P. Steinbach u.a. (Hgg.): Widerstand gegen die NS-Diktatur

Cover
Titel
Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945.


Herausgeber
Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes
Anzahl Seiten
551 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Neugebauer, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien

Peter Steinbach und Johannes Tuchel, die Leiter der international renommierten Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW) und der dort angesiedelten Forschungsstelle Widerstandsgeschichte, haben als Herausgeber weitere 27 hervorragende ExpertInnen zu einzelnen Themenbereichen des Widerstands als Mitgestalter des vorliegenden Sammelbandes gewonnen. Das Werk, das auf einer 1994 vorgelegten Bestandsaufnahme beruht, aber neue BeiträgerInnen und substantiell neue Beiträge aufweist, spiegelt den Stand und den Fortschritt der im europäischen Vergleich auf höchstem Niveau angesiedelten deutschen Widerstandsforschung wider. Die gegen starke politische Anfechtungen stets behauptete und bewährte pluralistische Grundeinstellung der GDW, den Widerstand in seiner ganzen Breite und Vielfalt, aber auch Widersprüchlichkeit zu zeigen, kommt in dem Sammelband voll zum Tragen. Die Gliederung (in sechs Abschnitte) folgt im Großen und Ganzen dem traditionellen Muster der verschiedenen politisch-weltanschaulich segmentierten Gruppierungen und Aktivitäten des Widerstands; in einigen wesentlichen Bereichen werden aber auch neue Dimensionen und Forschungsansätze sichtbar. Als sehr nützlich erweisen sich die von den Herausgebern verfassten knappen Einführungen bzw. Zusammenfassungen, die den einzelnen Abschnitten vorangestellt sind.

Im ersten Block, „Widerstand aus der Arbeiterbewegung“, werden der kommunistische, der sozialdemokratisch-sozialistische, der gewerkschaftliche und der Widerstand aus der katholischen Arbeiterschaft dargestellt. Insbesondere in einem Beitrag von Hartmut Mehringer werden dabei auch die – nicht unumstrittene – wichtige Rolle des politischen Exils für die Arbeiterparteien sowie der – freilich schwindende – Stellenwert gewachsener linker Milieus für den Widerstand untersucht. Im zweiten Teil, „Widerspruch und Widerstand“, wird auf das „Widerstehen“ aus evangelischem und katholischem Glauben und aus religiösen Gemeinschaften sowie auf liberalen und katholischen Widerstand eingegangen. Die Diskrepanz zwischen der bedingungslosen Gegnerschaft zu NS-Regime und Kriegsdienst der kleinen Gemeinschaft der Zeugen Jehovas einerseits und der widersprüchlichen, zwischen Konfrontation und Kooperation sich bewegenden Haltung der großen christlichen Kirchen andererseits wird dabei ebenso deutlich sichtbar gemacht wie die sich wandelnde Einstellung vieler Konservativer, deren Wirken Ekkehard Klausa kritisch bilanziert: „Die Konservativen haben Hitler vor 1933 um vieles mehr genützt, als sie ihm nach 1933 geschadet haben [...].“ (S. 198)

In dem wissenschaftlich spannendsten dritten Teil, „Widerstehen im Alltag“, sticht der Beitrag „Dissens und Verweigerung“ von Gerhard Paul hervor, zumal dessen sozialgeschichtliche Ansätze der Widerstandsforschung Impulse in Richtung einer stärkeren Einbettung des Widerstands in eine Gesamtgesellschaftsgeschichte geben. Paul wendet sich vor allem gegen die Hochstilisierung der zweifellos vorhandenen Widersprüche in der NS-„Volksgemeinschaft“ zur „Volksopposition“ oder „Resistenz“ in traditionellen soziokulturellen Milieus, plädiert für den von Ian Kershaw geprägten Begriff „Dissens“ und meint, dass diese zum Teil weit verbreitete Unzufriedenheit und Missstimmung meist nicht zum Widerstand führte, sondern dass vielmehr der Konsens zwischen Führung und Gefolgschaft bis zum Kriegsende stärker blieb. Claudia Fröhlichs Beitrag „Widerstand von Frauen“ thematisiert den wissenschaftlichen Nachholbedarf in diesem Bereich und wirft eine Reihe von Forschungsfragen auf, zum Beispiel ob es „einen frauenspezifisch motivierten Widerstand“ überhaupt gegeben hat (S. 261). Kurt Schilde stellt in seinem Beitrag „Widerstand von Jugendlichen“ den politisch organisierten Widerstand, insbesondere der Linken, in den Mittelpunkt, während er die – vom Regime nicht weniger streng verfolgten – Protesthaltungen und -aktivitäten etwa der Edelweiß-Piraten oder der Swing-Jugend eher gering schätzt. Klaus Drobisch und Gideon Botsch beschäftigen sich mit „Widerstand und nationalsozialistischen Gewaltverbrechen“. Die heikle Frage der Involvierung von Angehörigen des 20. Juli in Verbrechen insbesondere im Osten wird dabei offen, aber durchaus fair untersucht. Demgegenüber fehlt die kritische Distanz zum Verhalten der KPD, deren Funktionäre in den Konzentrationslagern keineswegs nur Solidarität übten.

Der von politischen Gegensätzen geprägte Widerstand in den KZ und dessen Einbettung in die – hierarchisch strukturierte – „Häftlingsgesellschaft“ müssen als eines der wenigen Defizite im Buch konstatiert werden. Ein solcher Beitrag hätte in den vierten Teil, „Widerstand von Juden und Hilfe für Verfolgte“, gut hineingepasst. Von Arnold Paucker stammt ein umfassender Beitrag über „Deutsche Juden im Widerstand“, Kurzfassung einer gleichnamigen, 2003 in Berlin erschienenen Publikation, die das Bild der Passivität der verfolgten Juden und Jüdinnen, die sich „wie die Schafe zur Schlachtbank“ hätten führen lassen, gründlich revidiert. Ebenso aufschlussreich ist der Beitrag von Wolfram Wette über den „Rettungswiderstand aus der Wehrmacht“, der größtenteils nicht von in den Bahnen des Befehlsgehorsams eingeengten Berufsoffizieren, sondern von couragierten zwangsverpflichteten Soldaten und Reservedienstgraden geleistet wurde. Etwa 10 Prozent der von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte der Völker“ ausgezeichneten Deutschen und Österreicher waren Wehrmachtsangehörige, unter ihnen der 1942 hingerichtete Feldwebel Anton Schmid, nach dem 2000 eine Kaserne benannt wurde – nicht in seiner Heimatstadt Wien, sondern in Rendsburg.

Im fünften Abschnitt, „Widerstand im Krieg“, lassen sich die Herausgeber Steinbach und Tuchel die Ehrenrettung des Hitler-Attentäters Georg Elser angelegen sein, der bekanntlich nicht nur von der NS-Propaganda, sondern auch von seinem KZ-Mithäftling Pastor Martin Niemöller, schlecht informierten Historikern und zuletzt, 1999, von Lothar Fritze in seiner Chemnitzer Antrittsvorlesung diffamiert wurde. Drei der bekanntesten deutschen Widerstandsgruppen – der Kreisauer Kreis, die Weiße Rose und die Rote Kapelle – werden sorgfältig analysiert. Günter Brakelmann betont, dass der Kreisauer Kreis (um Moltke, Yorck, Leber, Delp und andere) keineswegs nur ein Club von Theoretikern war, sondern ein entscheidender Teil des „anderen Deutschland“ (S. 373). Jürgen Danyel arbeitet den eigenständigen, politisch durchaus bedeutsamen Stellenwert der vom NS-Regime bzw. von Kalten-Kriegs-Historikern als sowjetische Spionageorganisation abqualifizierten Roten Kapelle heraus. In dem Beitrag „Desertion – Kriegsdienstverweigerung – Widerstand“ behandelt Norbert Haase einen Grenz- und Problembereich der Widerstandsforschung, der auch zu heftigen politischen Kontroversen geführt hat. Während in Deutschland 1998 die NS-Unrechtsurteile durch Bundestagsbeschluss aufgehoben und die Opfer rehabilitiert wurden, stößt dieses Anliegen in Österreich immer noch auf Schwierigkeiten. Edgar Wolfrum hebt in seinem Beitrag „Widerstand in den letzten Kriegsmonaten und Endphasenverbrechen“ die Bedeutung der vor allem auf lokaler und betrieblicher Ebene gebildeten Antifaschistischen Ausschüsse (Antifa) hervor, die in Folge der Instrumentalisierung und Hochstilisierung durch die DDR-Geschichtsschreibung („Volksopposition“) in der Bundesrepublik lange Zeit abgewertet wurden (S. 434).

Im sechsten Abschnitt werden die in der Aktion des 20. Juli 1944 kulminierenden Komplexe „Militäropposition und Umsturzversuche“ behandelt, wobei eine detaillierte Chronik den Überblick erleichtert. Gerd R. Ueberschär kommt in seinem Beitrag über den Umsturzplan „Walküre“ zu dem Ergebnis, dass der Plan „zweifellos genial“, aber mit dem Misslingen der Ausschaltung Hitlers zum Scheitern verurteilt war (S. 501). Ein Beitrag über die Repressionsmaßnahmen nach dem gescheiterten Anti-Hitler-Putsch – das Spektrum reicht von der Hinrichtung der Akteure über Verfolgungsmaßnahmen gegen Kommunisten und Sozialdemokraten bis hin zur Sippenhaft – schließt den Band.

„Die Vielfalt der Widerstandsmanifestationen und -dimensionen“, resümieren Steinbach und Tuchel, „gestattet keine harmonisierende Gesamtschau“ (S. 342). Herausgebern und AutorInnen ist es gelungen, ein eindrucksvolles, facettenreiches Bild des deutschen Widerstands auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes zu zeichnen, das freilich nur schwer in einer kurzen Rezension vermittelt werden kann. Dieses Standardwerk sollte daher nicht nur in jeder Fachbibliothek präsent sein, sondern auch von jedem zeitgeschichtlich Interessierten rezipiert werden.

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