeichelhaft herausstellen: Die Gier der Forscher nach Ethnographica wird ebenso wenig vertuscht wie das fröhliche Gejohle der Indianer, als die Weißen den Frauen die Schamgürtel vom Leibe weghandeln (S. 464).

Anstelle der gewohnten binären Codierung in Opfer und Täter bevorzugt Kraus also eine vielschichtige Sichtweise, die variierende Interaktionsformen aufzeigt und die Indianer nicht zu handlungsunfähigen Opfern herabwürdigt. Dies wäre in diesem Fall auch wenig angebracht - man denke nur an den armen Fawcett und an das Schicksal der amerikanischen Expedition, welche das Tagebuch zutage fördert: Die acht Männer gerieten in eine Falle der Kamayurá und Suyá und wurden in einer Gemeinschaftsaktion ermordet (S. 265).

Die Ausgabe der Tagebücher Koch-Grünbergs füllt nicht nur für Historiker und Ethnologen eine Lücke, sondern ist auch für den interessierten Laien zu empfehlen. Denn sie gestattet interessante Einblicke in die durch Freud und Leid geprägte Situation von Expeditionsteilnehmern am Ende des 19. Jahrhunderts. Auch wenn eine Reise sich heute weniger lebensgefährlich gestaltet, so sind Krankheit, extreme körperliche und psychische Anstrengungen und die von Münzel angesprochene spezielle indianische Fähigkeit, Geister, aber auch Forscher dazu zu bringen, sich in deren Sinn angemessen zu verhalten, auch heute noch spürbar im Alto Xingu.

Anmerkungen:
1 Den Meyerschen Unternehmungen waren zwei bekanntere und sehr erfolgreiche Expeditionen Karl von den Steinens (1884 und 1887/88) vorausgegangen.
2 Kraus, Michael, Bildungsbürger im Urwald. Die deutsche ethnologische Amazonienforschung (1884-1929), Marburg 2004, S. 279.
3 Malinowski, Bronislaw, Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes. Neuguinea 1914-1918, Eschborn 1999.
4 Kraus wie Anm. 2, S. 213.
5 Vgl. Hermanstätter S. 413-433 im vorliegenden Band.
6 Steinen, Karl von den, Unter den Naturvölkern Zentral Brasilien. Reiseschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 1887-1888, Berlin 1894.
7http://msnbc.msn.com/id/3077413/ (eingesehen am 21.03.2005).
8 Heckenberger, Michael, in: Franchetto, Bruna; Michael Heckenberger (org.), Os povos do Alto-Xingu-história e cultura, Rio de Janeiro 2001, S. 22.
9 Münzel im besprochenen Band, S. 445, nach: Oberg, Kalervo, Indian Tribes or Northern Mato Grosso, Brazil, in: Steward, J. H. (Hg.), HSAI, Washington 1953, S. 1-144.
10 Vgl. Kraus, Michael, Bildungsbürger im Urwald. Die deutsche ethnologische Amazonienforschung (1884-1929), Marburg 2004.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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