U. Sautter: Deutsche Geschichte seit 1815

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Titel
Deutsche Geschichte seit 1815. Daten, Fakten, Dokumente, Bd. 1: Daten und Fakten; Bd. 2: Verfassungen; Bd. 3: Historische Quellen


Autor(en)
Sautter, Udo
Erschienen
Stuttgart 2004: UTB
Anzahl Seiten
922 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Welche Entwicklung nahm die Bevölkerung in den Staaten des Deutschen Bundes? Welche Stärke hatten die ‚Fraktionen‘ der Nationalversammlung von 1848/49? Welche Dienstgrade hatten Wehrmacht und Waffen-SS? Welche Minister saßen im Kabinett Konrad Adenauers? Wie viele Mitglieder zählten die deutschen Gewerkschaften zwischen 1870 und 2000? Und wie hoch war der PKW-Bestand zwischen 1907 und 2001? Wer auf solche Fragen rasch eine Antwort erhalten möchte, der ist mit Udo Sautters Band Daten und Fakten – dem ersten eines drei Bände umfassenden Gesamtwerks zur Deutschen Geschichte seit 1815 – gut bedient. Dieser enthält insgesamt dreizehn Abschnitte: jeweils einen zur Fläche und Bevölkerung (S. 15-40), zu den Religionsverhältnissen (S. 41-45), den fürstlichen Dynastien (S. 47-50), den Regierungen (S. 52-93), den Wahlen und Volksentscheiden (S. 95-128), den deutschen Parteien (S. 129-150), den Obersten Bundesgerichten (S. 151-154) sowie jeweils einen zu Wirtschaft (S. 155-187), Verkehr (S. 189-193), Militär und Krieg (S. 195-205), Flaggen und Hymnen (S. 207-211). Eine Zeittafel (S. 1-14) und fünf Karten zur politisch-territorialen Entwicklung Deutschlands (S. 213-218) runden das Ganze ab.

Angesichts einer solchen Masse an Fakten kann es nicht ausbleiben, wenn sich einige Ungenauigkeiten oder Fehler eingeschlichen haben oder aus der ausgewerteten Literatur übernommen worden sind. Und natürlich kann man auf 232 Seiten nicht alle Informationen unterbringen, die man für den akademischen oder schulischen Geschichtsunterricht benötigt. Insofern wäre es Beckmesserei, wollte man Sautter hier Detailfehler oder Unterlassungen ankreiden, zumal der erste Band schon allein aufgrund seines Umfangs weitaus mehr Informationen enthält als die im selben Verlag erschienenen Parallelunternehmen zu Frankreich und den USA.1 Problematisch aber wird es, wenn die Auswahl von Daten und Fakten zu einem einseitigen Geschichtsbild oder Geschichtsverständnis beiträgt. Auch das wird man Sautters Kompendium so nicht vorwerfen können. Nichtsdestoweniger ist das Buch aufgrund seiner räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Schwerpunkte nicht ganz frei von gewissen Verengungen.

Zunächst zur räumlichen Dimension. Die neuere deutsche Geschichte ist nicht nur die Geschichte Preußens, die neueste deutsche Geschichte nicht nur die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dieser simplen, in Überblicksdarstellungen aber gerne etwas vernachlässigten Tatsache trägt Sautter insofern Rechnung, als er in den meisten Abschnitten auch andere deutsche Staaten berücksichtigt. So etwa auch die DDR. In der vorangestellten Chronologie allerdings taucht das SED-Regime vorzugsweise dann auf, wenn es um deutsch-deutsche Beziehungen geht. Nur ganz zentrale Ereignisse der DDR-Geschichte – wie der Aufstand vom 17. Juni, der hier als „Niederschlagung von Massenstreiks in der DDR durch sowjetische Truppen“ (S. 11) in seiner Bedeutung geschmälert wird –, haben Aufnahme in die Zeittafel gefunden, nicht aber die Boden- und die Industriereform, die Transformation der SED zu einer ‚Partei neuen Typs‘, der Neue Kurs, die Vergesellschaftungsaktion von 1972 oder die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Auch die Auswahl zum 19. Jahrhundert ist insgesamt so angelegt, dass das seit 1848 teils forcierte, teils selbstverantwortete Ausscheiden Österreichs aus Deutschland in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückprojiziert wird: Wie sonst ist es zu erklären, dass die Tabellen zur Fläche und Bevölkerung des Deutschen Bundes (von einer Ausnahme abgesehen) die österreichischen Gebiete aussparen, dagegen aber die zunächst nicht zum Deutschen Bund gehörenden preußischen Provinzen Posen, Ost- und Westpreußen zweimal berücksichtigt werden?

Auch die von Sautter gesetzte Zäsur von 1815 könnte implizit dazu beitragen, die seit 1800 von West- und Süddeutschland ausgehenden Impulse in ihrer Bedeutung für die Modernisierung Deutschlands für zu gering zu veranschlagen. Am Anfang war - nicht Napoleon, sondern der Wiener Kongress? Wer die dreibändige, insgesamt 888 Seiten umfassende Dokumentation zur Hand nimmt, muss den Eindruck gewinnen, als ob die neuere Geschichte Deutschlands erst 1815 einsetzt, mit der Gründung des Deutschen Bundes.

Dabei gilt das nicht einmal für die politische Geschichte. Und auf die konzentriert sich das Gesamtwerk fast ausschließlich. Die wenigen ökonomischen Fakten geben für Wirtschaftshistoriker nicht viel her, zumal die Angaben innerhalb einiger Tabellen „wegen konzeptioneller und definitorischer Unterschiede [...] nicht voll vergleichbar“ sind (S. 158). Die Sozialstruktur ist völlig unterbelichtet, erst recht die kulturelle Dimension. Sautter ist sich dieses Mankos sehr wohl bewusst. Im Vorwort des ersten Bandes betont er, dass der Band „hauptsächlich Angaben zur politischen, militärischen und wirtschaftlichen Geschichte“ enthalte (S. V). Die Begründung für diese Fokussierung liefert er im Vorwort des dritten Bandes nach: die Betonung des Politischen erfolge „nicht deshalb, weil diesem prinzipiell vor anderen Geschichtsbereichen ein Vorzug zu geben wäre, sondern weil es sich für Studierende besser als manche anderen Bereiche zur Bildung eines Gedächtnisrahmens“ eigne (S. V).

Insofern muss man die drei Bände als das beurteilen, was sie sind: als ein Kompendium politischer Daten, Fakten und Dokumente. Freilich gilt es dabei zu berücksichtigen, dass sich die Quellen zur politischen Geschichte nicht in Gesetzestexten und Reden führender Staatsmänner erschöpfen. Genau diesen Eindruck aber muss man gewinnen, wenn man den dritten Band heranzieht. Ein Beispiel: insgesamt siebzehn Texte auf insgesamt 50 Seiten enthält der Abschnitt zum Nationalsozialismus. Darunter befinden sich zehn Dokumente zur Außenpolitik (neun Verträge und ein Protokoll) sowie fünf Dokumente zur Innenpolitik (vier Gesetze und ein Protokoll). Hinzu kommen zwei nicht von Nationalsozialisten verfasste Dokumente aus dem kirchlichen Bereich: der Aufruf und die Theologische Erklärung der Bekennenden Kirche und die Enzyklika Mit brennender Sorge. Selbstzeugnisse jedweder Art sucht man vergebens. Aber auch Stimmungsberichte, wie die Meldungen aus dem Reich des SD oder die Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934-1940, sind nicht vertreten. Wie will man die Geschichte einer Diktatur ohne solches Material, das den Blick auf die Stimmung der breiten Bevölkerung eröffnet, beschreiben? Für die zweite deutsche Diktatur stellt sich dieses Problem hier insofern nicht, als diese unter den Dokumenten zur Nachkriegszeit (18 Texte, ausschließlich Urkunden und öffentliche Proklamationen) kaum vertreten ist: nur mit dem Görlitzer Vertrag von 1950 und dem Beitrittsbeschluss der Volkskammer vom 23. August 1990. Das prognostizierte Verschwinden der DDR aus den Universitäten 2: im dritten Band ist es mit Händen greifbar.

Immerhin findet sich im zweiten Band die Verfassung der DDR von 1968. Insgesamt enthält dieser zwanzig Verfassungsdokumente, von der Deutschen Bundesakte 1815 bis zum Einigungsvertrag von 1990. Dabei – und damit unterscheidet sich diese Dokumentation wohltuend von manch anderer Edition – hat Sautter auf eine ‚behutsame Modernisierung‘ der Texte verzichtet. Vielmehr werden die Dokumente in ihrer zeitgenössischen Originalform und stets vollständig wiedergegeben. Im Verlauf ihrer Gültigkeit vorgenommene Änderungen werden – auch das ist positiv hervorzuheben – innerhalb des Textes kenntlich gemacht: sie sind „jeweils in den Text integriert und zwar dergestalt, dass der ursprüngliche oder veränderte, aber später nicht mehr weitergeltende Wortlaut im Schrägdruck, weitergeltender und neuer Text im Normaldruck erscheinen“, und das unter Angabe der Änderungsdaten wie der Fundstelle (S. V). Auch die vorgenommene Auswahl an Verfassungen ist nachvollziehbar. Allein die Zäsur von 1815 verstellt ein weiteres Mal den Blick auf die entscheidenden Weichenstellungen unter Napoleon. Verwiesen sei nur auf die 1807 oktroyierte Constitution des Königreichs Westphalen. Immerhin hat man mit dem Abdruck der Verfassung des Großherzogtums Baden von 1818 der Bedeutung des süddeutschen Frühkonstitutionalismus Rechnung getragen.

Der Gesamteindruck ist mithin uneinheitlich. Manches hätte man anders, einiges besser machen können. Gleichwohl könnte sich das Gesamtwerk – der erste mehr als die beiden anderen Bände – als nützliches Hilfsmittel für Studium und Lehre erweisen, schon aufgrund der Masse an Informationen. Das enthebt freilich weder Lehrer noch Dozenten einer kritischen Distanz. Dass Geschichte nicht aufgeht in „Fakten, Fakten, Fakten“ mag eine Binsenweisheit sein. Aber gerade angesichts der neuerdings zahlreichen von außen an das Studium herangetragenen Zumutungen sollten die Unterrichtenden weiterhin darauf insistieren, dass Fakten nicht für sich alleine sprechen. Schließlich ist der problematisierende und kritische Umgang mit Fakten eine der Leistungen, durch die sich geisteswissenschaftliches Arbeiten auszeichnet.

Anmerkungen
1 Vgl. Grüner, Stefan; Wirsching, Andreas, Frankreich. Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen 2003; Sautter, Udo, Die Vereinigten Staaten. Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen/Basel 2000.
2 Vgl. Pasternack, Peer, Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990-2000 (HoF Wittenberg. Institut für Hochschulforschung an der MLU Halle-Wittenberg e.V. Arbeitsberichte 5'01), Wittenberg 2001.

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