G. Morsch u.a. (Hgg.): Dokumentationsstelle Brandenburg

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Titel
Perspektiven für die Dokumentationsstelle Brandenburg. Beiträge zur Tagung in der Justizschule der Justizvollzugsanstalt Brandenburg am 29./30. Oktober 2002


Autor(en)
Morsch, Günter; de Pasquale, Sylvia
Reihe
Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 2
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Schaarschmidt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Koordinationsstelle des Zeithistorischen Forschungs- und Gedenkstättenverbundes Berlin-Brandenburg

Nach den KZ-Gedenkstätten Buchenwald (1958), Ravensbrück (1959) und Sachsenhausen (1961) wurde in der DDR mit großem zeitlichem Abstand, nämlich erst 1988, die „Nationale Mahn- und Gedenkstätte Brandenburg“ gegründet. Im Kontext der späten Legitimationsstrategien der SED war sie besonders mit dem Namen Erich Honecker verbunden, der von 1936 bis 1945 in Brandenburg-Görden eingesessen hatte. Diese Genese dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass die Gedenkstätte nach dem Ende der DDR weitgehend aufgelöst wurde. Übrig blieb eine Dokumentationsstelle, die 1993 in die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten übernommen wurde.

Bereits 1991 hatte eine Expertenkommission unter Leitung Bernd Faulenbachs Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Gedenkstätte gegeben, an denen sich auch eine im Oktober 2002 in der Justizschule der JVA Brandenburg durchgeführte Tagung zu den Perspektiven der Arbeit orientierte. Der vorliegende Band gibt sowohl die Beiträge in voller Länge als auch eine Zusammenfassung der Diskussion wieder und vermittelt damit einen guten Einblick in die Problematik der vielschichtigen Erinnerungslandschaft in der Stadt Brandenburg. Dazu zählen neben der wechselvollen Geschichte des Haft- und Hinrichtungsortes auch die Vorreiterrolle bei der Entwicklung und dem Einsatz von Gaskammern sowie die Funktion als wichtigstes Repatriierungslager für Sowjetbürger in der Provinz Brandenburg.

Ganz plastisch beschreibt Stefanie Endlich den komplexen Prozess dieser Schichtenbildung am Beispiel der Mahnmalsanlage auf dem Brandenburger Marienberg. Diese sei „eine Geschichtslandschaft, bei der sich immer neue Schichten über die alten gelegt“ hätten. „Durch die Überformungen und Denkmalsetzungen wurden die Geschichtsbilder der vergangenen Etappe zurechtgerückt beziehungsweise durch ein neues ersetzt, in dem die jeweils politisch vorherrschende Sichtweise zum Ausdruck gebracht wurde.“ (S. 40)

Auf hohem Niveau und mit großer Umsicht nähern sich die Beiträge des Sammelbandes diesen verschiedenen Erinnerungsschichten an. Unterteilt in die drei Themenkomplexe „Zuchthaus Brandenburg-Görden in der NS-Zeit“, „Zwangssterilisierung und ‚Euthanasie’“ sowie „Zuchthaus und Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden nach 1945“ gehen die Autoren sowohl grundsätzlichen Fragen als auch der besonderen Bedeutung Brandenburgs in diesen Zusammenhängen nach. So behandeln die Aufsätze von Natalja Jeske, Hermann Wentker und Christian Meyer-Seitz im dritten Teil des Bandes grundlegende Fragen der Verfolgungspraxis und des Justizsystems in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, bevor sich Tobias Wunschik und Leonore Ansorg auf wichtige Aspekte der Haftanstalt Brandenburg-Görden konzentrieren.

Während im zweiten Teil die Bedeutung Brandenburgs für die Anfänge des nationalsozialistischen Krankenmordes dadurch unterstrichen wird, dass die drei Beiträge von Kristina Hübener, Beatrice Falk/Friedrich Hauer und Thomas Beddies um zwei Kurzdarstellungen von Willi Dreßen und Uta George ergänzt werden, die die Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen in Westdeutschland thematisieren, fällt für den ersten Teil auf, dass es neben Klaus Bästleins Artikel über den „Strafvollzug im Nationalsozialismus“ und den von den Gedenkstättenspezialisten Norbert Haase, Michael Viebig und Aleš Kýr behandelten Vergleichsbeispielen gerade an einem Beitrag über das Zuchthaus Brandenburg in der NS-Zeit fehlt. Deutlich beleuchtet dieser Umstand den vom Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Günter Morsch schon eingangs beklagten Forschungsrückstand zu einem der wichtigsten Orte des NS-Justizunrechts.

Es spricht für den Sammelband und die ihm zugrunde liegende Tagung, dass sich Veranstalter und Herausgeber den Luxus geleistet haben, über den Tellerrand der Gedenkstättenarbeit hinauszuschauen und Fachkollegen aus Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen in den Diskussionsprozess über die Zukunft des Erinnerungsortes Brandenburg einzubeziehen. Dieser in jeder Hinsicht zu begrüßende Schritt stellt die Gedenkstättenpädagogik aber auch vor neue Herausforderungen. Schaut man sich beispielsweise an, wie differenziert Hermann Wentker und Christian Meyer-Seitz die Genese des ostdeutschen Justizsystems nach 1945 bewerten, erschließt sich erst die Komplexität der Aufgabe, diese von vielfältigen Traditionen und Brüchen gekennzeichnete Entwicklung so zu präsentieren, dass sich Opfer der DDR-Justiz ebenso angesprochen fühlen wie andere historisch und politisch Interessierte.

Darüber hinaus demonstriert der Sammelband die grundlegenden Schwierigkeiten im Umgang mit mehrfach belasteten Erinnerungsorten. Die Probleme beginnen ganz praktisch mit der Suche nach einem geeigneten Gebäude für die Dokumentations- und Gedenkstätte, setzen sich fort über die heterogenen Erwartungen der einzelnen Opfergruppen oder ihrer Angehörigen und enden bei der Notwendigkeit, die jeweiligen historischen Kontexte angemessen zu berücksichtigen. Diese Einordnung ist von elementarer Bedeutung, um die politischen und sozialen Gesamtsysteme – ausgehend von der einzelnen Gedenkstätte – in ihrer Bedeutung verstehen zu lernen, nicht zuletzt aber auch, um einem undifferenzierten Opfergedenken entgegenzuwirken, das letztlich den Intentionen jeder modernen Gedenkstättenarbeit zuwiderliefe.

Dennoch schießen die Veranstalter der Brandenburger Konferenz über das Ziel hinaus, wenn sie sich auf eine starre Dreiteilung der historischen Erinnerung an diesem Ort festlegen und betonen, dass es keine übergreifende Fragestellung geben könne (S. 221f.). Für die Dokumentation der „T 4-Aktion“ trifft das sicherlich zu, aber es überrascht, dass die von Aleš Kýr vorgestellte Alternativkonzeption einer Dokumentation der Strafjustiz unter den verschiedenen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts kaum Berücksichtigung findet. Des Weiteren vermisst man in der abschließenden Diskussion Überlegungen, die problematische Genese der Gedenkstätte zu dokumentieren. Nimmt man die in dieser Hinsicht vorbildliche Arbeit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten zum Maßstab, sollten die konzeptionellen Überlegungen für Brandenburg an diesem Punkt auf jeden Fall noch einmal nachgebessert werden. Dass dazu noch Gelegenheit ist, liegt nicht an den beteiligten Fachwissenschaftlern und Gedenkstättenpädagogen, sondern an den politisch Verantwortlichen auf kommunaler Ebene, die es bis heute versäumt haben, die elementaren Rahmenbedingungen für einen angemessenen Umgang mit der vielschichtigen Erinnerungslandschaft ihrer Stadt zu schaffen.

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