Cover
Titel
1968. Eine Enzyklopädie


Herausgeber
Sievers, Rudolf
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schmidtke, Frankfurt am Main

Welche Texte haben die Jahre um 1968 geprägt und gehören zum Kanon der deutschen Protestliteratur? Diese Frage stellt sich immer dann, wenn eine neue Quellensammlung veröffentlicht wird, die einen Anspruch formuliert wie Rudolf Sievers’ „Enzyklopädie“: „1968 – eine Zeitikone mit verwackeltem Sinn: Dieser Band versammelt Materialien zu einer Hermeneutik dieses umkämpften Erinnerungsortes.“ (S. 9)

Die Dokumentation des Erinnerungsortes „1968“ ist bislang zum einen von Wolfgang Kraushaars umfassendem Publikationsprojekt über die Frankfurter Schule und die Studentenbewegung geprägt.1 Obwohl dieses Projekt zeitlich weit gespannt ist – es beginnt im Jahr 1946 und endet 1994 – liegt ein Schwerpunkt der veröffentlichten Dokumente auf den Protestjahren 1967 bis 1969. Im Mittelpunkt stehen die intellektuellen Vordenker – von Horkheimer über Adorno bis Marcuse – sowie ihre Auseinandersetzung mit dem studentischen Protest und dessen Provokationselite. Neben den Textsammlungen von Kraushaar hat vor allem eine Ausstellung den Kanon der Protestliteratur erheblich erweitert: die Marbacher Ausstellung von 1998, die sich mit der Rolle der Literatur um 1968 befasste, also mit der Frage, wie die Studentenbewegung die Produktion und Rezeption von Literatur beeinflusst hat, aber auch umgekehrt, welchen Einfluss Literaten auf die Studentenbewegung nahmen. Von der Gruppe 47 über den Situationismus bis hin zu ersten „postmodernen“ Tendenzen finden sich im Katalog zahlreiche Quellentexte zur Wechselwirkung von kulturellem und politischem Protest.2

Solche Texte sind auch bei Sievers berücksichtigt. Und viele Texte aus der „edition suhrkamp“ zu den intellektuellen Vordenkern und den Protesteliten um den Sozialisten Deutschen Studentenbund finden sich ebenso in anderen Quellensammlungen von den Eigenpublikationen der Akteure bis hin zu Kraushaars Publikationsprojekt. Es war also weniger Sievers’ Ziel, neue Materialien zu erschließen, als vielmehr eine Auswahl zu treffen, die für den Leser eine „Hermeneutik dieses umkämpften Erinnerungsortes“ ermöglichen soll.

Für welche Texte hat Sievers sich entschieden? Unter den über 50 Dokumenten finden sich auf knapp 500 Seiten verschiedene Texte der Vordenker von der „alten Linken“ bis zur so genannten „Neuen Linken“. Neben Adorno, Marcuse und Sartre sowie den Wortführern der Provokationseliten wie Krahl und Dutschke werden auch die kulturellen Einflüsse gewürdigt. Schlüsseltexte der gegenkulturellen Bewegung vom Provoflugblatt bis zur Germanistikbasisgruppe stehen neben den Autoren der „Hochkultur“ wie Walser, Lettau, Weiss und Enzensberger oder den großen „68er Cineasten“ wie Godard oder Wenders. Und sogar eine internationale Perspektive auf die „1968“ ist erkennbar: ein bisschen Prager Frühling, ein bisschen Black Power, ein bisschen Pariser Mai.

Obwohl diese Auswahl ein breites Spektrum abdeckt, bestehen offenkundige Defizite und Blindstellen. Wo sind die Texte zur Stadtguerilla, der internationalen Befreiungsfront der „Dritten Welt“ oder der Chinesischen Kulturrevolution? Es lässt sich diskutieren, inwieweit der Deutsche Herbst 1977 mit „1968“ in einem Zusammenhang steht – einige militante Texte gehören aber unbestrittenermaßen zum Kanon der „68er Literatur“. Auch die Gegeninstitutionen sollten Erwähnung finden. Die Ideen der Neuen Linken, die bürokratischen, manipulativen und erstarrten Organisationsformen von Parteien, Medien und Universitäten durch Gegeninstitutionen zu ersetzen, gehören zu einer der wirkungsmächtigsten Hinterlassenschaften dieser Zeit und sind in zahlreichen Texten der Gegenöffentlichkeit um 1968 dokumentiert. Dokumente über Kinderläden, Kritische Universitäten und politische Clubs fehlen in Sievers’ Kanon gänzlich.

Diesen Kanon in einem Buch zusammenfassen ist im Grunde ein ähnlich anachronistisches Unterfangen wie der Ansatz einer historischen Hermeneutik. Die Schlacht um den Erinnerungsort „1968“ wird ohnehin im Internet entschieden. Die Auswahl der Dokumente bestimmen dort Bildungsserver wie <http://www.lehrer-online.de>, Websites ehemaliger Akteure oder Geschichtssites wie diejenige des Deutschen Historischen Museums (<http://www.dhm.de>). Gegen diese geballte Webmacht haben nur Textsammlungen eine Chance, die wie der Marbacher Katalog oder Kraushaars Publikationsprojekt einen klaren, in die Tiefe dringenden Fokus haben. Insofern kann Sievers’ Sammlung sicher nicht an die meinungsbildende Publikationsmacht anknüpfen, die der „edition suhrkamp“ während der Jahre um 1968 selbst zukam.

Anmerkung:
1 Kraushaar, Wolfgang, Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995, Hamburg 1998, CD-ROM Hamburg 2003 (rezensiert von Thomas Fischer: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-077>).
2 Deutsche Schillergesellschaft (Hg.), Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv, Marbach 1998.

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