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Titel
Die verrechnete Hoffnung. Von der selbstbestimmten Entscheidung durch genetische Beratung


Autor(en)
Samerski, Silja
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Christine Holmberg, Community Oncology and Prevention Trials Research Group, DCP, NCI, National Cancer Institute

Pränataldiagnostik wird heute in Deutschland bei jeder Schwangerschaft durchgeführt. Um deren Verlauf zu beobachten und zu kontrollieren, werden von Beginn an regelmäßig Ultraschalluntersuchungen vorgenommen, und auf diese Weise vermehrt Föten mit „verdächtigen“ Befunden diagnostiziert Vieles, was früher unbemerkt blieb, wird heute im Ultraschall sichtbar gemacht und als „verdächtig“ gekennzeichnet. Dadurch werden weitere pränatale Untersuchungen als nötig angesehen. Allerdings sind diese problematisch. Denn Tests, die medizinische Aussagen über den Fötus machen können, bergen Risiken für diesen in sich, während die für den Fötus gefahrlosen Tests meist keine eindeutigen Antworten über diesen individuellen Fötus geben können. Doch selbst mit Hilfe der „sicheren“ Tests kann keine Aussage über die Stärke des „Defekts“ getroffen und meist nicht vorausgesagt werden, zu welchem Zeitpunkt die „Erkrankung“ eintreten wird. Deshalb hat die Bundesärztekammer 2002 Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen herausgegeben, deren Schwerpunkt auf der Beratung liegt, die den Untersuchungen vorausgehen sollte. Die Richtlinien legen dar, wie den Schwangeren die nötigen Informationen übermittelt werden sollen und wie auf die Risiken der Pränataldiagnostik „in einer besonderen, oft schwerwiegenden Entscheidungssituation“ 1 eingegangen werden soll. Welche Konsequenzen die auf diese Weise hergestellten Entscheidungssituationen für Frauen hat, welche gesellschaftlichen Veränderungen mit ihr einhergehen und was „Entscheiden“ in diesem Zusammenhang bedeutet, das ist Thema des Buches „Verrechnete Hoffnung“ von Silja Samerski.

Um die heutige Praxis historisch einzuordnen und für die Analyse zu verfremden, ist die erste Hälfte des Buches der Entwicklung und Veränderung des „Beratungsgespräches“ im Laufe des 20. Jahrhunderts sowie der begriffshistorischen Einordnung von „Entscheiden“, „Risiko“, „Wahrscheinlichkeit“ und „Gen“ gewidmet. Denn Samerski stellt fest, dass Frauen und WissenschaftlerInnen in den Beratungsgesprächen über Unterschiedliches sprechen, auch wenn sie dieselben Worte benutzen. Dabei charakterisiert Samerski in Anschluss an Fleck die Wissenschaftssprache als eine exakte Sprache, die durch ihre Definitionsarbeit keinen Bedeutungsüberschuss in ihren Begrifflichkeiten zulässt. Die Umgangssprache hingegen zeichnet sich durch Ungenauigkeiten aus, die zum Bedeutungsüberschuss von Worten führen. Wenn Sachverhalte aus der Wissenschaft ins Populärwissenschaftliche übertragen werden, um für Laien verständlich zu sein, müssen sie in eine „wahrnehmbare Sache“ (S. 92) verwandelt und muss ihre wissenschaftliche Aussage vereinfacht werden: Sie werden zu souverän dargestellten Tatsachen. Ziel populärer Wissenschaft ist ein „quasi religiöses Weltbild“ (S. 92). Genetische Beratungsgespräche stehen, da sie wissenschaftliche Tatsachen verständlich darlegen sollen, an der Grenzlinie von Wissenschaft und Populärwissenschaft.

Samerski analysiert die Begriffe „Risiko“ und „Gen“ als Plastikwörter; Wörter, die in der Alltagssprache keinen Gegenstand haben, zu dem sie gehören, gerade dadurch aber sehr machtvoll werden können. Die Konnotationen, die die beiden Begriffe in der Alltagswelt haben, seien wissenschaftlich inkorrekt, aber im Beratungsgespräch wird kein Versuch unternommen, das bestehende Missverständnis aufzulösen. Denn das Beratungsgespräch baut gerade auf dem Alltagsverständnis der Begrifflichkeiten auf. „Risiko“ bezeichnet als statistischer Begriff die statistische Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis eintreten kann, und ist eine errechnete Zahl. In der Umgangssprache hingegen, argumentiert Samerski, ist Risiko eine Bewertung, die mit dem Eintritt eines negativen Ereignisses oder einer Gefahr verbunden wird. „Wahrscheinlich“, in der Umgangssprache benutzt, bedeutet, dass man „fast sicher“ ist. Indem das Beratungsgespräch das Missverständnis der unterschiedlichen Bedeutungen der Begrifflichkeiten nicht aufklärt, verfestigt es das gegenwärtig herrschende Weltbild der „Macht der Gene“. Samerski folgt dabei Pörksen in ihrer Argumentation: Die Übernahme wissenschaftlicher Worte in die Umgangssprache bringt den Nichtwissenschaftler zum Schweigen, denn es entfremdet den Sprecher von der genutzten Sprache (S. 94). Umgangssprachlich genutzt, vermitteln wissenschaftliche Begrifflichkeiten eine autoritative Weltsicht, weil sie scheinbar konkret sind und einer erfahrbaren Wirklichkeit zugrunde liegen.

Im zweiten Teil des Buches analysiert Samerski detailliert die von ihr beobachteten und aufgezeichneten Beratungsgespräche. Als Illustration dient die Geschichte von Frau G., anhand derer sie die an die Beratungsgespräche geknüpften Erwartungen und ihre Effekte aufzeigt. Frau G. ist eine junge, schwangere Frau. In der Verwandtschaft ihres Mannes ist Mukoviszidose aufgetreten. Dies beunruhigt ihren Mann. Um ihn zu beruhigen, hat sich Frau G. für einen Test entschieden und ist daher nun beim Beratungsgespräch. Frau G. möchte den Test, um Sicherheit und Informationen bezüglich ihres künftigen Kindes zu erhalten. Diese Motivation lässt die Beraterin auch als legitime Möglichkeit gelten, sie erklärt aber gleichzeitig im Verlauf des Gesprächs, dass „sich anhand von Gentests in erster Linie Wahrscheinlichkeitsaussagen machen lassen“ (S. 163). Diese Geschichte illustriert das Paradox, das in einem Beratungsgespräch verhandelt wird: Denn das Ergebnis eines Gentests ist nicht die Diagnose oder Prognose über die Gesundheit des konkreten Kindes, sondern die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer „Erkrankung“. „Krank“ bezeichnet hier das Ergebnis einer Laboruntersuchung, nicht eine lebensweltliche Realität. Samerski argumentiert nun, dass eine Ist-Aussage bezüglich der Gesundheit des zukünftigen Kindes eine grundsätzlich andere Aussage ist als eine statistische Prognose. Denn die Ergebnisse pränataler Laboruntersuchungen geben keine Auskunft darüber, ob oder wie sich die so definierte Erkrankung lebensweltlich auswirken wird. Dadurch, dass die von Samerski beobachteten Berater diese Unterscheidung von Labortest und Lebensrealität nicht verdeutlichen, werden Laboruntersuchungen moralisch bewertet, mit Begriffen wie „krank“ und „gesund“ konnotiert und zu einer scheinbar lebensweltlichen Realität. Der Unterschied zwischen einem Laborbefund und dem Leben eines Menschen wird verwischt und damit die Illusion geschaffen, dass man ausgehend von biologischen Merkmalen die Zukunft eines Kindes vorhersagen könne.

Durch die Umdefinition von Laborbefunden in lebensweltlich relevante Informationen, so führt Samerski weiter aus, findet eine Verlagerung der Verantwortung statt. Indem Unsicherheiten, die jede Schwangerschaft begleiten, in statistischen Wahrscheinlichkeiten dargelegt werden, scheint die Zukunft berechenbar und vorhersagbar. Dadurch kann die Schwangerschaft mit ihren Konsequenzen zur Verantwortung der schwangeren Frau werden, denn sie hat nun scheinbar die Möglichkeit, sich die nötigen Informationen zu beschaffen und damit Entscheidungen bezüglich ihres Umgangs mit der Schwangerschaft zu treffen. Aufgabe des genetischen Beratungsgespräches ist es dabei, so Samerski, den Frauen beizubringen, wie sie diese Entscheidung – gestützt auf informationstechnologische Entscheidungstheorien – zu fällen haben. Der genetische Test wird im Beratungsgespräch als gleichberechtigte Möglichkeit zum „ungetesteten Schwanger-Gehen“ dargestellt und die Beratene dadurch aufgefordert, den Test und damit einen eventuell darauffolgenden Abbruch als mögliche Alternative zur Fortführung einer Schwangerschaft zu betrachten. Sie soll nun, ihren Neigungen folgend, die Vor- und Nachteile beider Handlungsalternativen bilanzieren und eine Option bewusst wählen.

Diese Form der Beratungsgespräche identifiziert Samerski als „neuartige[n] Typus von Dienstleistung“ (S. 89), der die Expertenherrschaft abgelöst hat. Der Begriff und die Handlung des Entscheidens hat sich dadurch von einer Bedeutung des „Bestimmens“ oder „Urteilens“ hin zu einem Auswählen zwischen vorgegebenen Optionen einer Handlungskette verändert. Der Gang zum genetischen Beratungsgespräch ist der Anfang einer solchen Handlungskette, an deren Ende die Optionen Abbruch oder Fortführung der Schwangerschaft gleichberechtigt nebeneinander stehen sollen.

Die Beratung ist der Sozialisationsort für die Vermittlung des neuen Verständnisses von Entscheidung. Ob dies allerdings erfolgreich gelingt, darauf geht Samerski nicht ein. Frau G. zum Beispiel kam in die Beratung, um einen Test durchführen zu lassen; von dieser Vorstellung ist sie während der Beratung nicht abgewichen. „Verrückt“ wurde sie nur in Bezug auf die Art des Tests der angewendet wird. Dies deckt sich mit Studien aus den USA. Hunt 2 untersuchte Frauen, denen aufgrund eines Bluttestes eine genetische Beratung und darauf folgend eine eventuelle Amniozentese angeraten wurde. Sie stellt fest, dass die meisten Frauen, obwohl für sie eine Abtreibung nicht in Frage kommt, die weiterreichenden Tests durchführen lassen und zwar, um ihre Schwangerschaft wieder in einen „sicheren“, eindeutigen Zustand zu überführen. Auch Samerskis Analyse trifft für diesen Fall zu: Ärzte und Frauen sprechen von Unterschiedlichem und möchten Unterschiedliches erreichen. Der Arzt möchte „Ungewöhnliches“ aufdecken, die Frau strebt nach „Sicherheit“ und Gesundheit für ihr künftiges Kind. Die Studie von Hunt bekräftigt dabei, dass eine informierte Entscheidung, die sich durch ein Abwägen statistischer Möglichkeiten auszeichnet, gar nicht möglich ist, da Wahrscheinlichkeiten nicht ohne weiteres auf den Einzelfall übertragen werden können. Ob tatsächlich der Begriff des Entscheidens im Alltäglichen anders genutzt wird, wird noch zu zeigen sein. Sicher ist, dass das, was entschieden wird, sich verändert hat. Damit wird die Verantwortung für alles Künftige, in diesem Fall die Konsequenzen eines zukünftig geborenen Kindes, auf das Individuum verlagert. Gerade deshalb ist Samerskis Analyse dessen, wie populationsbasiertes statistisches Wissen hergestellt wird, welcher Art dieses Wissen ist und inwieweit es etwas Bedeutungsvolles über ein Individuum aussagen kann, so wichtig.

Vereinzelt wird auch in der Epidemiologie darüber debattiert, inwieweit Zahlen die von Populationen erhoben werden, auf Individuen übertragbar sind.3 Dabei wurden bisher allerdings nie gesellschaftliche Analysen berücksichtigt, die die fast absolute Macht medizinischer Praxis darlegen. Und damit veranschaulicht Samerskis detaillierte Darstellung der Beratungsgespräche nicht nur, wie ein Individuum abstrahiert und umgeformt werden muss, um Wahrscheinlichkeiten errechnen zu können, sondern sie zeigt auch das Machtvolle dieses Prozesses auf. Dennoch bleibt offen, wie es dazu kommen kann, dass Wissenschaftler und Schwangere gleichermaßen annehmen, dass statistische Angaben Sinnvolles über ein Individuum aussagen. Die scharfe Trennung, die Samerski zwischen Alltags- und Wissenschaftssprache herstellt, verschleiert einen wichtigen Aspekt: Gerade weil WissenschaftlerInnen auch Teil der Alltagswelt sind und dieselbe Umgangssprache zur Kommunikation nutzen wie die beratenen Frauen, lässt sich erklären, wie es überhaupt zum Paradox des Beratungsgespräches kommen kann sowie zu der Annahme, dass dieses Wissen Frauen helfen soll, selbstverantwortliche Entscheidungen bezüglich ihrer Schwangerschaft treffen zu können. Nur weil sowohl WissenschaftlerInnen als auch NichtwissenschaftlerInnen annehmen, dass eine statistische Aussage – gewonnen von einer statistisch bedeutsamen Population – auch auf ein tatsächlich existierendes Individuum zutrifft, kann man überhaupt dazu kommen, den Fortgang einer Schwangerschaft als entscheidungsbedürftig zu verstehen und deshalb eine Beratung anbieten. Es ist dieser Tatbestand, der Samerskis Analyse von 30 genetischen Beratungsgesprächen so zeitgemäß und notwendig macht.

Silja Samerskis Buch darüber, wie wir heute lernen sollen zu entscheiden, welche Macht dabei einer missverständlichen Sprache über Statistik zukommt und welche Konsequenzen daraus für heutiges gesellschaftliches Leben entstehen, zeigt einmal mehr die Machtstrukturen auf, innerhalb derer das „aufgeklärte“ Subjekt entsteht, das „informierte“ Entscheidungen trifft. Es ist zugleich eines der ersten sozialwissenschaftlichen Bücher, das die enorme Bedeutung, die heute der Statistik in den Naturwissenschaften zukommt, erkennt und als Wissensform gerade im Hinblick auf Genetik analysiert und als Entscheidungsgrundlage für Einzelne hinterfragt. Damit zeigt die Autorin, wie allumfassend die Macht der gegenwärtigen medizinischen Praxis aufgrund eines Missverständnisses wird und wie entscheidend für diese Machtausübung die Illusion der informierten Entscheidung ist. Das Buch ist nicht nur eine erstklassige Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Praktiken, sondern auch eine sehr gut und spannend geschriebene Lektüre.

Anmerkungen:
1 Siehe: http://www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/Richtidx/Praediag.html, 01/12/04
2 Hunt, Linda; Heidemarie Castaneda; Katherine B. de Voogd, Do Notions of „Risk“ Inform Patient Choice? Lessons from a Study of Prenatal Genetic Counseling for Latinas, unpubliziertes Manuskript.
3 Zum Beispiel Rockhill, Beverly, Theorizing About Causes at the Individual Level WhileEstimating Effects at the Population Level, in: Epidemiology 16(1), 2005.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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