M. Dmitrieva u.a. (Hgg.): Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa

Cover
Titel
Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa. Wilna 1918-1939


Herausgeber
Dmitrieva, Marina; Petersen, Heidemarie
Reihe
Jüdische Kultur: Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur 13
Erschienen
Wiesbaden 2004: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, Historisches Seminar, Universität Leipzig

In den nach 1918 wieder- oder neuentstandenen Staaten Ostmitteleuropas, dem damaligen „Neuen Europa“, war die nationale Frage eine förmliche Obsession der Politik. Im Widerspruch zwischen der Idealvorstellung des „ethnisch homogenen“ Nationalstaates und der Realität sprachlicher und kultureller Pluralität gerieten die nationalen Minderheiten unter den Generalverdacht der politischen Unzuverlässigkeit. Obwohl oder vielleicht gerade weil die Juden nicht über einen eigenen Staat verfügten und deshalb nicht als Irredenta eines feindlichen Nachbarn in Frage kamen, boten sie eine Projektionsfläche für unterschiedliche Feindbilder. Dem traditionalen, christlichen und kulturellen Antijudaismus gesellte sich der moderne Antisemitismus hinzu, der nicht zuletzt auch in Ostmitteleuropa von einem militanten Antikommunismus geprägt war und die Judenheit als Trägerschicht des Bolschewismus identifizierte.

Dies ist der historische Rahmen, in den die Herausgeberinnen ihren aus einer Tagung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas und des Simon-Dubnow-Instituts in Leipzig vom Oktober 2002 hervorgegangenen Sammelband stellen. Damit richten sie den Blick auf das weite Feld der jüdisch-nichtjüdischen Kontakt- und Verflechtungsgeschichte und implizieren einen hohen Anspruch. Denn die Stadt Wilna soll nicht einmal mehr als das schon stereotype „Jerusalem des Ostens“ in Geschichte und Kultur der osteuropäischen Judenheit betrachtet werden, sondern als lokaler Bezugspunkt von miteinander konkurrierenden nationalpolitischen, kulturellen und historischen Projektionen. Gerade für die Juden als einer „transterritorial autochthonen Bevölkerungsgruppe“ (Dmitrieva, Petersen) war eine solche lokale Identifikation – vielleicht auch in kompensatorischer Funktion – von großer Bedeutung. Um es vorwegzunehmen: Von den zwölf Aufsätzen des Bandes wenden sich nur zwei konsequent Fragen der Multiethnizität und Interkulturalität in Stadt und Gebiet Wilna während der Zwischenkriegszeit zu. Die übrigen liefern hierzu gelegentlich Anknüpfungspunkte, bewegen sich aber im Wesentlichen entlang gewohnter Bahnen der von den Autoren vertretenen Teildisziplinen.

Das berühmte „Yidisher Visnshaftlekher Institut“ (YIVO) in Wilna bildet eine thematische Klammer des Bandes. In einem durch persönliche Erinnerungen bereicherten Text gibt Esfir Bramson-Alperniene, Mitarbeiterin der Litauischen Nationalbibliothek, einen Überblick über den Bestand der YIVO-Bibliothek am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, seine Ausplünderung durch die NS-Besatzer und seinen Verbleib in der Nachkriegszeit. Nach 1989 wurden die Restbestände der Sammlung vom Litauischen Staatsarchiv übernommen. Den Anhang des Bandes bildet ein „Memorandum für ein jiddisches akademisches Institut“ von Nokhem Shtif vom 12. Februar 1925, das hier erstmals in Auszügen in einer deutschen Übersetzung aus dem Jiddischen veröffentlicht wird.

Weitere vier Beiträge befassen sich mit dem YIVO oder umkreisen es thematisch. Für Gennady Estraikh fungierte Wilna als „capital of yiddishism“, nicht etwa Czernowitz in der Bukowina, weil dort in der jüdischen Bevölkerung deutschsprechende Intellektuelle dominierten. Seine Behauptung überrascht, dass Wilna diese Position auch deswegen erlangen konnte, weil es von anderen Nationalbewegungen zumindest noch im 19. Jahrhundert nicht in Anspruch genommen worden sei. Damit ist impliziert, dass die nationalpolitische Konkurrenz um Wilna erst nach der Jahrhundertwende, dann aber mit umso größerer Heftigkeit einsetzte. Das unter der Leitung von Max Weinreich stehende YIVO betrachtete die jiddische Sprachpflege als Voraussetzung für eine moderne jüdische Nationsbildung unter den Vorzeichen von Säkularisierung und Sozialismus. Weinreich war es um die Beseitigung von „daythshmerizms“ (also Germanismen) im Jiddischen zu tun, um die Konstruktion eine sprachlichen Kontinuität der Judenheit vom alttestamentarischen Hebräisch bis zum zeitgenössischen Jiddisch, das in den Rang einer modernen Literatur- und Wissenschaftssprache gehoben werden sollte. Bei dieser Fiktion des Jiddischen als einer „shmelts-shprakh“ handelte es sich nicht um eine linguistisch fundierte Theorie, sondern um eine dem jüdischen nationbuilding dienende Ideologie, wie Estraikh unterstreicht.

Drei Aufsätze befassen sich mit der jüdischen Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit und der Stellung, die die Historische Sektion (HS) des YIVO in ihr einnahm. Anke Hilbrenner geht in ihrem biografisch orientierten Beitrag über den russisch-jüdischen Historiker Simon Dubnow von dem Befund aus, dass dieser seiner Beteiligung an der Gründung der HS im Jahr 1925 (mit Sitz zunächst in Berlin, ab 1933 in Paris) rückblickend offenbar keine große Bedeutung beimaß. Für die in Polen tätigen jüdischen Historiker war und blieb Dubnow mehr ein „intellektueller Pate“ als ein direktes Vorbild für ihre theoretischen oder methodischen Ansätze. Dubnows Absicht war, die Geschichte der jüdischen Diaspora nicht länger als eine Leidens- und Duldensgeschichte zu schreiben, sondern als eine Geschichte selbstbestimmter Akteure. Die selbstverwaltete jüdische Gemeinde in der polnisch-litauischen Rzeczpospolita, den kahal, deutete er deshalb als den institutionellen Kristallisationskern einer so verstandenen jüdischen Geschichte im östlichen Europa, während die teilweise sozialistisch orientierten jüdischen Historiker der jüngeren Generation den kahal selbst als ein Instrument der Kontrolle und Unterdrückung der jüdischen Massen durch die privilegierten jüdischen Klassen verstanden. Dubnows Aufruf zum Sammeln der Quellen zur jüdischen Geschichte, durch das die Bestandsverluste nach der Auflösung der kahale wenigstens teilweise wettgemacht werden sollten, deuteten die YIVO-Historiker zu einer frühen Form der „Geschichtsschreibung von unten“ um.

In ihrem der Historischen Sektion des YIVO gewidmeten Beitrag trägt Petersen die gut durchargumentierte These vor, nicht Wilna, sondern Warschau sei in der Zwischenkriegszeit das intellektuelle Zentrum der polnischen Judenheit gewesen – eine Auffassung, die durch Susanne Marten-Finnis kurzen Beitrag über die damals eher unbedeutende Wilnaer jüdische Presse empirisch gestützt wird. Die HS habe eher einen „ideellen Bezugsrahmen“ als eine konkrete institutionelle Verankerung der jüdischen Historiografie dargestellt. Die 1928 von jüngeren jüdischen Historikern wie Emanuel Ringelblum und Rafael Mahler gegründete „Warschauer Historische Kommission“ blieb aus unterschiedlichen Gründen auf Distanz zu der HS wie zum YIVO selbst. Die Frage, wieso sich die HS nicht direkt in Wilna niedergelassen habe, kann nicht mit der in dortigen polnischen Akademikerkreisen feindlichen Stimmung gegenüber der jüdischen Historiografie erklärt werden, sondern ist in erster Linie dadurch zu beantworten, dass sich YIVO und HS selbst von der polnischen akademischen Historiografie isolierten, indem sie sich ausschließlich an ein jüdisches und jiddischsprachiges Publikum wandten. Die jüdischen Historiker in Warschau dagegen suchten gerade den Anschluss an die wissenschaftliche Öffentlichkeit auch der Nichtjuden. Der marxistisch-materialistische Ansatz der HS-Historiker wurde von den Warschauer Historikern nicht unbedingt geteilt.

Ein Aufsatz von Maria Dold über die führenden polnisch-jüdischen Historiker der Zwischenkriegszeit, Majer Balaban, Mojzesz Schorr und Ignacy Schiper, ergänzt Petersens institutionengeschichtlichen Beitrag um eine biografische Dimension. Majer Balaban wollte sich von der vorwiegend negativen Darstellung der Geschichte der Juden in Polen und Osteuropa absetzen, wie sie im 19. Jahrhundert der Historiker Heinrich Graetz praktiziert hatte. Die drei genannten Wissenschaftler waren an dem 1927/28 unter ihrer Federführung in Warschau gegründeten „Institut für Judaistische Wissenschaften“ (INJ) tätig. Sie wurden, trotz sich verschärfendem Antisemitismus und Numerus Clausus für jüdische Studierende, in den 1930er-Jahren von ihren polnischen Kollegen geschätzt und anerkannt. Vom jiddischistischen Programm des YIVO setzten sich die Historiker des INJ durch eine „kulturzionistische“ Orientierung ab; Polnisch und Hebräisch wurden gleichermaßen als Unterrichtssprachen gepflegt, was einem politischen Programm gleichkam. Allerdings, so Dold, waren diese Differenzen nicht prinzipieller Art, denn Historiker wie Schiper oder Filip Friedman waren zeitweise an beiden Institutionen tätig.

In den Kontext der Historiografie im weiteren Sinne gehört auch Anne Lipphardts Aufsatz über das „Zamlbukh Project of Vilner Branch 367 Arbeter Ring“. Im Unterschied zu den yizker bikher (Gedächtnisbüchern), die das unwiederbringlich Verlorene nach der Shoah in der Erinnerung der Überlebenden bewahren sollen, dienten die zamlbikher der positiv gestimmten Porträtierung der zurückgelassenen Heimat; Adressat war die jüdische Emigration. Auch die in der Ethnografischen Kommission des YIVO institutionalisierte „zamlerbavegung“ war durch Simon Dubnow inspiriert. An dem 1935 in New York veröffentlichten Wilna-zamlbukh fällt auf, dass religiöse Gedächtnisorte nurmehr eine untergeordnete Rolle spielen, während die Akteure der jüdisch-sozialistischen Arbeiterbewegung und die Stätten ihrer Geschichte im Mittelpunkt stehen.

Drei Beiträge widmen sich im engeren Sinne kulturgeschichtlichen Aspekten der Stadt Wilna. Hans-Christian Trepte betrachtet in seinem Essay das Wilna-Bild im literarischen Schaffen Czeslaw Milosz’; seine Hauptthese ist, dass der Exilautor und Nobelpreisträger Milosz in Gedichten und Prosaarbeiten insofern ein polnisch-ethnozentrisches Bild der Stadt überwunden habe, als sich auch die heute dort lebenden Litauer problemlos damit identifizieren können. Marina Dmitrieva schreibt über Moshe Vorobeichic, der nach seiner Emigration nach Palästina 1934 den Namen Moshe Raviv annahm und auch unter seinem Künstlernamen Moï Ver bekannt ist. Vorobeichic veröffentlichte 1931 eine Sammlung von 65 Fotocollagen über das „alte Wilna“, deren künstlerische Eigentümlichkeit darin besteht, eine Spannung zwischen der traditionellen Bildmotivik (der „jüdischen Gasse“) und ihrer Verarbeitung im modernen Medium der Fotografie und der grafischen Montage aufzubauen. Justin D. Cammy widmet sich in einer Fallstudie der Mitte der 1930er-Jahre publizierten Avantgardezeitschrift „Yung-Vilne“, die kurzzeitig ein Forum der Wilnaer jüdischen bildenden Künstler und Literaten war. Nach etlichen Restriktionen durch die staatliche Zensur und aufgrund finanzieller Schwierigkeiten stellte die Zeitschrift nach nur drei Jahrgangsbänden ihr Erscheinen ein. Vermutlich auch aus Zensurrücksichten vermied die Zeitschrift die Festlegung auf ein eindeutiges künstlerisches Programm.

Die beiden aus der Sicht einer gesamtheitlichen Stadtgeschichte interessantesten Beiträge seien am Schluss vorgestellt. Katrin Steffen befasst sich mit dem schließlich gescheiterten Projekt eines Denkmals für Adam Mickiewicz, das der Stadtrat von Wilna seit den 1920er-Jahren betrieb. Der monumentale Entwurf des konvertierten Bildhauers jüdischer Abstammung Henryk Kuna, der aus dem Wettbewerb als Sieger hervorging, wurde in einer Kampagne der polnisch-nationalistischen Presse als „biblisch-jüdisch“ diffamiert. Obwohl Kunas Entwurf neoklassizistisch war, gingen doch typischerweise chauvinistische und antisemitische Stimmen eine enge Verbindung mit der kulturkonservativen Aversion gegen die künstlerische Moderne ein. Vor dem Hintergrund dieser Kampagne hatte die Mitte der 1930er-Jahre zur Finanzierung des Standbilds ins Leben gerufene Spendenaktion keine Erfolgschance mehr.

Anna Veronika Wendlands Aufsatz, dem Sammelband quasi als programmatischer Text vorangestellt, ist in erster Linie als ein an der Stadt Wilna exemplifizierter, konzeptioneller Beitrag zu einer integrierten Stadtgeschichte zu lesen, als engagierter Aufruf zur Überwindung herkömmlicher Grenzen wissenschaftlicher Fachdisziplinen. Diese werden einerseits von den Konventionen der akademischen Tradition, andererseits selbstverständlich auch von den jeweiligen Grenzen des individuellen Lesehorizontes reproduziert, welche die aus dem vielsprachigen empirischen Material erwachsenden Sprachbarrieren errichten. Aber, so Wendland, sie schreiben nicht zuletzt auch die bereits im Betrachtungszeitraum angelegten „kognitiven Landkarten“ teilweise bis in die jüngste Forschergeneration fort. Diese lassen es zweifelhaft erscheinen, dass die einzelnen, die Stadt Wilna damals bewohnenden Nationalitäten – Polen, Juden, Litauer und Weißrussen – „ihre“ Stadt überhaupt als einen allen gemeinsamen, identischen Ort wahrnahmen. Aus der Sicht der Stadtgeschichte wäre aber die Kenntnisnahme der Gesamtstadt einzufordern; erst diese ermöglicht einzuschätzen, wieweit Integration und Akkulturation der einzelnen Bevölkerungsgruppen fortgeschritten war oder ob umgekehrt Prozesse ihrer Abschwächung zu verzeichnen waren. Immerhin liefern bereits die zeitgenössischen, lokalpatriotischen krajowcy (Landsmannschaftler) frühe Beispiele für eine solche integrative Sicht auf die Stadt, die nicht mit einer ahistorisch-harmonisierenden Betrachtungsweise verwechselt werden darf.

Wer nach der Lektüre von Wendlands Beitrag, ähnlich wie der Rezensent, den Rest des Buches vorwiegend unter den Gesichtspunkten einer integrativen urban history liest, wird gewiss enttäuscht werden. So könnte auch an dieser Stelle einmal mehr der gegenüber Sammelbänden fast regelmäßig wiederholte Vorwurf erhoben werden, ein anspruchsvolles Gesamtkonzept sei nicht erfüllt worden; allein die quantitative Dominanz klassischer thematischer Felder der Jewish Studies hat dies verhindert. In Anbetracht der Realitäten von Tagungsabläufen und Sammelbandproduktionen soll aber einmal angemerkt werden, dass Tagungsbände wohl einfach nicht der Ort zur Realisierung von anspruchsvollen Gesamtkonzeptionen sind. Auf der Habenseite steht dagegen, dass die größtenteils originellen und auf eigenständige empirische Forschung gestützten Einzelbeiträge wertvolle Bausteine zu einer integrativen Geschichte Wilnas liefern, wenn auch noch auf einige Ziegel und den Mörtel zum polnischen Wilno und zum litauischen Vilnius zu warten sein wird. Das Wilna des vorgestellten Bandes ist dabei freilich nicht nur das historisch-„reale“, sondern vor allem und in erster Linie das der Imagination, der mentalen Projektion, der nostalgisch-verklärenden oder der künstlerischen auf der Suche nach neuen Wegen; ferner das Wilna als im YIVO institutionalisierter Verdichtungsort, als wichtiger Knotenpunkt im intellektuellen Netzwerk der zeitgenössischen polnisch-jüdischen, politisch engagierten WissenschaftlerInnen.

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