K. Bayer u.a. (Hgg.): Universitäten und Hochschulen

Cover
Titel
Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit.


Herausgeber
Bayer, Karen; Sparing, Frank; Woelk, Wolfgang
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Wissenschaftsgeschichte steht heute mit ihren beiden großen Säulen der Institutionen- und der Diskursgeschichte vor neuen großen Aufgaben: Sie muss den jüngsten „Strukturwandel“ der Universitäten, die „Beisetzung“ Humboldts, verarbeiten. Man darf gespannt sein, wie sie dies macht. Aber auch früher schon gingen Anstöße zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung von politischen Entwicklungen aus. So hat die Studentenbewegung von „1968“ anhaltende Wirkungen auf die Motive und Fragestellungen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung gezeitigt. Eine war die Thematisierung der Rolle der Universitäten im Nationalsozialismus. „Hinter dem Muff der Talare“ vermutete man „braunen“ Geist. Die Universitäten gingen endlich daran, ihre Rolle „unterm Hakenkreuz“ aufzuarbeiten. Diese Diskussion hat für die einzelnen Universitäten, Fakultäten, Fächer und Autoren inzwischen ein hohes Niveau erreicht, wie etwa der gerade erschienene Sammelband über „Die Berliner Universität in der NS-Zeit“ 1 belegt. Heute sucht man nach neuen Wegen in der Diskussion. Der Abschied von „Humboldt“ bringt hier auch Gutes: Er löst die Wissenschaftsgeschichtsschreibung aus ihrer Zentrierung auf die Universitätsgeschichte. Forschung findet nicht nur an Universitäten statt. Hinter den Bergen leben auch Menschen. In den Technischen Hochschulen und den Akademien, diversen Instituten und Wirtschaftsbetrieben wurde auch geforscht.

Der Sammelband „Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit“ ist ein Omnibus und Rutengang der Erkundung neuer Themen. Im Titel gibt er sich als Transformationsforschung: Wie fanden die Universitäten und Hochschulen den Weg aus dem Nationalsozialismus in die frühe Nachkriegszeit? Der Band dokumentiert eine Tagung, die im Juni 2002 am Institut für Geschichte der Medizin der Düsseldorfer Universität stattfand. Diese Universität ging erst in den 1960er-Jahren aus einer Medizinischen Akademie hervor. Die Akademiegeschichte ist ihr deshalb die Vorgeschichte. Der Band beschränkt sich deshalb auch nicht auf die Medizingeschichte im Nationalsozialismus, sondern enthält darüber hinaus diverse Beiträge, die die Herausgeber einleitend als „Impulse“ rechtfertigen. Kein Leser dürfte für alle Beiträge kompetent sein, so dass der Band darauf angewiesen ist, je für seine einzelnen Beiträge kompetente Leser zu finden. Dennoch ist er kein chaotisches Allerlei.

Nach einem Überblick über „Forschungsergebnisse und -desiderate der deutschen Universitätsgeschichtsschreibung“ eröffnet er mit drei „kollektivbiographischen Annäherungen“. Annette Schröder zeigt zunächst, wie Studenten der Technischen Hochschule Hannover den Nationalsozialismus technokratisch affirmierten. Joachim Lerchenmueller erörtert dann ein merkwürdiges, geradezu novellistisches Ereignis innerhalb der Straßburger Universitätsgeschichte: Die besonders umkämpfte und ideologisch exponierte Reichsuniversität Straßburg zog im Kriegswinter 1944/45 förmlich nach Tübingen um. Carsten Klingemann rehabilitiert anschließend leicht polemisch den Forschungsbeitrag, den die NS-belasteten Flüchtlingssoziologen nach 1945 leisteten, und richtet sich damit auch vehement und exemplarisch gegen eine pauschale Diffamierung der Wissenschaft nach 1933.

Es folgen „Einzelbiographien“. Michal Stimunek dokumentiert archivarisch eingehend das Wirken der Mediziner Franz Xaver Luksch und Carl Gottlieb Bennholdt-Thomsen an der Deutschen Universität in Prag und im Rahmen von Euthanasie-Maßnahmen in Böhmen und Mähren. Volker Rennert stellt den Freiburger Rektor Wilhelm Süss als geschickten Opportunisten vor. Ralf Forsbach präsentiert den Bonner Pädiator Hans Knauer als einen Nationalsozialisten, der überall an seiner Unfähigkeit scheiterte.

Karen Bayer eröffnet die Abteilung „Fächer und Disziplinen“ dann mit der Medizinischen Akademie Düsseldorf als einer Anstalt, die nicht durch besondere Verbrechen auffiel und deshalb die durchschnittliche Verstrickung repräsentiert. Uwe Hoßfeld bietet einen umfassenden und soliden Überblick über die besonders frühe und starke Präsenz der Rassekunde und Rassehygiene an der Universität Jena. Ota Konrad schildert den personellen Umbruch in den Geisteswissenschaften an der oft vergessenen Deutschen Universität Prag und geht dabei besonders auf die Zerstörung des Philosophischen Seminars (Oskar Kraus, Emil Utitz) 2 und die deutschnationalen Historiker Wilhelm Wostry und Heinz Zaschek ein.

Der Band endet mit zwei Beiträgen zur Erinnerungskultur. Peter Voswinckel belegt die selektive Erinnerung am Beispiel einer neuen „Biographischen Enzyklopädie der deutschsprachigen Mediziner“, wobei er insbesondere auf das Problem der Arisierung von Standardwerken durch Herausgeberwechsel aufmerksam macht. Oliver Benjamin Hemmerle schematisiert dann in anregender Weise typische Phasen der Erinnerungskultur von Hochschulen und gibt dabei auch eine interessante Übersicht über Denkmäler und Gedenktafeln.

Der Sammelband erschöpft zwar kein Thema; er legt aber einen Schwerpunkt auf die Medizingeschichte, enthält zwei interessante Beiträge zur Deutschen Universität Prag und bietet darüber hinaus einige pointierte „Impulse“ und Anregungen. So stellt er seinen medizingeschichtlichen Schwerpunkt gelungen in den Kontext allgemeinerer Fragestellungen und schlägt mit seinen Schlaglichtern auf Straßburg, Jena und Prag originelle Funken, die er durch die Einleitung zum Forschungsstand und den pointierten Abspann zur „Vergangenheitspolitik“ auch gelungen abrundet.

Anmerkungen:
1 Jahr, Christoph; vom Bruch, Rüdiger (Hgg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit, 2 Bde., Stuttgart 2005.
2 Emil Utitz war wohl der einzige Universitätsphilosoph, der das KZ-Theresienstadt nicht nur überlebte, sondern darüber auch eine radikale ethische Analyse verfasste; dazu vgl.: Emil Utitz, Psychologie des Lebens im Konzentrationslager Theresienstadt, Wien 1948; dazu vgl. Mehring, Reinhard, Das Konzentrationslager als ethische Erfahrung. Zur Charakterologie von Emil Utitz, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), S. 761-775.

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