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Titel
Stalinist Values. The Cultural Norms of Soviet Modernity. 1917-1941


Autor(en)
Hoffmann, David
Erschienen
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
$18.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lorenz Erren, Deutsches Historisches Institut, Moskau

Gleich in der Einleitung formuliert David L. Hoffmann zwei klare Thesen, die den Leser als roter Faden durch alle fünf Kapitel begleiten.

Erstens, so Hoffmann, wurden die wesentlichen sozialistischen Werte und Ziele auch unter Stalin niemals aufgegeben. Unter dessen Führung wurde die Wirtschaft vollständig verstaatlicht, der Produktionsprozess zentraler Lenkung unterworfen und der Versuch unternommen, die Bevölkerung zu „Neuen Menschen“ umzuerziehen. Der gleichzeitig vorgenommene ideologische Richtungswechsel (für den Nicholas Timasheff 1946 die Bezeichnung „Great Retreat“ prägte 1), bedeutete laut Hoffmann lediglich einen Verzicht auf gewisse „ikonoklastische “ Attitüden, aber keineswegs eine Abwendung vom Sozialismus oder gar eine Rückkehr zu vorrevolutionären Zuständen. Gerade weil der Kapitalismus in den 1930er-Jahren als „endgültig besiegt“ galt, musste den Kommunisten die Rückbesinnung auf konsolidierende Werte wie Familie, Patriotismus und privater Wohlstand als nahe liegend erscheinen.

Als fortgeführtes kommunistisches Projekt aber – so lautet die zweite These – war und blieb der Stalinismus auch in seinen schlimmsten Auswüchsen im Grunde nur ein Sonderfall der europäischen Moderne. Als deren wesentliches Merkmal betrachtet Hoffmann nicht soziale Emanzipation und liberale Demokratisierung, sondern das Vertrauen auf die Möglichkeiten staatlicher „Massenpolitik“ und Gesellschaftskonstruktion („social interventionism“) – eine Definition, die den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus ausdrücklich mit einschließt.

Zu Beginn beschreibt Hoffmann, wie die sowjetische Obrigkeit an die „Kultivierung der Massen“ heranging. Besonderen Wert legte sie auf die Alphabetisierung und die Vermittlung nützlicher Alltagstugenden wie Fleiß, Nüchternheit und Sauberkeit wie auch auf die Ästhetik, die diese Anstrengungen unterstützen sollte. Im Großen und Ganzen sollten die Proletarier ihren Lebensstil demjenigen der Intelligenz anpassen. Statt sich in der Freizeit zu betrinken oder dekadenten Tänzen hinzugeben, sollten sie lieber Sport treiben, Zeitung lesen oder Museen und Konzerte besuchen. Zugleich sollte der „Neue Mensch“ unter Stalin aber kein willenloses „Schräubchen“ sein, sondern sich auch ganz bewusst für das große Ziel engagieren. Die sowjetische Führung glaubte fest an die Veränderbarkeit der Menschen. Sie griff nicht nur zu repressiven Zwangsmaßnahmen, sondern hielt auch positive Identifikationsangebote bereit, die vielfach akzeptiert wurden.

Weiterhin befasst sich der Autor mit dem Verhaltenskodex für Parteimitglieder, wie er sich unter Stalin herausbildete. Um auf ihren privilegierten Posten die Sowjetmacht würdig repräsentieren zu können, mussten sie sich außer professionellen Fertigkeiten auch einen Habitus aneignen, der ihrer Herrschaft Legitimation verleihen konnte. Dazu gehörte die Ausstrahlung von Effizienz, Kultiviertheit, Höflichkeit, Bildung wie auch die Bereitschaft zur Selbstkritik. Daneben wurde einem geordneten Eheleben allmählich ein immer höherer Wert beigemessen. Besonderen Wert legt Hoffmann auf die Feststellung, dass eine „unmoralische“ Lebensführung in den dreißiger Jahren eng mit Trotzkismus und Illoyalität assoziiert wurde und während der „Großen Säuberungen“ oftmals „tödliche Konsequenzen“ nach sich zog. Die Ausschlusssitzungen fungierten dann als „Anschauungsunterricht in moralischer Lebensführung“. Zugleich zweifelt er jedoch am Erfolg dieser Erziehung. In ihren Ferienheimen jedenfalls spielten die Funktionäre weiterhin lieber Karten und Domino statt Schach oder Volleyball, sie rauchten, tranken und suchten sexuelle Abenteuer, während sie Theater- und Museumsbesuche mehr als leidige Pflichtveranstaltungen absolvierten.

Im dritten Kapitel wird der Wandel in der sowjetischen Familienpolitik beschrieben. Die Abkehr von revolutionären Projekten wie der promiskuitiven Wohnkommune oder der gemeinschaftlichen Kindererziehung bedeutete keineswegs eine Rückkehr zur überkommenen patriarchalischen Großfamilie. Die Regierung favorisierte vielmehr die Kleinfamilie, die ihre soziale Autonomie eingebüßt hatte und somit zum Instrument staatlicher Bevölkerungspolitik gemacht werden konnte. Die Familiengesetze von 1936 (Verbot der Abtreibung, Einführung von Kindergeld, Erschwerung der Scheidung, Verpflichtung abwesender Väter zu hohen Unterhaltszahlungen) sollten vor allem zur Steigerung der Geburtenzahlen führen. Auch die sowjetische Familienpolitik, so Hoffmann, fiel also keineswegs aus dem europäischen Rahmen.

Anschließend beschreibt Hoffmann den staatlichen Versuch, das moralische Problem des privaten Konsums von Gütern und Dienstleistungen in einer sozialistischen Gesellschaft zu lösen. Mit der plakativen Überschrift („Mass consumption in a socialist society“) wollte er offenbar einmal mehr die Ähnlichkeit mit westlichen Verhältnissen hervorheben, doch tatsächlich geht es um die Rehabilitierung des privaten Haushalts als Konsumgemeinschaft nach einer Phase des kollektivistischen Asketismus'. Die Propaganda ermutigte in den dreißiger Jahren insbesondere Familien wieder dazu, ihren eigenen kultivierten Hausstand zu gründen und das dazu notwendige Inventar zu erwerben (Möbel, Kleider, Fahrräder, Radios). Mit „Massenkonsum“ kann dabei im Einzelfall auch soviel wie „Entkriminalisierung kleinstbäuerlicher Subsistenzwirschaften“ gemeint sein (S. 126). In seinen Ausführungen macht Hoffmann jedoch hinlänglich klar, dass der sowjetische Massenkonsum fast nur als propagandistische Verheißung existierte, deren Nichterfüllbarkeit langfristig die Legitimation des Systems untergrub. Dass Stalin aber die Ermöglichung privaten Massenkonsums überhaupt als Wertmaßstab akzeptierte, hält er indessen schon für bemerkenswert genug.

Das fünfte Kapitel schließlich nutzt der Autor, um seine eigene Erklärung des stalinistischen Terrors vorzustellen. Ihm zufolge waren politische Massenverhaftungen und -erschießungen nur Teil des Projekts, „vollkommene gesellschaftliche Harmonie“ herzustellen. Es war dasselbe Ziel, dem auch vergleichsweise konventionelle Maßnahmen wie etwa die Rehabilitierung der „Kulaken“-Kinder, der Stalinkult, die Organisation von Massenaufmärschen und Paraden, die öffentliche Diskussion über die neue Verfassung auch die gnadenlose Bekämpfung von Hooliganismus und Kriminalität dienen sollten. Die stalinistische Führung hielt sich zwar für fähig, die Bevölkerung zu einer Gemeinschaft „Neuer Menschen“ umerziehen zu können, war aber nichtsdestoweniger davon überzeugt, dass ihr noch viele „eingefleischte Feinde“ gegenüberstanden, die „vernichtet werden mussten“ (S. 148).

Aber woran erkannte man diese Feinde? Hoffmann weist selbst darauf hin, dass die Kriterien wechselten. In den 1930er-Jahren etwa hatte die soziale Herkunft gegenüber der ethnischen Zugehörigkeit an Bedeutung verloren. In der Terrorphase schließlich seien auch Schwarzhändler, „Hooligans“ und Diebe von Staatseigentum als politische Verräter eingestuft worden (S. 175ff.), ebenso Parteimitglieder, die sich alkoholische und sexuelle Ausschweifungen erlaubt hatten (S. 74ff.). Ohne sich an der offenkundigen Unschärfe solcher Kriterien zu stoßen, zeigt sich Hoffmann von den angeblich modernen Techniken der „sozialen Katalogisierung“ beeindruckt, die die Terroroperationen vorbereitet hatten. Das „riesige menschliche Archiv“, das die Sowjetregierung lange Jahre hindurch mit ihren „Volkszählungen, Fragebögen und dem Passsystem aufgebaut hatte, identifizierte die Individuen, die zur Ausrottung bestimmt waren“ (S. 182). Auch wenn der Terror, wie er einräumt, letztlich weitgehend chaotisch verlief und seine Zwecke verfehlte, so „spiegelte er dennoch eine moderne Konzeption von der Gesellschaft als einem Kunstprodukt wieder, das durch staatliche Intervention modelliert werden sollte“ (S. 183).

Insgesamt hinterlässt das Buch „Stalinist Values“ keinen überzeugenden Eindruck. Offenbar konnte sich der Autor nicht entscheiden, ob er nun ein konzises Hochschullehrbuch oder ein Positionspapier schreiben wollte. Viel zu engagiert stellt er sich die uralte Frage, wie „sozialistisch“, „modern“ oder gar „europäisch“ Stalins Sowjetunion war, nur um sie mit altbekannten Argumenten zu beantworten. Es hätte geholfen, wenn Hoffmann genauer erklärt hätte, weshalb er es heute überhaupt (noch oder wieder) für notwendig hält, auf die grundsätzliche Vergleichbarkeit zwischen sowjetischen und allgemein-europäischen Zielvorstellungen in der Sozialpolitik hinzuweisen und dabei noch etwas stärker auf aktuelle Kontroversen zum „Wesen des Stalinismus“ Bezug genommen hätte.

Die Darstellung als solche ist zwar lebendig und materialreich, aber in der Gedankenführung allzu oberflächlich. Die bequeme Beschränkung auf den Zwischenkriegszeitraum etwa verleitete den Autor dazu, alle offiziellen Werte wie von selbst auf den Großen Terror hinwirken zu lassen. Hier liegt m.E. eine gedankliche Schwäche des Buches, denn gerade die Massenverhaftungen und -erschießungen kann man mit Werten der von Hoffmann so ausführlich beschriebenen „stalinistischen Moderne“ (Sauberkeit, Nüchternheit, Keuschheit, Höflichkeit, „soziale Harmonie“ etc.) eben doch nicht hinreichend erklären. Auch sonst bleibt das Buch viel zu terrorfixiert – vor lauter Parteisäuberungen, so scheint es, vergaß der Autor danach zu fragen, wie welche Werte im Alltag eigentlich vermittelt wurden. Da er sich für die Erziehungs- und Disziplinierungspraxis der Familien, Schulen, Pionierlager, der Arbeitswelt etc. nicht interessiert, bleibt seine Vorstellung von „stalinistischen Werten“ entsprechend eindimensional.

Wegen seines geringen Umfangs, seiner flüssigen Sprache und zahlreichen Hinweise zur (englisch- und russischsprachigen) Literatur ist das Buch als knappe Einführung zur sowjetischen Sozialpolitik (von 1921 bis 1941) zweifellos brauchbar. Neue Perspektiven darauf, was „stalinistische Werte“ jenseits von Propagandaplakaten und außerhalb von Parteisäuberungen für die Zeitgenossen bedeutet haben könnten, eröffnet es leider nicht.

Anmerkung:
1 Timasheff, Niklas, The Great Retreat, The Growth and Decline of Communism in Russia, New York 1948.

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