Cover
Titel
Herbert Wehner. Moskau 1937


Autor(en)
Müller, Reinhard
Erschienen
Anzahl Seiten
570 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Rohrwasser, Berlin

„Diffamierende Kampagnen“ habe Herbert Wehner genug erlebt, schreibt Reinhard Müller, seit 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Hamburger Institut für Sozialforschung“, in seinem ersten Wehner-Buch (Rowohlt Berlin 1993), und diesen Kampagnen habe ein kompliziertes System kommunizierender Röhren zugrunde gelegen, das besonders in Zeiten von Wahlkämpfen aktiviert worden sei. Nach Müllers Ende 2004 erschienenem zweiten Wehner-Buch hat es nicht an Stimmen gefehlt, die den Autor nun selbst in dieses System der kommunizierenden Röhren einzuordnen versuchen. Zweierlei lässt sich vorausschicken: Wer über Herbert Wehner schreibt, begibt sich immer noch hinein in die weniger übersichtliche Bereiche der politischen Geschichte der Bundesrepublik, in denen Verdächtigungen, Diffamierungen und rigide Rechtfertigungen zum Repertoire gehören; zweitens: Genauigkeit und Stimmigkeit eines Porträts von Wehner in Moskau hängen ab von dem Maß, in dem das Spezifische des stalinistischen Terrors um 1937 erfasst ist, und von der Fähigkeit, die paranoische Rhetorik des NKWD zu übersetzen.

Das Bild Wehners hat sich seit der teilweisen und zeitweiligen Öffnung der Moskauer und ostdeutschen Archive schrittweise verändert. Mit den ersten dokumentierten Hinweisen auf Wehners Verstrickung in den Stalinschen Terror und den immer nachdrücklicheren Fragezeichen hinter Wehners eigener Darstellung wurde eine Reihe von Korrekturen vorgenommen. Wehners Selbstporträt, verfasst 1946, publiziert als „Apo-Raubdruck“ (in Wirklichkeit 1969, vor dem Bundestagswahlkampf, verbreitet vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR), von Wehner schließlich 1982 veröffentlicht unter dem Titel „Notizen“, hatte zwar andere Mitstreiter als Verteidiger der Moskauer Prozesse porträtiert (beispielsweise Manès Sperber), bei der eigenen Person aber die „innere Distanz“ betont.

Die Tatsache, dass Wehner Mitgenossen belastete, wurde als listige Strategie interpretiert, mit deren Hilfe er seine stalinistischen Gegner ausgeschaltet hatte; Wehner wurde als Überlebenskünstler gefeiert, der „den Terror gegen die Terroristen“ gewendet habe (so beispielsweise der Tenor eines „Spiegel“-Artikels, Heft 12/1993: „List der Gerechtigkeit“). Außerdem wurde betont, dass diese „Denunziationen“ kaum Wirkung gehabt hatten, da es die sowjetischen Stellen gewesen seien, die über Verhaftung und Verfolgung entschieden hätten. Hartmut Soell, Autor der 1991 erschienenen Biografie des „jungen Wehner“, warnte beispielsweise davor, von Einflussmöglichkeiten der deutschen Kommunisten in Moskau auszugehen. Verhaftungen, Prozesse, Hinrichtungen seien doch ausschließlich Sache der sowjetischen Organe gewesen.

Diesen und ähnlichen Exkulpationen entzieht Müller weitgehend den Interpretationsspielraum. Im Gegensatz zu seinem ersten Wehner-Buch mit dem Untertitel „Moskau 1937-1941“ heißt das jetzige, wesentlich umfangreichere: „Herbert Wehner. Moskau 1937“ – die Argumentation ist engmaschiger geworden und die Dokumente umfassender und aussagekräftiger. Der Verdacht, der im ersten Buch benannt wurde, dass Wehner die stalinistische Maschinerie nicht erduldet, sondern bedient habe, wird bekräftigt und untermauert. Müller analysiert nicht nur kritisch Wehners Selbstdarstellung, sondern geht auch ausführlicher mit der früheren Wehner-Literatur ins Gericht – nicht immer ganz gerecht, denn „Schutzbehauptungen“, wie er sie beispielsweise Soell vorwirft (S. 245f.), setzen doch voraus, dass der Autor von Fakten und Zusammenhängen Kenntnis haben sollte, die erst später in diesem Umfang offen lagen.

Müllers Wehner-Bild ist das eines aufstiegs- und machtorientierten Kommunisten, der in Moskau nicht potentielles Opfer ist, sondern Inquisitor wird, ein Fachmann des NKWD für Fragen des „Trotzkismus“, der sich durch ausgeprägten „denunziatorischen Eifer“ (S. 11) auszeichnet und sich in einer privilegierten, exemten Position befindet. Auch gegen Wehner lief eine Untersuchung der Kontrollkommission, weil er von Mitgenossen (Erich Birkenhauer u.a.) als Gestapospitzel denunziert worden war; aber für Müller sind Wehners Berichte nicht länger Akte der Selbstverteidigung, sondern Wehner ist „geheimer Mitarbeiter“, der Berichte und Memoranden lieferte, er ist ein „kenntnisreicher Trotzkistenjäger“ (S. 245), der den NKWD-Offizieren das notwendige Detailwissen liefert, über das sie nicht verfügen und das sie benötigen, da die Anklagekonstrukte fast ausschließlich auf den Geständnissen gefolterter Häftlinge fußten. Wehners Berichte heißen nicht mehr länger „Aussagen“ sondern „Expertisen“, und seine Aufenthalte in der Lubjanka werden zu „Besuchen“. So entsteht eine neue Erzählung, die schlüssig ist und wohl näher an der historischen Wahrheit als alle vorangegangenen biografischen Rekonstruktionsversuche.

Untermauert wird diese Erzählung von zahlreichen Dokumenten, die in dem Band abgedruckt sind, beispielsweise Wehners Aufzeichnungen für das NKWD, Berichte über „deutsche Trotzkisten“ und vor allem der „Beitrag zur Untersuchung der trotzkistischen Wühlarbeit in der deutschen antifaschistischen Bewegung“ vom Februar 1937. Müller erstellt am Ende für die störrischsten Leser noch eine kommentierte Konkordanz zwischen Wehners Denunziationen und dem Wortlaut des Vernichtungsbefehls, den der Volkskommissar Nikolai Jeschow kurz darauf erlassen hat (NKWD-Direktbrief „Über die terroristische, Diversions- und Spionagearbeit der deutschen Trotzkisten im Auftrag der Gestapo auf dem Territorium der UdSSR“), die deutlich macht, dass Wehner als Schreibtischtäter Vor- und Zuarbeit für diesen Befehl geleistet hat. Müller zeigt damit, „dass erst Wehners mündliche und schriftliche Informationen entscheidend zur Entstehung und Ausformulierung des NKWD-Direktbriefs beitrugen“ (S. 485). Und er weist nach, dass Wehner nicht nur bereits geläufige Verschwörungsfiktionen wiederholt und vorhandenes Material bestätigt: „Erst Wehners Angaben über Personen, die zur Gruppe Eberlein gehören, informierten die NKWD-Offiziere über die engen Beziehungen, die von früheren ‚Versöhnlern’ unterhalten wurden.“ (S. 249)

Diese Dokumente (und die des vorangegangenen Wehner-Buches) machen schnell sinnfällig, dass die „Notizen“ ein unzutreffendes Selbstbild entwerfen. Beispielsweise schreibt Wehner, dass er den Moskauer Verhörern, die ihm ein Treffen mit Mühsams Witwe vorschlugen, erklärte, „daß ich mich in diese Sache nicht einmischen wolle und könne, und daß ich nicht verstünde, daß sie einem Mitglied des Zentralkomitees der KPD zumuten könnten, Verbindung zu Frau Mühsam aufzunehmen“ (Herbert Wehner: Zeugnis. Köln 1982, S. 206). In seinem „Informanten-Bericht“ bot sich Wehner jedoch für weitere Nachforschungen an: „Meine Auffassung ist, daß – wahrscheinlich indirekt – noch Verbindungen zwischen Frau Kreszentia Mühsam und [Erich] Wollenberg bestehen. Obwohl ich selbst wohl nicht in einem Gespräch mit der Frau Mühsam Anhaltspunkte finden könnte, da sie mir nicht ‚vertrauen’ wird, könnte ich in kurzer Zeit Näheres über ihren Umgang und persönliche Beziehungen manches in Erfahrung bringen.“ (zit. n. Müller, S. 255) Eine Reihe weiterer Beispiele ließe sich anführen. In einzelnen Verhörberichten ist Müller zudem auf handschriftliche Vermerke Wehners gestoßen, die die Anklagen unterstützten („Ausschließen, hat Partei angelogen“, S. 55). Wehner liefert den NKWD-Offizieren bereitwillig, übereifrig und offenbar freiwillig logistische Skizzen von „trotzkistischen Gruppierungen“ und belastende Personen-Dossiers, die von diesen weiter verwendet wurden. Freilich ist es schwer, hier eine polizistische Perspektive zu vermeiden. Müllers These, dass Wehners Berichte „Expertisen“ waren und seine protokollierten „Agenturberichte“ für das NKWD von großer Bedeutung gewesen sind und für die umfassende Verhaftungswelle nach dem 14. Februar 1937 eine wichtige Rolle spielten, ist kaum zu entkräften.

Weil Müller (zu Recht) eine krasse Diskrepanz zwischen Wehners Selbstporträt und der Dokumentenlage diagnostiziert, hinterfragt er Wehners Wandlung, ja seine ganze Nachkriegsbiografie. Gewiss ist seine Schlussfolgerung richtig, in den „Notizen“ ein „geschickt verfertigtes mixtum compositum aus Fakten, Fiktionen und Verteidigungsmustern“ zu sehen und ihm die „Weihe der Authentizität“ (S. 19) abzusprechen – das allerdings gilt für so gut wie jeden Rechtfertigungstext dieser Jahre, da derartige „Zeugnisse“ nur Stationen in langwierigen Wandlungsprozessen sein können. Müllers Titel „Herbert Wehner - Moskau 1937“ insinuiert, dass sich von hier aus die ganze Biografie erschließt, dass die Zeit in Moskau zum Universalschlüssel auch noch für den sozialdemokratischen Politiker wird. Wehners Wandlung in einen (Sozial-)Demokraten wird implizit die Glaubwürdigkeit abgesprochen, er bleibt bis zum Ende seines politischen Wirkens ein eiskalt berechnender politischer Stratege und Parteikarrierist. Es scheint, dass Müller sich hier von einigen Verteidigern Wehners in eine staatsanwaltliche Rolle hat drängen lassen.

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