P. Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen

Cover
Titel
Gedächtnis, Geschichte, Vergessen.


Autor(en)
Ricoeur, Paul
Reihe
Übergänge 50
Erschienen
Paderborn 2004: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
783 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Günther, SFB 644 “Transformationen der Antike”, Berlin

Paul Ricoeurs jüngstes Buch schließt an Fragestellungen an, die der Autor in seinem letzten größeren Werk “Zeit und Erzählung” ausgespart hatte. Ging es dort darum, ausgehend von Augustinus‘ Reflexionen über das Wesen der Zeit eine Theorie der Erzählung zu entwerfen, so handelt das neue Buch von einer Epistemologie der Geschichtswissenschaften. Den beiden zwischen den Polen “Zeit” und “Erzählung” liegenden mittleren Ebenen, nämlich dem Gedächtnis und dem Vergessen, gilt nun die Aufmerksamkeit. Als Vorarbeit zu dem neuen Buch kann das 1998 erschienene “Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen” gelten. Ein Vortrag, der im Jahr 2002 unter dem Titel “Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit” erstmals auf deutsch publiziert wurde, fasst zentrale Thesen des hier besprochenen Titels zusammen.

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile, die in jeweils drei Unterabschnitte zerfallen. Der erste handelt “Über Gedächtnis und Erinnerung” und diskutiert das Thema am Leitfaden der Phänomenologie Edmund Husserls (1. “Gedächtnis und Einbildungskraft”, 2. “Das Gedächtnis und seine Praxis: Gebrauch und Mißbrauch”, 3. “Individuelles Gedächtnis, kollektives Gedächtnis”). Der zweite erläutert das Verhältnis von “Geschichte und Epistemologie” und bildet den näheren Theoriekern historiografischer Praxis (1. “Dokumentarische Phase: Das archivierte Gedächtnis”, 2. “Erklären und Verstehen”, 3. “Die Repräsentation durch die Geschichte”). Der dritte Teil gilt einer Hermeneutik der “conditio historica” (1. “Die kritische Philosophie der Geschichte”, 2. “Geschichte und Zeit”, 3. “Das Vergessen”) und führt auf weiten Strecken eine Auseinandersetzung mit Heideggers “Sein und Zeit” durch. Der abschließende, als Epilog konzipierte vierte Teil spricht schließlich von “Schwieriger Vergebung”.

Ricoeur kämpft vornehmlich an zwei Fronten: Einerseits ficht er gegen postmoderne Theorien, die Geschichte und Gedächtnis ganz dem Bereich der Einbildungskraft zuschlagen wollen und dazu neigen, geschichtliche Tatsachen überhaupt zu leugnen; andererseits versucht er, moderierend auf solche Positionen einzuwirken, die über dem Gedächtnis und Gedenken das Vergessen und Vergeben außer acht lassen: “Denn meine Arbeit will durchaus nicht zur ‚Tyrannei des Gedächtnisses‘ beitragen. Dieser Mißbrauch aller Mißbräuche wird von ihr mit derselben Strenge verurteilt, mit der sie der Ersetzung der Trauer- und der Erinnerungsarbeit durch die Pflicht zur Erinnerung widersteht und sich darauf beschränkt, diese beiden Bemühungen unter das Zeichen der Idee der Gerechtigkeit zu stellen.” (S. 146)

Dieser Betonung der “Idee der Gerechtigkeit” bedeutet nicht, dass Ricoeur praktische Philosophie betreiben will. Am Beginn und am Ende des Buchs steht als Problem einer Epistemologie der Geschichtswissenschaften eine Aporie, die in verschiedenen Abwandlungen im Lauf der Untersuchung immer wieder aufgegriffen und als zentral für das gesamte Unternehmen herausgestellt wird. In der philosophischen Tradition seit Plato werden Theorien des Gedächtnisses im Allgemeinen von der Annahme geleitet, dass “die Repräsentation des Vergangenen [...] die eines Bildes” ist (S. 23). Die Alltagserfahrung scheint dies zu bestätigen: Wer sich erinnert, dem wird die Erinnerung gewöhnlich in Form eines Bilds gegenwärtig. Ricoeurs erklärte Absicht lautet nun, die paradoxe Struktur des Vorgangs näher zu bestimmen, die in der Anwesenheit (nämlich des Bilds) einer abwesenden Sache (nämlich des vergangenen Ereignisses im Gedächtnis) liegt, um die permanent drohende Verwechslung von Erinnern und Imaginieren, von res factae und res fictae zu unterbinden. Dem Gedächtnis soll die ihm “vorhergehende Realität” (S. 24) gesichert werden. Als Ausgangspunkt für seine Auffassung dient Ricoeur eine Bemerkung aus Aristoteles, derzufolge das Gedächtnis “mit Vergangenem verbunden” sei (S. 24). Wiederholt kommt Ricoeur im Laufe seiner Untersuchung auf diesen Satz zurück, um die grundsätzliche Trennung der Sphären von Fiktionalität und Realität zu unterstreichen und zu begründen. Er will zeigen, dass das primäre Charakteristikum des Gedächtnisses in seiner Beziehung zur “Zeit” und nicht zum “Bild” (wie bei der Phantasie) zu suchen ist.

Vom individuellen Gedächtnis im ersten kommt Ricoeur schließlich im zweiten Teil auf die Funktionen des Gedächtnisses in der Historiografie zu sprechen. Als Nagelprobe einer erfolgreichen Abgrenzung von Wirklichkeit und Imagination gilt die Auschwitz-Frage und letztlich die nach revisionistischen Strömungen in Gesellschaft und Geschichtswissenschaft: “Welche Antwort könnte die so genannte Postmoderne auf die Anklage vorbringen, das Denken gegen die Verführungen des Negationismus wehrlos zu machen?” (S. 393) Theoretiker wie etwa Hayden White vermögen es nicht, durch ein diskursimmanentes Kriterium Fiktion und Wirklichkeit voneinander zu scheiden. Nolens volens arbeiten sie damit Holocaustleugnern in die Hände. Whites tropologische Rhetorik der Geschichte setzt sich der Gefahr aus, die narrative Kohärenz eines beschriebenen Geschehens mit seinem Erklärungszusammenhang zu verwechseln (lit S. 4, 36), eine Gefahr, der Ricoeur in “Zeit und Erzählung” selbst nicht gänzlich entkommen konnte. Das neue Buch gilt daher der Behandlung dieses Problems, das vor allem im epistemologischen zweiten Teil untersucht wird. Die anfängliche Aporie der Repräsentation, die Anwesenheit eines Abwesenden im Gedächtnis, taucht jedoch auf anderer Ebene erneut in den drei von Ricoeur unterschiedenen Stadien der historiografischen Arbeit auf: der dokumentarischen Phase, der Phase des Erklärens und Verstehens und schließlich der schriftstellerischen bzw. der Phase der Repräsentation. Die ganze Komplexität aufzuzeigen, die für Ricoeurs Argumentation über die gesamten rund achthundert Seiten seines Buchs kennzeichnend ist, ist freilich hier nicht der Platz. Die Aporie besteht, verkürzt gesagt, auf historiografischer Ebene darin, dass die Geschichtswissenschaften durch die genannten drei Stadien hindurch ihren Gegenstand erst konstruieren müssen und sich nicht auf “das kleine Glück des Wiederkennens” berufen können, das dem Zeugen eines Geschehens dessen Faktizität verbürgt; die Geschichtswissenschaften zeichnen sich durch eine “spezifische Problematik der Repräsentation” 1 aus, weil die Aporie der Anwesenheit eines Abwesenden, die zunächst im individuellen Gedächtnis hervorschien, auf der Ebene der historiografischen Operationen erneut auftritt: die Abwesenheit unmittelbarer Zeugenschaft wird in die Anwesenheit der Schrift verwandelt – ein Problem, das Ricoeur abermals und wiederholt mit Rekurs auf Platon, diesmal dessen Schriftkritik behandelt. Der Forscher hat es in der Regel nicht mit Zeugen eines Ereignisses zu tun, sondern mit Archiven, die Dokumente von Zeugen aufbewahren, die diese zuvor schriftlich niederlegten.

Trotz seines Umfangs eignet dem Buch etwas Essayhaftes. Das wird vor allem dann deutlich, wenn Ricoeur gegen die von ihm beschriebenen Aporien der Repräsentation immer wieder anführt, dass “wir nichts Besseres als das Gedächtnis” (S. 25; vgl. z.B. S. 48, 224, 431) haben und damit trotz seiner minutiösen Argumentation das Vertrauen des Lesers in ihre Tragweite auf die Probe stellt. Die letzten Seiten des Buchs eröffnen das Problem, das die vorigen nahezu erschöpfend darstellten, geradezu von neuem, wenn Ricoeur schreibt, dass der “Wettstreit zwischen dem Gedächtnis und der Geschichte, zwischen der Treue des einen und der Wahrheit der anderen [...]) auf epistemologischer Seite nicht zu entscheiden” ist (S. 766). Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die grundlegende und strenge Scheidung zwischen Erinnern und Imaginieren, die Ricoeur anstrebt, sich möglicherweise nicht durchführen lässt und auch die Phantasietätigkeit an vorgängige Erinnerungen, an Gedächtnis gebunden bleibt.

Doch wie soll man mit dieser letzten Aporie umgehen? Die Frage drängt sich auf, ob nicht am Ende von Ricoeurs Untersuchung das Video-Protokoll als die einzig authentische Form einer Repräsentation der Vergangenheit gelten muss.

Das Sachregister der französischen Ausgabe wurde in der deutschen vollständig gestrichen, das integrierte Namen- und Titelregister ärgerlicherweise zu einem reinen Personenregister gekürzt. Wenn in den Fußnoten auf bereits genannte Titel lediglich mit “a.a.O” verwiesen wird, so ist bei einem Buch von nahezu achthundert Seiten dem Leser nur zu wünschen, dass er über ein gutes Gedächtnis verfügt: Nennungen in Anmerkungen verzeichnet der Index nicht.

Anmerkung:
1 Ricoeur, Paul, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit. Konferenzen des Centre Marc Bloch (Berlin), hrsg. von Catherine Colliot-Thélène, Band 1, Münster 2002, S. 20.

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