Titel
Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissens im Mittelalter


Autor(en)
Kellner, Beate
Erschienen
München 2004: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
557 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Antje Thumser, Institut für Ältere Deutsche Literatur und Sprache, Freie Universität Berlin

In ihrer jüngst erschienenen Dresdner Habilitationsschrift beschreitet die Altgermanistin Beate Kellner einen dezidiert kulturwissenschaftlichen Weg. Ausgehend von der Überlegung, dass im Mittelalter Genealogie als ein gleichsam universales, interdiskursiv verwendetes Ordnungsmuster dient, werden in einem diskursanalytischen Ansatz die Strukturen des genealogischen Wissens in verschiedenen Textgattungen und Wissensfeldern aufgedeckt mit dem Ziel, eine „Grammatik“ des Genealogischen zu erarbeiten. Unter „Grammatik“ versteht Kellner „die Regeln und Bauprinzipien, welche den Texten zugrunde liegen, sie formieren und in jenen gemeinsamen ‚Rahmen’ stellen, den man als genealogischen Diskurs bezeichnen könnte“ (S. 63). Das Bestreben von Kellners Analysen zur Genealogie ist somit, zu der Schicht vorzudringen, die Michel Foucault ‚diskursive Formation’ bzw. ‚Wissen’ genannt hat, um damit letztlich den politischen und gesellschaftlichen Funktionen von Genealogien auf die Spur zu kommen. Infolgedessen unterzieht Kellner ihr Textmaterial aus Historiografie und Literatur in drei exemplarischen Fallstudien einer genauen literaturwissenschaftlichen Analyse, wobei sie ausdrücklich und zwingend auf die Verfahren der Hermeneutik zurückgreift, um sie anschließend in ihrem diskursiven Umfeld, also mit den mittelalterlichen Wissensbeständen beispielsweise aus Theologie, Naturkunde, Medizin, Jurisprudenz und Sprachtheorie, zu perspektivieren.

In einem umfangreichen ersten Kapitel schafft Kellner die Basis für ihr Vorhaben. Nach einem Blick in das kanonische Recht sowie in den Sachsenspiegel als Vertreter der volkssprachlichen Rechtstraditionen kommt sie aufgrund der sich in ihren Setzungen überschneidenden verschiedenen Rechtstraditionen zu dem Schluss, dass man aufgrund der Vielstimmigkeit des Rechtsdikurses nicht von einer bestimmten Verwandtschaft im Mittelalter sprechen darf, sondern ein komplexes Geflecht von biologischen, geistlichen und gesetzlichen Verwandtschaften zu gewärtigen hat, das als wichtigste Ausprägung sozialer Formation angesehen wurde. Das verwandtschaftliche Modell ließ sich unschwer auf zahlreiche weitere Phänomenfelder übertragen. So konnte man sich zur Beschreibung der Geschichte der Orden genealogischer Nomenklatur bedienen, man denke hier beispielsweise an Mutter- und Tochterklöster. Auch die mittelalterliche Sprachtheorie und Etymologie der Sprache selbst unterliegt einer genealogischen Strukturierung, für Kellner ein Beweis dafür, wie grundlegend Genealogie im Mittelalter als Prinzip der Organisation von Wissen fungiert. Einen wichtigen Bezugsrahmen für genealogische Darstellungsmuster liefern die biblischen Geschichten vom Ursprung der Menschheit und der kontinuierlichen Zeugung der Geschlechter sowie die Genealogien Christi im Neuen Testament, konnten sie doch als Modell für die vielen Abstammungsgeschichten von Königs- und Adelsgeschlechtern ebenso dienen wie auch für die genealogische Strukturierung anderer Gruppen und Objektfelder.

Im analytischen Teil ihrer Arbeit lässt sich Kellner systematisch von den beiden ihrer Ansicht nach zentralen Problemkonstellationen jeder genealogischen Ordnung leiten: der Inszenierung des Ursprungs und der Vorstellung von Kontinuität. Den Ursprung betreffend, befragt sie die Texte danach, welche Strategien und Argumentationsmuster entwickelt werden, um das Problem des genealogischen Neubeginns zu bewältigen und damit Herkunft zu legitimieren. Im Hinblick auf Kontinuität müssen die genealogischen Linienführungen in den verschiedenen Textzeugnissen gegeneinander gehalten werden, um ihre Regeln und Konstruktionsprinzipien aufzudecken. Hierbei ist von besonderem Interesse, ob eine Genealogie auf der Kontinuität der Blutslinie beruht oder ob das Prinzip der Amtssukzession vorgezogen wird.

In ihrer ersten Fallstudie widmet sich Kellner Konstruktionen und Rekonstruktionen genealogischer Herleitungen aus Troja und kann daran aufzeigen, wie Reichs- und Dynastiegeschichte immer wieder miteinander verbunden sind. Für ihre Analyse schöpft sie aus einem weiten Spektrum unterschiedlichster Textsorten, wobei sie den Schwerpunkt erklärtermaßen auf die volkssprachlichen Trojaromane legt, die sie in einem Grenzbereich zwischen Historiografie und Literatur angesiedelt sieht, da der volkssprachliche Versroman als ein wichtiges Medium der Geschichtsvermittlung an ein lateinunkundiges Publikum fungiert. Da die Gründung eines Geschlechts, welches sich in eine bestehende Abstammungsreihe eingliedern soll, gegen die Logik genealogischer Sukzession als Neubeginn inszeniert werden muss, wundert es kaum, dass sich in den von Kellner untersuchten Ursprungskonzeptionen immer wieder Gewalt als Wurzel der Neugründung erweist. Zerstörung erscheint somit als Grundbedingung für die Möglichkeit, eine neue Ordnung zu etablieren.

Die zweite Fallstudie illustriert am Beispiel der Welfen vor allem die Möglichkeiten von Umprägungen der genealogischen Herkunft. Kellner zeigt an historiografischen Texten, Bildern und Denkmälern aus dem Bereich der welfischen Hausüberlieferung, dass und wie die Genealogie eines mittelalterlichen Geschlechts je nach politischem Kalkül umgearbeitet werden kann. Die Vergangenheit wird bei Veränderung der Machtpositionen, Herrschaftsansprüche sowie bei Legitimierungsbedürfnissen in der Gegenwart den Gegebenheiten entsprechend jeweils neu entworfen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass dabei einige „Erinnerungspartikel“ recht stabil bleiben und in immer wieder neue Zusammenhänge eingefügt werden können. Dadurch entstehen keine völligen Neuentwürfe der Geschichte eines Geschlechtes, sondern es ergeben sich lediglich Akzentverlagerungen, wie sie das genealogische Modell aufgrund seiner prinzipiellen Endlosigkeit und Erweiterbarkeit durchaus zulässt.

Zu guter Letzt behandelt Kellner in ihrer dritten Fallstudie anhand der Melusinentexte die genealogischen Phantasien vom Ursprung aus der Schlangenfrau. Während hier die lateinischen Texte von Walter Map bis hin zu Vinzenz von Beauvais in ihrem theologischen und naturkundlichen Diskurs auf einer strikten Grenze zwischen Menschen- und Dämonenwelt beharren, entfalten sich Herrschaft und Macht in der genealogisch-dynastischen Perspektive der volkssprachlichen Melusinenromane gerade aus der und durch die Vermischung der Menschen- und Dämonenwelt am Ursprung eines Geschlechts.

Die im Rahmen der Analyse rekonstruierten genealogischen Diskurse führen Kellner immer wieder weit über die Frage nach der Erzeugung einer Dynastie und der Sicherung in ihrem Bestand hinaus. Über die Konstruktion von Blutslinien und Amtssukzessionen, welche mit dem Wandel der politischen Verhältnisse immer wieder umgeschrieben und neu ausgebildet werden konnten, erweisen sich Genealogien unter dem Anschein, Manifestationen des Natürlichen, des Leiblichen, zu sein, als in hohem Maße flexible kulturelle Konstruktionen zur Legitimierung von Macht. Somit berührt die Frage nach dem Genealogischen in Mittelalter und Früher Neuzeit das Zentrum der Legitimation und Selbstdarstellung von Macht, Herrschaft und von Ansehen überhaupt.

Kellners großes Verdienst ist es, ihr reiches Materialspektrum methodisch vorbildlich aufzuarbeiten. Gut verständlich, wenn auch gelegentlich eine Spur zu didaktisch, werden ihre Leser in die von ihr behandelten mittelalterlichen Diskurse hineingeführt. Durch den kulturwissenschaftlichen Anspruch steckt sie einen weiten Rahmen ab und wird damit gewiss auf ein breites Interesse stoßen.

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