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Titel
Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR


Herausgeber
Sabrow, Martin
Erschienen
Göttingen 2004: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Wüstenhagen, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Lange Zeit als zu banal oder zu vage für eine seriöse Untersuchung abgestempelt, entdeckt die Forschung nun den politischen Skandal wieder. Nach den Veröffentlichungen zu Skandalen in demokratischen Gesellschaften1 wenden sich Historiker, Politologen und Sozialwissenschaftler in jüngster Zeit auch der „Skandalfähigkeit“ von Diktaturen zu. Ihre Forderung nach der Entwicklung von spezifischen theoretischen Ansätzen für die Skandalforschung in plebiszitären Diktaturen bildet den Anknüpfungspunkt für den hier zu besprechenden Sammelband.2

Sein Herausgeber, Martin Sabrow, ist seit kurzem einer der beiden Direktoren des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam. Er beschäftigt sich seit einiger Zeit mit den Auswirkungen politischer Skandale auf die Herrschaftsstrukturen diktatorischer Systeme. Auf dem Historikertag im September 2002 in Halle an der Saale leitete er eine Sektion, die unter dem Titel „Skandal und Öffentlichkeit in der Diktatur“ dieses Thema diskutierte. Diese Information ist für die Lektüre nicht unbedingt notwendig, hätte den Leser aber, da es kein Vorwort gibt, an der Entstehungsgeschichte des Bandes teilhaben lassen.

Das Buch beginnt mit einem Beitrag (von insgesamt zwei) des Herausgebers zum politischen Skandal in modernen Diktaturen. Seine Ausführungen sind zugleich als Einleitung zu lesen, denn darin stellt Sabrow die Leitthese auf, welche die nachfolgenden Aufsätze zusammenhalten soll. Im Kern lautet sie: Auch in Diktaturen gibt es Skandale. Die Frage sei, wie sich der Dreischritt von Missstand, Aufsehen und Empörung in diktatorischen Herrschaften entwickelte (S. 24). Sabrow geht noch weiter, indem er eine Revision der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung vor 1989 fordert. Diese ging davon aus, dass Skandale keine Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse erzielen könnten, weil sie politische Herrschaft nicht nur destabilisieren, sondern zugleich auch immer restabilisieren würden. Die Endphase des Ostblocks aber habe gezeigt, so Sabrow, dass die herrschaftsbedrohende Rolle des Skandals in autoritären Gesellschaften bislang unterschätzt worden sei. Damit fordern die zehn Beiträge des Sammelbandes die herrschende Meinung in der bisherigen Skandalforschung heraus. Demnach würden sich „richtige“, also nicht inszenierte, Skandale in autoritären Regimes gar nicht erst entfalten, weil es ihnen an der erforderlichen Öffentlichkeit fehlte. Sabrow und seine Mitautoren geben zu, dass es eine autonome Öffentlichkeit, wie sie aus demokratischen Gesellschaften bekannt sei, in diktatorischen Systemen nicht gibt. Trotzdem würden öffentliche Räume existieren, die sich nach ihrem Grad der Durchherrschung bestimmen ließen. Ausgehend von der Differenzierung Adelheid von Salderns zwischen formeller und informeller Öffentlichkeit3 unterscheidet Sabrow die inszenierte Herrschaftsöffentlichkeit von der randständigen Gegenöffentlichkeit, die jeweils eine Vielfalt diktaturspezifischer Skandalformen hervorbringen würde.

Er definiert zunächst den inszenierten Skandal als die typische Ausdrucksform gelenkter Empörung in diktatorischen Regimes (S. 26). Ziel der Herrschenden sei es, dadurch die eigene Macht abzusichern. Die Mehrheit seiner Mitautoren präsentiert Beispiele affirmativer Skandale, die von Sabrow als eine Form des inszenierten Skandals bezeichnet werden. In diese Gruppe sind die Beispiele von Susanne zur Nieden und Sven Reichard über die Funktionalisierung der Homosexualität der SA-Führung durch Hitler für die eigene Machtsicherung und der im Beitrag von Armin Nolzen beschriebene Englandflug des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß einzuordnen. Die öffentliche Empörung gegen einen politischen Missstand wandte sich in diesen Fällen, die von einem hohen Maß an tatsächlichem oder fingiertem Herrschaftskonsens in der Bevölkerung zeugen würden, nicht gegen das System selbst, sondern gegen die Misswirtschaft einzelner Akteure. Im NS-Regime äußerte sich dieser Tatbestand am deutlichsten im „Führer-Mythos“. Auch Frank Bajohrs Beitrag über Korruptionsaffären im NS-Staat bedient diese Gruppe von Skandalen. Er weist darauf hin, dass die deutsche Bevölkerung zum Großteil in die korrupte Herrschaftspraxis des NS-Systems verwickelt gewesen sei, ein Fakt, der einer Skandalisierung entgegen wirkte. Christiane Kuller und Axel Drecoll untersuchen die Reaktionen der Bevölkerung auf die „Arisierungskampagne“ des Nürnberger Gauleiters Julius Streicher. Die öffentliche Empörung über dessen persönliche Bereicherung habe zwar die repressiven Öffentlichkeitsstrukturen des NS-Staates durchbrochen, jedoch richtete sie sich nicht grundsätzlich gegen die nationalsozialistische Judenpolitik.

Von ganz anderer Art waren so genannte Fundamentalskandale, denn sie konnten das Herrschaftssystem gefährden. Winfried Süss sieht Züge eines solchen Skandals im Fall des bekannten Protests des Münsteraner Bischofs von Galen gegen die „Euthanasie-Aktion“ der Nationalsozialisten, der zumindest temporär die Handlungsspielräume des Regimes begrenzt hätte. Der Leser fragt sich dennoch, ob es nicht primär die, auch von Süss erwähnte, Kriegslage war, die den Handlungsrahmen der NS-Führung in der Krise bestimmte.

Für die DDR konstatiert Sabrow Fundamentalskandale erst an deren Ende. In seinem zweiten Beitrag, der zugleich das Abschlusskapitel bildet, zeichnet er die Entwicklung dieses Skandaltyps am Beispiel des Sputnik-Verbots im November 1988 nach. Im Gegensatz zum unterdrückten Skandal (Beispiel der Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz 1976) habe sich zwölf Jahre später ein echter gegenöffentlicher Fundamentalskandal entwickelt, der zusammen mit weiteren Ärgernissen (Polizeieinsatz gegen Demonstranten, Wahlfälschungen, Korruption und Amtsmissbrauch) schließlich das System zusammenbrechen ließ. Ein wesentliches Merkmal der Skandale in der DDR war die Existenz der bundesdeutschen Öffentlichkeit, die - gleichsam parallel - die DDR-Bevölkerung vierzig Jahre lang durch ihre Medien informierte. Stefan Wolle spricht sogar (wie immer ein Lesevergnügen) von einer gesamtdeutschen Medienlandschaft. Aber selbst diese schaffte es letztlich nicht, die Ausbürgerung Wolf Biermanns derart zu skandalisieren, dass sie die Eindämmung der Affäre durch die SED-Führung verhindert hätte.

Was nach der Lektüre bleibt, ist ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits ist es ein Verdienst des Bandes, die Aufmerksamkeit auf ein bislang vernachlässigtes Feld der Diktaturforschung zu lenken. Andererseits stiften die zahlreichen Bezeichnungen und Begriffe für Öffentlichkeiten und Skandale in der Diktatur (Halböffentlichkeit, Gelegenheitsöffentlichkeit, Parteiöffentlichkeit, unterdrückter, aber nicht unterdrückbarer Skandal etc.) Verwirrung. Sie wirken manchmal wie der Versuch, etwas, das es nicht wirklich gibt, doch für den Untersuchungsgegenstand passend zu machen. Bernd Florath vermeidet zum Beispiel in seinen Ausführungen zu Robert Havemann das Wort Skandal (außer im Titel) und spricht lediglich von Skandalon (Ärgernis). Zugleich spiegelt sich darin aber auch der Stand der noch in ihren Anfängen steckenden Diktatur-Skandalforschung wider.

Den Autoren geht es vor allem um die Mechanismen der Konsensbildung in diktatorischen Regimes und ihre Grenzen. Sabrow überspitzt nach Ansicht der Rezensentin jedoch, wenn er behauptet, eine Kaskade von Skandalen sei eine der entscheidenden Triebfedern für den Zusammenbruch des Ostblocks gewesen (S. 15). Haben nicht die Einbindung der DDR in das sowjetische Herrschaftssystem und damit zusammenhängende Faktoren wirtschaftlicher, militärischer und politischer Art die SED-Herrschaft weitaus mehr destabilisiert als die „nischenöffentliche“ Empörung über die Fälle Havemann, Brüsewitz usw.? Welchen Stellenwert erhalten Opposition und Widerstand in der DDR, wenn letztlich die Erosion von Normen für den Untergang des SED-Regimes verantwortlich gemacht wird? Sabrow selbst scheint seine Behauptung ebenfalls nicht bis zum Äußersten aufrechterhalten zu wollen, denn er fordert zu weiteren differenzierten Untersuchungen auf. Es ließe sich immer erst im Nachhinein entscheiden, ob und warum ein Skandal in diesem Fall systemstabilisierend und in jenem herrschaftsbedrohend (nicht herrschaftsstürzend!) gewirkt habe (S. 32). Es ist allerdings Armin Nolzen zuzustimmen, wenn er den Skandal nicht nur als Beleg von Konsens und Dissens zwischen Herrschenden und Beherrschten gedeutet haben will. „Interessanter ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Problembewältigung im Krisenfall herauszuarbeiten. Denn ein solcher ist der Skandal in jedem politischen System.“ (S. 156) Thomas Lindenberger hat dies in seinem Aufsatz zum Polizeiskandal in der DDR bereits skizziert und Gemeinsamkeiten und Unterschiede in demokratischen und diktatorischen Gesellschaften benannt. Der Sammelband kann unter dieser Perspektive einen Beitrag zur systemübergreifenden Analyse politischer Herrschaft leisten.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Ebbinghausen, Rolf; Neckel, Sighard (Hgg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989. Für eine Systematisierung politischer Skandale in der Bundesrepublik Deutschland vgl. Thränhardt, Dietrich, Scandals, Changing Norms and Agenda Setting in West Germany’s Political System, in: Beiträge zur Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft des Instituts für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Nr. 8, Münster 1988.
2 Sabrow und seine Mitautoren verweisen ausdrücklich auf Rittersporn, Gábor T.; Rolf, Malte; Behrends, Jan C. (Hgg.), Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt am Main 2003.
3 Saldern, Adelheid von (Hg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten, Stuttgart 2003.

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